Das Chronik-Ressort ist die härteste Abteilung, in die es einen jungen Journalisten verschlagen kann. Die direkte Konfrontation mit Tragödien, vor allen Dingen mit dem Tod, kann einem heftig zusetzen. Nach Verkehrsunfällen mit Todesfolge mit Verwandten des Opfers sprechen zu müssen und das Geschehene und Gehörte anschließend in ein paar Sätzen druckreif aufzubereiten – und das immer und immer wieder zu machen –, kann einen mit der Zeit aber auch für menschliches Leid abstumpfen und in Kälte, Zynismus oder den Alkohol fliehen lassen.
Wenn man nicht rechtzeitig den Absprung schafft, wie es Anna Weidenholzer gelungen ist. Die gebürtige Linzerin, Jahrgang 1984, hat nach ihrem Studium eine Zeit lang im Chronik-Ressort der „Oberösterreichischen Nachrichten“ gearbeitet. Ihr Schreiben hat davon letztlich extrem profitiert, ja, ohne ihre Tätigkeit als Printjournalistin wäre Weidenholzers erstes Buch „Der Platz des Hundes“ (2010) in der Form sicher nicht entstanden. Die Zeit bei der Zeitung hat sie das Beobachten geschult. Mehr noch, ihr Schreiben ist dadurch welthaltiger geworden und sie scheut, wie sie meint, heute auch nicht mehr davor zurück, direkt auf eine Person zuzugehen und sie anzusprechen.
Sie sagt: „Man hat es in diesem Job mit Menschen zu tun, und man macht Grenzerfahrungen. Ständig rufen Leute an, oft sind es schräge Typen. Man dringt zu Leuten vor, mit denen man sonst nichts zu tun hat. Wenn man nach einem Todesfall bei Hinterbliebenen anruft, dringt man in ganz private Räume ein. Es ist eine arge Erfahrung und nichts, was man sein Leben lang beruflich machen will. Irgendwann wollte ich auch keine typischen, kurzen Berichte mehr schreiben. Aber ich habe für mich gefunden, es ist ein wichtige Erfahrung, Menschen in Extremsituationen zu erleben.“
Anna Weidenholzer hat durch ihre Begegnungen mit Menschen ein thematisches Repertoire entwickelt, aus dem sie nun schöpft. Sie interessiert sich in ihren Texten für Figuren und sie interessiert sich, was keine Selbstverständlichkeit ist, auch für die Menschen und Schicksale, die dahinter stehen.
In „Der Platz des Hundes“ erzählt sie von Personen, auf die sie im Kaffeehaus oder in den Chronikteilen von Zeitungen gestoßen ist. Oft sind es „Nachsommer“-Existenzen, von denen sie erzählt, einsame Leute oder Frühpensionisten. Da ist etwa der Held der Titelgeschichte, der von Frau und Hund verlassen wurde und nunmehr alleine ein karges Dasein fristet. Das macht schon sein Speiseplan deutlich, der ziemlich abwechslungslos aus Palatschinken und Bier besteht. Der Mann lebt in der Zwischenzeit, da er die Zeitumstellung ablehnt, „wegen der Uhrenmafia“.
Weidenholzers Figuren sind, das ist das Schöne an diesen Texten, keine Opfer. Hier wird niemand mit den besten Intentionen vorgeführt. Auch wenn es sich um Randfiguren handelt, die wie am Rand der Gesellschaft abgestellt wirken, haben sie doch fast alle etwas Schönes oder Würdevolles an sich. Man könnte die Methode der Autorin teilnehmende Beobachtung nennen, wobei bei ihr kein Pathos aufkommt. Die Beobachtung und der genaue Blick überwiegen. Man muss nur lang genug hinsehen, dann lassen sich überraschende Eigenheiten und Charakterzüge an Menschen entdecken, die dem flüchtigen Blick verborgen bleiben.
