Spielarten des Kollektiven auf dem Prosanova-Festival Hildesheim
Auf dem Weg in die Wohngemeinschaft, in der ich für die Zeit des Festivals untergebracht bin, erklärt mir Leander, was Hildesheim von anderen Literaturinstituten unterscheidet, nämlich, dass hier das Wir groß geschrieben wird. Wenn hier ein/e AbsolventIn einen Preis abstaubt, freue sich die ganze Gemeinschaft, weil es nicht um Einzelpositionen gehe, sondern eben um einen Sinn fürs Kollektive.
Wenn ich nun zurück an meinem Schreibtisch das Prosanova Revue passieren lasse, ist es nicht die Autorin oder jener Autor, die den stärksten Eindruck hinterlassen haben, sondern ein Gefühl: da trifft sich eine schriftstellerische Gemeinde, da treffen Leute aufeinander, die gemeinsam an neuen literarischen Formen arbeiten wollen.
Diese Suchbewegung nach neuen Formaten, Strategien und Praktiken schlug sich im Programm des Festivals nieder. Es gibt wohl kaum ein Festival, das mit einer größeren Palette an unterschiedlichen Veranstaltungsformen aufwarten kann. Ständig befindet man sich in neuen Rezeptionssituationen, auf Leseinseln, in soziologischer Lesegruppenaufteilung oder in der Kirche bei einer Art Science Fiction Vespa. Diese Vielfalt ist wohl auch der Grund dafür, dass das Publikum an jedem Tag des viertägigen Festivals zwölf Stunden und länger zahlreich und rege am Geschehen teilnimmt.
Was braucht es, um schreiben zu können? Wer schreibt, zieht sich zurück, kapselt sich ab von der Außenwelt. Mittelalterliche Schreiber ließen sich sogar einmauern, um dem störenden Einfluss der Außenwelt zu entkommen. Auf Festivals wie dem Prosanova wird immer wieder der Traum eines Gemeinsamen im Schreiben geträumt. Da kommen die Vereinzelten zusammen und können sich ein bisschen Wirgefühl abholen, bevor es wieder zurück in die Einsamkeit der Schreibkammern geht. Ein Bild, das heute nicht mehr wirklich stimmt, vielleicht nie wirklich gestimmt hat. In Zeiten, in denen Kommunikationsmedien wie facebook, twitter, blogs bis in die hintersten Winkel des Privaten vordringen, ist man auch in seinen Rückzugsräumen nicht mehr für sich allein. Der Störfunk erreicht uns überall. Und gerade über facebook erfahre ich von KollegInnen, die strikte offline Zeiten einhalten, um ungestört arbeiten zu können. So sagt auch Svealena Kutschke im Breakfast Club, einem am Vormittag des zweiten Festivaltags gut besuchten Gesprächsformat, dass sie vor allem ungestört sein muss im Arbeitsprozess.
Dass sich in dem permanenten Funkfeuer aber auch neue Schreibstrategien entwickeln, neue Formen der Textgenerierung ergeben, zeigt sich im Gespräch zwischen Kathrin Passig und Dirk von Gehlen, wobei sich Dirk von Gehlen als Stefan Mesch entpuppt, der mit dem Namensschild von Kathrin Passig auftritt. Dieses Verwirrspiel macht deutlich, dass, wer hier spricht, nicht so wichtig ist wie das, was gesprochen wird. Der Autor ist tot, hieß es schon in den 70er Jahren, um auf den Vorrang des Textes hinzuweisen, in den digitalen Rollenspielen löst sich dieser Satz immer wieder aufs Neue ein.
»Wie ist das, wenn viele Köche den Brei rühren?«, fragt Kathrin Passig, der das Namensschild Dirk von Gehlen vor der Brust baumelt. Durch das Internet, die maßlose Informationsflut, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind, ist der gemeinsam gerührte Brei allgegenwärtig. Was es heute braucht, sind konkrete Strategien, Mesch spricht von Alltagsarchäologien, die zutage fördern, was an kreativem Output in den Biotopen entsteht. In diesem Sinne wird dem Akt des Auswählens noch eine viel größere Bedeutung zukommen. KünstlerIn sein heißt vor allem, KuratorIn zu sein.
Als erfolgreiches Beispiel für solche neuen Formen kollaborativen Schreibens werden Writersrooms amerikanischer Fernsehserien genannt. Dort zeichnen sich oft ganze Listen von Autoren verantwortlich für das Skript einer Folge. Schreiben passiert unter vielen, wenngleich es hier festgelegte Strukturen und Strategien gibt, damit am Ende das konsumierbare Produkt der stringenten Serie steht.
