Vom Messetrubel haben wir nicht allzu viel mitbekommen. Dazu reichte die Zeit nicht. Dazu lag zu viel Schnee. Nach einem Abstecher an die Stände des Hanserverlages und des S.Fischer Verlages in Halle 4 - Mariam mit einem leuchtenden Tuch, auf dem in Persisch von der Kraft der Liebe die Rede war, was Anlass bot, über die Nähe des Persischen zum Arabischen nachzudenken, zwei Sprachen, die einander offenbar so ähneln wie das Deutsche dem Niederländischen, was mir neu war und vielleicht auch nur halb stimmt, denn wir sprachen darüber auf Englisch und Deutsch, und eine Erkältung hatte mein Gehör wie in Watte gepackt - mussten wir die Messe schon verlassen, um durch dichtes Schneetreiben in ein unbekanntes Viertel hinter den Eisenbahnschienen zu fahren.
Hinter den Eisenbahnschienen heißt in Leipzig soviel wie »jwd« – janz weit draußen. In diesem Schnee, der die Straßen einpackte, schien dieses Viertel noch viel weiter von allem entfernt, so entlegen, dass ich mich fremd zu fühlen begannn, und wenn ich hier schon fremd war, wie fremd, dachte ich, musste es dann erst für Mariam sein. Im Eckhaus einer menschenleeren Straße befand sich der Veranstaltungsort für die erste gemeinsame Lesung von Mariam und mir; ein Wahlkampfbüro der Linken, das wie eine Mischung aus Kindertagesstätte und dem Wartezimmer einer Arztpraxis aussah. Wir trafen kurz vor sieben ein und waren die Einzigen inmitten der optimistisch aufgereihten Stühle. Hinter einem roten Plüschvorhang tagte noch der Fotoclub, der kurz vor sieben verschwand, nicht ohne, dass jedes Mitglied uns einzeln einen schönen Abend wünschte, angesichts der leeren Stuhlreihen eine Art Beileidsbekundung. Bleiben wollten sie nicht. Während der Schneesturm sie nicht davon abhielt, nach Hause zu eilen, schien er jenen Gästen, die, wie wir hörten, gewöhnlich hier die Zuhörer waren und der älteren Generation angehörten, das Ausgehen zu vergraulen. Nur einer kam. Der aber wollte für seine eigene Veranstaltung werben und Flyer auf den Stühlen verteilen, was einer gewissen Komik nicht entbehrte.
Mariam blieb gefasst. Wir begannen zu reden. Es wurde ein ungewöhnlicher Abend, ein halb öffentliches und umso persönlicheres Gespräch über Afghanistan und die DDR und die Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland, darüber, was man zurücklässt, wenn man eine Gesellschaft gegen eine andere eintauscht, und wie sich ans Zurückgelassene erinnern lässt, von welchem Standpunkt aus und wie sich diese Standpunkte im Laufe der Zeit verschieben und mit ihnen das Erinnerte, wie der Schnee von gestern immer wieder anders fällt, Spuren sichtbar macht, andere verdeckt, und wie wichtig gerade dieses Flüchtige, Waghalsige, Instabile der Erinnerung fürs Lebendigsein ist. Ohne die Gaukeleien eines tröstlich- trügerischen, unzuverlässigen Gedächtnisses wird das eigene Rückgrat zum Stock, findet jede Bewegung nur noch im beengenden Gehege einer Erinnerungskultur statt.
Und als Mariam ihre Gedichte auf persisch las, fiel draußen weiter der Schnee.
Mariam Meetra
Abschiedsbrief
Bevor ich meine Einsamkeit in Koffer packte
und in diese Stadt mitbrachte,
war das Leben nicht eine unbehauste namenlose Frau.
Ohne deine Hände zu schütteln,
ohne diesen Brief auf deinem Tisch
oder zwischen deinen Büchern,
verschloss ich mein Zimmer,
jenes ängstliche schlaflose Zimmer,
verschreckt von ständigen Explosionen.
Ich weiß,
zweifelnd bin ich hergekommen,
zweifelnd küsse ich dich,
zweifelnd liebe ich dich.
Einsamkeit kennt keine Grenzen,
um sie in einer anderen Stadt zu lassen;
hier schläft sie jede Nacht neben mir
und lässt mich nicht an dich denken.
Keiner Straße versprach ich zu bleiben,
damit sie nicht meine Rückkehr erwarte.
Diese Stadt ist eine kleine Herberge,
die so viel Einsamkeit nicht erträgt.
Meine Identität
Straßen, die sich leeren
vom Duft der Menschen, von Lebensfarben,
einer nach dem anderen treten wir ab.
Niemand ruft dort nach mir,
niemand betritt die Straße.
Wir sprechen durch Mauern miteinander,
in einer Stadt, deren Himmel
Kugeln blutig gefärbt haben …
Deine Stimme habe ich mir gemerkt,
nach jedem Treffer
schreien wir gemeinsam …
Wo soll ich mich verbergen?
Wo immer das Dach einstürzt, es fällt auf dich herab.
Das Dach dieses Hauses stürzt seit Jahren schon über mir ein,
in allen Himmelsrichtungen ist es zerborsten …
In mir habe ich ein Haus errichtet
mit meinen Erinnerungen und Träumen,
mein innerstes Haus,
das ich nie verlasse.
Es ist meine Zuflucht,
wenn ich keine Anschrift habe,
wenn niemand meinen Namen kennt.
Ein Haus habe ich in mir errichtet …
Sie fragen,
woher ich komme? Wo ich geboren wurde?
Sie fragen nicht, wo ich gelitten habe?
Wo ich lachte,
wo ich weinte,
wo ich meine Freunde verlor?
Ich bin mein eigener Ausweis
aus Träumen und Ängsten,
mit denen ich Flüsse, Berge und Flughäfen passierte.
Augen, Erinnerungen, Kummer, Lachen,
meine Liebsten und meine Ängste
sind meine Identität.
Jeder Mensch ist ein Haus in sich,
mit Sprachen, die er spricht,
mit wiedererweckten Erinnerungen.
Übersetzung: Susanne Baghestani
Die beiden Gedichte wurden zuerst auf Weiter Schreiben – ein literarisches Portal für Autor*innen aus Krisengebieten veröffentlicht.