Ein Vorteil historischer Darstellungen kann es sein, das für uns vermeintlich Selbstverständliche, geradezu Natürliche und nicht mehr zu Hinterfragende in seine geschichtlichen Bestandteile zu zerlegen. Zum Beispiel Zahlen. Häuser mit Nummern zu versehen (wie der 114), ist ein verhältnismäßig junges, im 18. Jahrhundert entstandenes Phänomen mit eindeutig politischen Implikationen: steuerzahlende und zum Militärdienst verpflichtete Untertanen sollten damit leichter ausfindig gemacht werden. Frühe Ausformungen des Überwachungsstaates.
Nicht nur Häuser, auch die Zeiten werden gewohnheitsmäßig einer numerischen Organisation unterworfen.Unser Alltag ist getaktet, streng rhythmisiert, in zeitlich gleichmäßige und mechanisch ablaufende Häppchen eingeteilt. Angefangen bei Atomuhren und dem hektischen Tickern der Sekundenzeiger über den gleichmäßigen Tagesablauf bis zur durchdatierten Lebensspanne haben wir uns daran gewöhnt, Zeit als quantitative Ressource zu sehen, weniger als qualitative Möglichkeit. Bis sie dann auf einmal fehlt, die Zeit, bis »aus dem ausschweifenden Lebenslauf ein auslaufender Lebensschweif wird« (wie Arno Schmidt einmal so schön formuliert hat). Auch frühere Zeiten nehmen wir vor allem unter dem Diktat der runden Zahlen wahr. 2014 ist dafür nur eines von alljährlich sich wiederholenden Beispielen: 100 Jahre Erster Weltkrieg, 300 Jahre C.P.E. Bach, 1200 Jahre Hinscheiden Karls des Großen … Historisches Gedenken erfolgt streng nach dem Kalender.
Dreihundertfünfundsechzig
Selber schuld: Wer die 365 Tage des Jahres auf Grundlage des (sehr europäischen) Gregorianischen Kalenders mit Zahlenkombinationen ausstattet, darf sich nicht wundern, wenn diese Zahlen irgendwann zurückschlagen. Ist natürlich eine praktische Angelegenheit: Eine Angabe wie »12.02.2014« ist eindeutig und Teil einer inzwischen weltweit verwendeten Chronologie. Damit wird das kalendarische System zu einem leeren Raster, das geduldig darauf wartet, gefüllt zu werden – mit Terminen, Erlebnissen, Ereignissen. Nichtssagende Zahlenreihen kommen mit einem Mal bedeutungsschwanger und mit bestimmtem Artikel daher: der 14. Februar, der 11. September, der 9. November, der 24. Dezember, oder Freitag der 13. (der dieses Jahr im Übrigen nur einmal, nämlich im Juni auftritt)...
Zweihunderteins
Sich auf diese Weise ein kalendarisches, durchnummeriertes Korsett anzulegen, hat seine eigene Geschichte. Denis Diderot, der vor 201 Jahren geborene Vorzeigeaufklärer und Universalkritiker, hat in der von ihm mitverantworteten Encyclopédie, dieser Papier gewordenen Wissenswelt des 18. Jahrhunderts, auch einen Eintrag zum Stichwort Almanach untergebracht. Darin wird ein entleertes Zeitverständnis noch als durchaus bemerkenswert beschrieben. Die leeren Seiten in Terminkalendern seien ein durchaus neues Phänomen, so weiß der Artikel zu berichten. Das wüste Feld der durchgezählten Tage und Monate bleibe der eigenen Gestaltung überantwortet, man müsse und könne also seine Zeit selber füllen.
Null
Auch andere Zeitzahlen gewannen in diesem Zeitraum einen zuvor nicht gekannten Zauber. Die uns selbstverständlich erscheinende Praxis, Jahrhundertwenden eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken (von Jahrtausendwenden gar nicht erst zu reden), kannte man vor dem 17. Jahrhundert kaum. Im Jahr 1700 ist erstmals eine größere Aufmerksamkeit für diese auffallende Häufung von Nullen festzustellen, die sich seither jedes Mal gesteigert hat.
Siebzehn
Zu Diderots Zeiten war die Vorstellung, dass die Zeit eine zu füllende Hülse sei oder dass Jahren nur aufgrund ihrer markanten Zahlenkombination eine besondere Bedeutung zukomme, noch recht frisch. Bis in das 17. Jahrhundert hinein herrschte in Europa ein Zeitwissen vor, wonach die Zeit nicht leer, sondern angefüllt ist, wonach man den Tagen keine Bedeutung geben muss, sondern sie diese Bedeutung bereits haben. Die Zeit war anders rhythmisiert, orientierte sich stärker an sozialen Gepflogenheiten, religiösen Feierlichkeiten oder jahreszeitlichen Gegebenheiten, nicht an der Verehrung der Zahl und ihrer Gleichmäßigkeit. Eine solche Umgangsweise mit Zeit war keineswegs besser – sie war einfach anders. Dafür aufmerksam zu bleiben und solche Unterschiede zur Erkenntnis der eigenen Gegenwart zu nutzen, ist der Mehrwert, den historische Betrachtungen bereithalten.

***Wie die Entdeckung der Gegenwart die Welt verändert hat***
Ein Leben ohne Termine ist heute kaum vorstellbar. Zeit ist ein kostbares Gut, das verwaltet und genutzt sein will. Doch die Zeit ist vor allem eine Idee. Der renommierte Historiker Achim Landwehr erzählt spannend und plausibel, wie sich im 17. Jahrhundert das Verhältnis der Menschen zur Zeit, zu Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, verändert hat.
Bis dahin glaubten die meisten Menschen in Europa, die Apokalypse und das Reich Gottes stünden kurz bevor - wozu also die Gegenwart gestalten, da man damit die Zukunft doch nicht verändern kann? Doch nach und nach wurde beides, Gegenwart und Zukunft, als Zeitraum der Möglichkeiten wahrgenommen. Dies zeigte sich an vielen kleinen Veränderungen: Kalender, die bis dahin aus eng bedruckten Seiten mit astrologischen Informationen bestanden, boten nun Platz für persönliche Einträge, Zeitungen berichteten vom Hier und Heute, und mit Versicherungen sorgte man für das Morgen vor.
Die überraschende Geschichte von der Geburt eines neuen Zeitwissens, durch das sich die Welt ebenso grundlegend wandelte wie durch die großen Entdeckungen von Galilei bis Newton.