toronto, downtown
siebter mai
drei uhr siebenunddreißig
meine ersten erinnerungen an toronto (II):
mein cousin, seine frau und ich waren aus paris gekommen. es war sommer zweitausend; ich hatte mir meine linke kniescheibe vertikal gebrochen. wir waren nach montréal geflogen. wir blieben von ende juli bis mitte august. ich kann mich nicht erinnern, wie wir nach toronto gekommen sind, ob mit dem flugzeug oder dem auto. was geblieben ist: ich, auf einem foto, vor einem bild des cn towers im cn tower, neun mal dreizehn zentimeter; der himmel ist türkis.

sommer zweitausend; das linke bein ist vergipst.
fünfzehn jahre später habe ich in liberty village einen teil meines ersten romans geschrieben. zehn stunden dauerte die fahrt von new york nach toronto; die kälte, minus zwanzig grad, im märz, und die reflexion des orangefarbenen lichts der straßenlaternen auf der frontscheibe; die straßen waren leer wie auch die condos zu sein schienen. vom sofa des apartments konnte ich sehen: den lake ontario, das bmo field, den gardiner expressway, ein billboard mit der warnung texting kills.
orte, an denen der text geschrieben wurde: berlin, london, schöppingen, wewelsfleth, istanbul, erfurt, paris, new york, toronto, tokyo. ich habe zwei jahre geschrieben.
»lesen heißt ja nicht nur, einen text zu lesen, zeichen zu entziffern, die zeilen zu vermessen, die seiten zu erforschen, einen sinn zu durchschreiten; es ist nicht nur die abstrakte kommunikation zwischen dem autor und dem leser, die mystische hochzeit der idee mit dem ohr, es ist gleichzeitig auch das geräusch der metro oder das schaukeln eines eisenbahnwagens oder die hitze der sonne an einem strand und die schreie der kinder, die etwas abseits spielen oder die empfindung des warmen wassers in der badewanne oder das warten auf den schlaf ...«
perec, georges: lesen – sozial-physiologischer abriss. in: ders.: denken/ordnen. zürich-berlin: diaphanes, zweitausendvierzehn, seite hundertvierzehn.
wenn perec recht hat – gibt es einen grund, daran zu zweifeln? –, dann könnte für schreiben vielleicht gelten, dass sich der ort einschreibt in den text, der geschrieben wird, dass alles in ihm seine spuren hinterlässt, körperhaltung, zigaretten, musik.
musik aus toronto, die ich während des schreibens gehört habe:
the weeknd – king of the fall
river tiber – no talk
partynextdoor – break from toronto
roy woods – unleashed
drake – energy
jazz cartier – the valley
devontée – bare tings
majid jordan – forever
ca$tro guapo – we are not

Durch Zufall beginnen Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi ein Gespräch auf Facebook. Er lebt als Doktorand der Philosophie in Berlin, sie studiert Kunstgeschichte in Marburg. Sieben Tage lang erzählen sie sich von ihrem Leben, ohne sich zu begegnen. Ihre Nachrichten handeln von ihren Familien und ihrer Flucht aus Bürgerkriegsgebieten, von ihrer Kindheit im Asylbewerberheim und ihrer Schul- und Studienzeit. Hochreflektiert schreibt Senthuran Varatharajah in seinem Debütroman über Herkunft und Ankunft, über Erinnern und Vergessen und über die Brüche in Biographien, die erst nach einiger Zeit sichtbar werden.