Ich spreche zu dir vom Vergessen
mit dem Gedächtnis der Zukunft,
alles wiederholt sich und wiederholt sich nicht,
ich spreche von den Wassern des Vergessens,
ich lasse das Gedächtnis sein,
und es ist ein anderes.
Ich sage Geliebte, Ersehnte;
Und sie ist fort. Und sie ist hier.
Mirkka Rekola
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Es ist Herbst in Helsinki. Ein Herbst, in dem die Linden noch grüne Blätter und Samen haben, während der Ahorn daneben schon rot geflammt aussieht. Die Birken sind gelb. Es sind gelbe Wälder, die das dominierende Grau der Tage aufreißen. Gelbe Wälder, die inmitten von Wasser stehen. Die Wege sind nass, die Moose auf den Felsen, die Flechten sind schattig von Feuchtigkeit, das Weiß der Birkenstämme glänzt dunkel.
Die Wälder wachsen in die Stadt hinein. Sie säumen die Schnellstraßen und die Ufer, sie wachsen bis nah an die Jugendstilstraßen, durch die der Wind von der Ostsee weht. Abends ist er manchmal schon eisig, sodass man nicht den Kopf in den Nacken legen will, um die Fassaden zu betrachten. Der finnische Jugendstil ist robust. Die Häuser sind aus Granit und tragen wehrhafte Türme.
An den Stadträndern werden gläserne Bürogebäude gebaut, um sich dem Zugriff der Natur zu widersetzen. Aber das Wasser dringt durch, sickert auf. Dort, wo keine Schotterwege aufgeschüttet wurden, ist der Untergrund weich. Rutschig und matschig, schlammig, pampig, durchtränkt, moddrig, morastig, vollgesogen, verschlickt und versumpft sind Worte, die mir, seit ich hier bin, ständig durch den Kopf gehen. Das Wasser rinnt mit den Flussläufen in die Stadt, es steigt aus dem Boden. Sogar vor der Oper wachsen Blaubeeren und Sumpfporst. Das Grundwasser scheint knapp unterhalb des Asphalts zu stehen. Der Regen bringt es mit und das Meer. Die Ostsee klatscht gegen die Hafenmauern im Stadtzentrum, sprüht gegen die Scheiben der grünen Straßenbahnen, lässt die Jollen schaukeln, auf denen Heringe und Räucherlachs verkauft werden. Die Windböen vom offenen Meer werden vom Schärengarten kaum abgebremst, den tausenden kleinen Felsinseln vor Helsinki. Kraftvoll peitschen die Böen in die Prachtstraße, die Esplanade, hinein und treiben die Leute in die teuersten Cafés, ins Strindberg oder ins Kappeli, wo der Cappuccino fünf Euro kostet und das winzige Tortenstück acht.
Manche gehen in Gummistiefeln durch die Straßen. Vor ihren Büros oder in der Garderobe des Theaters ziehen sie andere Schuhe an, die sie in der Handtasche mit sich tragen. »Jetzt ist Regenzeit«, sagen die Einheimischen, »es regnet durch bis Weihnachten. Es sei denn, es schneit. Aber letztes Jahr gab es erst im Januar den ersten Schnee.«
Am Wissenschaftskolleg, das mich eingeladen hat, steht eine große Tageslichtlampe im Aufenthaltsraum. Neuankömmlingen wird empfohlen, sich mindestens eine Stunde pro Woche davor zu setzen, denn mit dem Regen kommt die Dunkelheit. Neuankömmlinge erhalten auch die spezielle Einladung, nach den brownbag-Seminaren, in denen neueste Forschungsergebnisse vorgestellt werden in European Studies, Genderstudies, Comparative Literature, mit in den Pub zu kommen. Meist ist es dann erst 16 Uhr. Eine andere Empfehlung sind die Massagen. Zwei Masseure arbeiten drei Tage lang am Institut. Die Fellows, Wissenschaftler aus aller Welt, können sich für eine kostenlose Stunde im Monat in Harriis und Tuomas Hände begeben.
Meine Wohnung gehört zu einem Plattenbau am Rand eines Erschließungsgebiets. Vom Fenster aus kann ich eine Trabrennbahn sehen. Bürogebäude stehen halb fertig in einem Birkenwald, die Zufahrtsstraßen für Baufahrzeuge werden im Winter als Langlaufloipen genutzt. Nach einer Unterführung bin ich am Meer. Die Ostsee sammelt ihr Wasser in einer flachen, schilfumstandenen Bucht, die im Winter zufrieren wird. Aber laut Wettervorhersagen im finnland-schwedischen Radiosender ist es noch nicht soweit. Die Wettervorhersagen sind länger als die Nachrichten. Noch für jede Insel werden Niederschlagsmenge und Windstärken angesagt, was die Sprecher zum Ende hin vor Erschöpfung monoton werden lässt. Vergleichbar sind nur die Verkehrsmeldungen des Deutschlandfunks. Aber die deutschen Staumeldungen sind kürzer, und in Finnland ist das Wasser das Einzige, was sich staut.