Aber nicht nur das Produzieren von Texten, sondern auch das Lesen ist einem grundlegenden Wandel unterworfen, wie die Veranstaltung mit Jan Brandt, Jo Lendle und Annika Reich zeigt; #brandtlendlereich. Beim Social Reading verliert der Text die lineare Form und wird immer wieder aufs Neue überschrieben, erweitert und kommentiert. Es wuchern Kommentare, Links und Metadiskussion über den Text. War das Lesen von literarischen Texten früher eine Möglichkeit, um der Welt zu entfliehen, wird es nun zu einem Kommunikationsmedium, um sich mit der Welt da draußen - wenn es denn sowas wie drinnen und draußen überhaupt noch gibt - zu vernetzen. »Das Einsamkeitsversprechen des Lesens löst sich auf«, fasst Lendle in Bezug auf das Social Reading zusammen.
© Ferdinand Schmalz
Alles macht weiter
die Zeit und ihr Garten
der Baum vor dem Fenster
das Hoffen und Warten
die Zwiebeln in Kühlschrank
alles macht weiter
Blumfeld, Alles macht weiter (2003)
Montagmorgen, alles macht weiter. Die Bauarbeiter am Hildesheimer Hauptbahnhof machen weiter. Die Lkw fahren immer noch krachend durch die Stadt. Irgendwo wühlt ein Telekom-Techniker in einem Sicherungskasten. Es ist, als ob nichts gewesen wäre. Aber es wird nie wieder so sein wie an diesen vier Tagen PROSANOVA.
Nach 2005, 2008 und 2011 materialisiert sich Ende Mai 2014 für ein langes Wochenende das größte Festival für junge deutschsprachige Literatur in einer ehemaligen Hauptschule mit benachbarter Turnhalle. Literatur in der Mensa, Literatur auf dem Pausenhof, Literatur im Physikraum, Literatur selbst auf der Schultoilette, soviel Literatur, dass sie das verwinkelte Gebäude zu sprengen droht. Klares Statement: Diese Literatur ist nicht zu bändigen, und man kommt auch nicht an ihr vorbei.
Was sagt sie uns, diese Literatur, die wir »junge Literatur« nennen, die sich an diesen vier Tagen in Hildesheim versammelt, und die von den Veranstaltern, wie in der aktuellen Ausgabe der BELLA triste nachzulesen, ausdrücklich und etwas nassforsch zu einem »Bekenntnis« aufgefordert wurde? Hat sie etwas zu bekennen und wenn ja, was?
ÄNDERE DEN AGGREGATZUSTAND DEINER TRAUER
BELLA weist den Weg: Auf die Ränge der Turnhalle gegenüber der Hauptschule am alten Markt. Wer hat vor uns hier oben gesessen? Eltern, die ihre Kinder anfeuern? Jetzt ist es eine PROSANOVA-Tribüne, und die Kinder sind etwas älter geworden, auch wenn die Turnsachen original Neunzigerjahre-Material sind. Die Turnhallenrequisiten hat jeder der hier Anwesenden besser im Gedächtnis, als ihm lieb ist. Ein Feuerwerk von Flashbacks, das von Barren, Schaumstoffball, den blauen, an den Ecken mit braunen Lederstücken verstärkten Turnmatten ausgeht, überträgt sich auf die Dialogsequenzen, die sich um verschwundenes Kinder Pingui und leere Kühlschränke drehen. Plötzlich steht ein Knochenmann im Raum, zu erkennen an seiner Gummimaske. Und die diffusen Kindheitserinnerungen weichen dem mulmigen Gefühl, dass der Spaß bald ein Ende hat.
DAS C.E.K. VERFAHREN
Einer der zentralen Bestandteile des PROSANOVA-Festivals ist das Erproben neuer Formen, in denen Literatur erlebt werden kann, und das Verlassen eingetretener Pfade. Ein neuer führt nun über das Treppenhaus der Hauptschule am Alten Markt in den zweiten Stock des Gebäudes, wo ein mit Laptops ausgestatteter Klassenraum wartet. Ein typisches Bild aus dem Schulalltag – aber nur fast: Auf dem Screen erscheint ein Quiz, erfunden von Lena Vöcklinghaus und Philipp Müller anhand von Texten der Festivalteilnehmer Kenah Cusanit, Joseph Felix Ernst und Maren Kames, das dazu dient, die Probanden vulgo Leser in eine von drei Literaturkategorien einzuteilen. Welche das sind, wird nicht verraten; geantwortet werden kann mit »Dafür«, »Weiß nicht«, »Dagegen« und »Überspringen«. Sie reichen von Themenkreisen der Arbeitstechnik (»Die größte Leistung beim Schreiben ist das Ordnen«) bis zu gewagten Thesen über das Demokratieverständnis (»Erst wenn Gargamel einen der Schlümpfe isst, leben wir in einer wirklich demokratischen Gesellschaft«). Ist der Test beendet, erhält der Proband eine Nummer und wird in einen Raum gewiesen, wo er nun eine seinem Literaturtypus entsprechende Lesung erleben kann. Literatur als optimierte Servicedienstleistung? Vielleicht – aber auch eine doppelbödige Auseinandersetzung damit, was wir von Literatur eigentlich erwarten können und wie wir unsere Auswahl dessen treffen, was wir lesen wollen.