„Der Platz des Hundes“ ist eine Sammlung recht kurzer Erzählungen von im Schnitt zehn Seiten, die für sich stehen, über ihre Figurenkonstellation aber auch miteinander korrespondieren. Die Texte funktionieren als Einzelnes gut, sie gewinnen jedoch noch, wenn man sie in der Reihenfolge, in der sie im Buch angeordnet sind, als Ganzes liest. Die Protagonisten einer Geschichte tauchen als Nebenfiguren in anderen Texten wieder auf, mitunter stehen sie auch in einem anderen Licht. Insgesamt ist alles lose, aber nicht zwanghaft miteinander verknüpft – so, als würde in einem Wohnhaus oder Wohnblock einmal in der einen Wohnung Licht gemacht werden, dann in einer anderen ein paar Türnummern weiter oder Stöcke höher. Manche Leute kennen einander, manche nicht, andere würden einander lieber nicht mehr kennen und wieder andere lernen sich vielleicht gerade kennen.
Geschrieben sind die Texte in einer bewusst einfach gehaltenen Sprache und in einem ruhigen, unaufgeregten Ton. Weidenholzer hat einen Hang zum Minimalismus, wie sie zugibt: „Mir ist lieber, es sind weniger Wörter als mehr. Früher habe ich auch noch stärkere Begriffe verwendet, aber das passt nicht zu meinem Sprachfluss. Manches kann ich nicht schreiben. Ich glaube, das Wort ,grinsen’ werde ich nie verwenden, das wäre mir einfach zu viel. ,Lächeln’ genügt doch.“ Und was ist mit ,schmunzeln’? Anna Weidenholzer schmunzelt: „Das ist an der Grenze.“
Die Anfänge der Autorin waren natürlich weniger dezent, vielmehr alterstypische erste Schreibversuche. Als Kind verfasste sie „Reiterhofgeschichten und Antikriegsgedichte“, erinnert sie sich. „Witzigerweise sind sie auf dem ersten Mac entstanden, den meine Eltern hatten. Ich habe gleich am Computer zu schreiben begonnen.“ Die Fantasie war groß, und so entstanden auch Skispringer-Magazine mit Texten und Zeichnungen.
„Schreiben war immer schon meine Ausdrucksform“, sagt Anna Weidenholzer. Nach der Matura in Linz und der Übersiedlung nach Wien rückte es dennoch für ein paar Jahre in den Hintergrund. Grund dafür war das Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, das sich als derart lektüreintensiv erwies, dass zum Schreiben eigener Texte wenig Zeit blieb. 2007 schloss Weidenholzer es mit einer Diplomarbeit über „Aspekte und Möglichkeiten einer interkulturellen Literatur aus Bosnien-Herzegowina am Beispiel von SaÅ¡a StaniÅ¡ić, Alma Hadzibeganovic und Aleksandar Hemon“ ab. Seitdem ist sie umso produktiver.
Der übliche Weg zu einer ersten eigenständigen Buchveröffentlichung besteht in der Regel darin, zunächst in Zeitschriften zu publizieren. Anna Weidenholzer hat stattdessen von früh an lieber an Wettbewerben teilgenommen oder ihre Texte bei Lesungen ausprobiert. Beim FM4 Wortlaut-Preis, dem Literaturpreis des ORF-Alternativradios, schaffte sie es 2003, 2008 und 2009 auf die Shortlist. In dem Jahr absolvierte sie auch die Leondinger Akademie für Literatur von Gustav Ernst und Karin Fleischanderl. „Als Gastlehrer hatte ich Anna Mitgutsch, Robert Schindel und Kathrin Röggla. Alleine dafür hat es sich gelohnt, daran teilzunehmen.“
Literatur ist für sie keine Ausrede dafür, sich ins stille Kämmerlein zurückzuziehen. Sie sucht bewusst den Austausch mit Kollegen und den Kontakt mit Zuhörern. In ihrer oberösterreichischen Heimatstadt, in die es sie nach wie vor regelmäßig verschlägt, betreibt sie zusammen mit Klaus Buttinger, Dominika Meindl und René Monet die monatliche Lesebühne „Original Linzer Worte“, bei der die klassische Dichterlesung durch Performanceelemente aufgebrochen wird.