Seit ich hier bin, werde ich manchmal von einem Kindheitsgedanken durchzuckt. Heraufbeschworen von einem vertrauten Geruch, vom Anblick einer Landschaft, die nicht geordnet ist, vom Schriftzug eines Restaurants, in dem die Neonröhre flackert, oder von einem Ladenschild, das aussieht, als sollte es vom Betreten des Ladens abhalten. Solche Ähnlichkeiten sind vage, die Vergleichsgrundlage schwach. Und doch scheint es eine Unterströmung zu geben, eine Art Trasse, die die Erinnerungen transportiert und ausgerechnet hier wieder auftauchen lässt. Vielleicht liegt es auch an den Ansagen, die das Radio zu Militärübungen im Land bringt. Der Name der Panzerdivision, die GPS-Daten, die Uhrzeiten. Diese Meldung schließt sich nahtlos an den Wetterbericht an.
»Finnland hat viel von Deutschland gelernt«, war eines der ersten Dinge, die mir die Institutsmitarbeiterin sagte, als sie mich vom Flughafen abholte. »Der Erfinder der finnischen Schriftsprache kannte Martin Luther«, sagte sie. »1918, nach Finnlands Unabhängigkeit, wurde ein deutscher Prinz vom Parlament zum König von Finnland gewählt«, sagte sie. »Seine Amtszeit währte allerdings nur zwei Monate. Friedrich Karl von Hessen-Kassel hatte nicht einmal die Gelegenheit, sein Königreich zu betreten.«
Sie wollte mir das Ankommen leichter machen. Ich aber dachte an die DDR. In der DDR wusste man, dass Finnland ein ähnliches Schulsystem hatte. Man war stolz darauf. Man bildete sich ein, ein Role-Model für die Erziehung des finnischen Nachwuchses zu sein, auch wenn man den Begriff Role-Model damals nicht benutzte. Aber das sagte ich am Flughafen nicht.
»Ostdeutsche und finnische Frauen ähneln sich«, sagte neulich eine Finnin zu mir. »Sie stehen im Berufsleben. Es ist normal, dass man noch andere Interessen außer den Kindern hat. Dass Kinder frühzeitig in Kindergärten gehen. Man findet Themen, über die sich unterhalten lässt.«
Auch solche Ähnlichkeitsvermutungen sind nicht unbedingt der Anlass für mein vages Kindheitszucken. Nicht die Illusion eines Wiedererkennens lässt die Erinnerung aufkommen, sondern die Gegenwärtigkeit des Vergangenen in dieser Stadt. Ist es eine Gesellschaftsordnung nicht mehr aktuell, wird sie nicht wie in Potsdam ausgemerzt, wo man noch jeden Stein wegräumt, den ein sozialistischer Hammer zurechtgehauen haben könnte (um dann ein Museum zu errichten, in dem ein Foto dieses Steins zu besichtigen ist).
Die Zeit und wie sie vergeht, die Geschichte und wie sie sich überholt, das ist in Helsinki deutlich sichtbar. Man hat entweder keine Lust oder sieht nicht die Notwendigkeit, sich mit Abreißen und Aufräumen zu beschäftigen. Man lässt das Schöne und das Hässliche einfach stehen: Den Palast der Nationalromantik neben dem Museum der Moderne aus Stahl und Glas. Gegenüber einer neu gepflasterten Uferpromenade in der Innenstadt ein Kraftwerk. Hinter den Fackelträgern an der Fassade des Bahnhofs, ein Prunkstück des Jugendstils, graubraune Betonquader. Glänzender Globalisierungschic neben rümpeligem Fünfzigerjahredesign.
Die Zeugnisse der langen schwedischen Regierungszeit sind ebenso sichtbar wie die der russischen Herrschaft und der späteren sowjetischen Einflussnahme. Auch in Finnland hat man noch Schwierigkeiten, das kurzzeitige Flirten mit der kommunistischen Ideologie zu erklären. Rote Garden hatten sich in mehreren Stadtteilen Helsinkis verschanzt, angestachelt von der Oktoberrevolution. Ihrer Begeisterung folgte ein Bürgerkrieg.
Die Denkmäler verbleiben. Und zwar alle. Es gibt Statuen von russischen Zaren, von schwedischen Adligen und deutschen Soldaten, Denkmäler für die finnisch-sowjetische Freundschaft, für den Weltfrieden und für den ertrunkenen Seemann. Die Architektur in dieser Stadt macht das Erinnern einfach, weil sie durchlässig ist. Weil sie bei Widersprüchen nicht verkrampft. Widersprüche werden von der altertümlichen Straßenbahn mühelos miteinander verbunden.
Und im Herbst, wenn die Hässlichkeit und die Schönheit hinter der ausdünnenden Belaubung der Bäume immer stärker hervortreten, werden die Bauwerke und Denkmäler in das herbe Gelb der Birken getaucht. Und der Blick hält für einen kurzen Moment inne. Und alles verbleibt. Und so geschieht es auch im nächsten Jahr. Allein das Wasser, das allgegenwärtige, hat die Macht, irgendwann die Unterschiede abzuwaschen und wegzuspülen.

Antje Rávic Strubel erzählt von einer ungewöhnlichen und unabwendbaren Liebe und von den langen Schatten eines untergegangen politischen Systems.
Eine Insel in der Ostsee. Der junge Erik verliebt sich in die scheinbar unergründliche Vogelforscherin Inez. Aber die beiden werden beobachtet. Ohne es zu ahnen, sind sie längst in eine politische Intrige verstrickt. Die geschützte Insel wird zum schutzlosen Ort. Ein Roman, der von einer großen Liebe erzählt, von den Erinnerungen, Legenden und Lügen unserer Gegenwart, aber auch vom Glück, das im Vergänglichen liegt.