DUNKELFELDSTIMMEN
Ein Raum wie eine Wabe. Das ehemalige Nähzimmer gleich neben der Mensa, in der sich gerade eine heftige Debatte zwischen Georg Diez und Ina Hartwig, moderiert von Florian Kessler, entspinnt, und das von Maren Kames umgestaltet wurde, setzt auf maximalen Entzug der Sinneseindrücke. Abgeschnitten vom herrlichen Wetter, bei stetig ansteigender Innentemperatur (ist dieser Raum am Ende ein Brutkasten?), beginnt irgendwo aus einer hinter den weiß-transparent bespannten Wänden platzierten Box ein flüsternder, assoziativer Dialog des Autorenduos Daniela Seel und Robert Stripling. Dann setzt auf einmal Synthesizer-Musik ein. Ist das etwa ein Einspieler aus Blade Runner und wir befinden uns weder in einer Wabe noch in einem Brutkasten, sondern in einer Raumkapsel und sind verloren im Weltall? Aber nein, jemand spricht, erklärt die trophic cascade, eine unerwartete Veränderung der geographischen Beschaffenheit des Yellowstone-Nationalparks, das durch die Einwilderung von Wölfen bewirkt wird. Dann minutenlanges Wolfsgeheul, ein Schlagzeugsolo von Robert Stripling, mit Fußballgesängen unterlegt, und die Wabe öffnet sich wieder, viel zu früh, zurück zum Hof.
WAS WIR MACHEN
Noch einmal in die Turnhalle. Ausnahmsweise mit Straßenschuhen, und auch die Umkleide ist nur Durchgangsstation; ob jemand die einsame Turnhose an dem Haken dort subtil platziert hat oder sie schlicht nach der letzten Benutzung vergessen wurde, bleibt offen. Auf der ausladenden Bühne, die nach der wimmelbildigen Lebendigkeit des Pausenhofs kathartisch leer und blank bleibt, haben Martina Hefter und Jan Kuhlbrodt schon Platz genommen. Ein Schild kündigt die Veranstaltung an, das Getuschel im Publikum erstirbt, und ehe man sich versieht, ist man schon mitten in der Performance. Oder wie nennt man das, wenn zwei Leute auf der Bühne laut nachdenken über Mickey Mouse, das Paradies und New York City und collageartig ein, zwei Gedichte dazwischen streuen?
WILLKOMMEN IN DER WIRKLICHKEIT
PROSANOVA macht weiter. Wie sich in Hildesheim über Inszenierung, Kategorisierung, Minimierung und maximale Entfaltung einem neuen Literaturbegriff genähert wurde, weist weit über diese randvoll mit Literatur gefüllten Tage hinaus: Diese Literatur passiert und lebt, in Luzern, Berlin, Leipzig, in Wien, in München.
Es ging in den letzten Monaten immer wieder um drängende Erfahrungen, Unzulänglichkeiten und Relevanzfragen der Gegenwartsliteratur. Nichts könnte nach diesem Festival der Wahrheit ferner liegen. Was hier zu sehen war, muss nicht gegen eine Wirklichkeit bestehen, die es zu übertrumpfen gilt. Die Gegenwartsliteratur muss sich nicht einmal zu etwas bekennen. Sie ist, soviel ist nach diesen vier Tagen klar, selbst schon längst ein Teil der Wirklichkeit, und es ist bereichernd ihr zuzuhören, wenn sie deklamiert, flüstert oder laut nachdenkt.
Gebrauchsanweisung: Man nehme diese Eindrücke, fülle sie in Spritzflaschen (wie wir sie beim Social Reading mit Annika Reich, Jan Brandt und Jo Lendle gesehen haben) ab, und teile sie sich sorgfältig ein. Mindesthaltbarkeitsdatum bis PROSANOVA 2017.
© Fabian Thomas