Und sie reist generell gerne: „Es reißt mich rum. 2010 war ich jeweils ein Monat in Gmunden und in Krumau. Heuer im Herbst habe ich ein Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf in Deutschland. Ich mag es, an neue Orte zu kommen und mich auf etwas Neues einzulassen.“ 2011 wurde sie außerdem schon zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen. Im Juli las sie dazu beim Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Diese Ehre ereilte aus Österreich neben ihr nur Shootingstar Clemens J. Setz, was man durchaus als Hinweis dafür auffassen könnte, dass auch ihr Stern langsam aufgeht.
Die Suche nach einem Verlag fürs Debüt gehört zu den weniger schönen Seiten einer beginnenden literarischen Laufbahn. Anna Weidenholzer konnte sie sich zum Glück ersparen, sie wurde gefunden. Als sie um das Kunstförderungsstipendium der Stadt Linz ansuchte, saß ihr künftiger Verleger Alfred Gelbmann vom Mitter Verlag in der Jury. Er gab den Anstoß dazu, aus einzelnen Texten, die damals bereits existieren, ein ganzes Buch mit Erzählungen zu machen. „Ich bin ihm sehr dankbar dafür“, sagt die Entdeckte. „Schreiben ist eine Notwendigkeit für mich, aber es braucht oft auch einen Anstoß oder einen Anlass dazu.“
Das solcherart angestoßene Buch erschien im Herbst 2010. Das Echo war gut, wenn auch recht leise. Der in Wels beheimatete Mitter Verlag ist ein Kleinverlag mit entsprechend begrenzter Ausstrahlung. „Die Wahrnehmung ist halt geringer als mit einem großen Verlag“, formuliert die Autorin. „Man liegt kaum in Buchhandlungen auf und Rezensionen sind auch erst einige wenige erschienen. Bücher werden eher bei Lesungen verkauft. Aber es geht mir jetzt sowieso vor allem ums Schreiben. Wenn irgendwann ein größerer Verlag daherkommt, wäre das natürlich auch gut, aber es wäre erst der nächste Schritt.“
Sie lässt sich Zeit. Und sie braucht diese Zeit auch, um beim Schreiben zu guten Ergebnissen zu kommen, erzählt sie. 30 Stunden Brotjob und abends noch nebenbei schreiben, das würde vielleicht bei anderen Autoren, bei ihr jedoch nicht funktionieren. Manchmal arbeitet sie zwar noch journalistisch, nunmehr jedoch als freie Journalistin mit Schwerpunkt Reportage. Weiters hält sie ab und an Schreibworkshops mit Jugendlichen ab oder betätigt sich als Ghostwriterin. Im Mix gehe es sich gerade so aus, um über die Runden zu kommen. Wichtiger ist ihr, Zeit fürs Wesentliche zu haben.
Ihr Notizbuch hat sie immer eingesteckt, denn Inspiration kann sie überall finden: „Oft schnappe ich im Vorbeigehen auf der Straße oder im Kaffeehaus gute Sätze auf. Oder es hat ein Mensch, den ich irgendwo sehe, eine kleine Eigenschaft, die faszinierend ist, weil sie aus dem gängigen Schema fällt.“ Phase zwei, nämlich die eigentliche Textarbeit verrichtet sie doch lieber zu Hause am Schreibtisch. So wichtig ihr der Kontakt nach draußen ist, so sehr braucht es auch die Versenkung und das Abtauchens in den kreativen Prozess. Fast immer fängt er mit Musik aus dem Kopfhörer an, die sie in den Rhythmus und in die Stimmung zum Schreiben bringt.
Gern unter Leuten, aber auch gern allein – wo sieht sich Anna Weidenholzer im Konzert der österreichischen Gegenwartsliteratur? „Ich bin eine Erzählerin“, sagt sie. „Und ich bin eine Solistin. Ich will nicht schreiben wie dieser oder jene Autorin, die ich gut finde, oder einer Gruppe angehören.“
© Sebastian Fasthuber, 2011 ________________________________________________
Sebastian Fasthuber ist Literatur- und Musikkritiker u. a. bei der Wiener Stadtzeitung FALTER