Wilhelm Genazino: Abschaffel (Roman) |
Wilhelm Genazino: Abschaffel |
Inhaltsangabe:Abschaffel, ein 30-jähriger Angestellter einer Spedition, arbeitet in einem Großraumbüro in Frankfurt am Main. Der Einzelgänger lebt allein, und weil er sich in seiner kleinen Wohnung auch nicht lieber als im Büro aufhält, dehnt er den Nachhauseweg aus, indem er ziellos durch die Stadt schlendert. Später, nach Feierabend, stolperte Abschaffel in der Innenstadt umher. Er versuchte, das Eintreffen in seiner Wohnung möglichst hinauszuschieben, obwohl er nicht wusste, was er in der Stadt machen sollte.
Unterwegs beobachtet er andere Leute und geht eigens zu einer Bank, deren automatische Eingangstür seit einiger Zeit defekt ist, um Leute zu beobachten, die mit den Tücken der Technik kämpfen. Aber die Schadenfreude befreit ihn nur kurz von seiner schlechten Laune. In einem Imbiss verlangt jemand ein Eibrötchen. Abschaffel verhört sich und stellt sich vor, wie ein Eilbrötchen aussehen könnte. Vermutlich wäre es halb so groß wie ein normales Brötchen. SO GEHT ES NICHT WEITER! SO KANN ES NICHT WEITERGEHEN! ES MUSS ALLES GANZ ANDERS WERDEN! Mit solchen Sätzen, die er unaufhörlich vor sich hin murmelte, ging Abschaffel einige Tage später nach Hause. ICH KANN MICH NICHT JEDEN TAG IN DER STADT HERUMTREIBEN! ICH MUSS SINNVOLLER LEBEN! Im Restaurant einer Markthalle setzt Abschaffel sich zu einer Frau an den Tisch. Die 35-jährige Goldschmiedin heißt Margot und wird seine neue Geliebte. |
Buchbesprechung:
Über die Figur Abschaffel hat Wilhelm Genazino eine Romantrilogie geschrieben: "Abschaffel" (1977), "Die Vernichtung der Sorgen" (1978) und "Falsche Jahre" (1979). Für eine Identifikationsfigur taugt dieser Kotzbrocken nicht. Der 30-jährige Büroangestellte ist weder ein Erfolgsmensch noch ein Versager; er
Er überlegte, dass er, und dies galt auch von den Hemden und seiner Unterwäsche, zwei Sorten von Kleidungsstücken hatte, solche, die er gern anzog und die ihm guttaten, und andere, die ihm zu eng, zu weit, zu bunt oder sonstwie unpassend erschienen und die er trotzdem nicht wegwarf. Er zog auch die Unpassenden immer wieder an und ließ sich auf vertrackte Weise von ihnen quälen. Dies wurde ihm in diesem Augenblick so klar, dass er eines der Hemden, das ihm noch nie gefallen hatte, nahm und es wegwarf, obwohl es eben frisch gewaschen war. Und er war dankbar, dass ihm in den Wäldern der Unklarheit plötzlich ein winziges Detail klar und hell geworden war, aber gleich darauf, als er das frisch gestärkte Hemd, nur mühsam geknickt, im Mülleimer sah, wurde ein Teil seiner inneren Organe erschreckt. Es war ein Schreck, der ihn tief mit seinen Eltern und seiner Erziehung verband, weil es in dieser Erziehung verboten war, etwas wegzuwerfen, das noch nicht ganz oder gar zuschanden geworden war. Wirklich glaubte Abschaffel, wieder ein Stück seiner Kühnheit zurücknehmen zu müssen und das Hemd wieder herauszuholen. Ihr erinnerte sich, dass sein Vater während seines ganzen Lebens, das nun im siebzigsten Jahr angekommen war, insgesamt drei Wintermäntel angeschafft hatte und dass es ihn Wochen der Übelkeit und des Verdrusses gekostet hatte, um zweimal, verteilt auf rund vierzig Jahre, einen schadhaft gewordenem Wintermantel wegzuwerfen. Diese Art von Mangelleben hielt der Vater für DAS LEBEN überhaupt. Abschaffel fühlte nichts Gutes, als ihm diese Details einfielen. Einerseits sympathisierte er zunehmend mit der Auffassung des Vaters, weil sein eigenes, Abschaffels, Leben sich immer mehr, ähnlich wie das des Vaters, durch den Mangel definierte; andererseits durchschaute er die Kleinlichkeit, die dieser Auffassung zugrunde lag, ja ihr überhaupt erst die Optik frei machte, und kleinlich wollte Abschaffel nicht sein. Lebten kleinliche Menschen in einer großzügigen Welt, oder mussten die Menschen kleinlich sein, weil die Kleinlichkeit der Welt ihnen keine andere Wahl liest? Abschaffel ärgerte sich, weil er wegen eines weggeworfenen Hemdes, wegen einer lächerlichen Regelverletzung, in solche Zustände und Betrachtungen geraten war; er hob noch einmal den Deckel des Mülleimers hoch, zog das Hemd etwas heraus und verdreckte es mit dem übrigen Inhalt des Mülleimers. Mit der bloßen Hand holte er eine Ölsardinenbüchse aus der Tiefe des Mülleimers und kippte einige Tropfen Öl über das Hemd, darüber leerte er einen Aschenbecher aus. Dann ging er in das Bad, kämmte sich rasch und wütend, entfernte die Haare aus dem Kaum und ließ sie in den Eimer fallen auf das Hemd, und in einer kindischen Trotzwallung spuckte er dreimal über alles darüber.
Neben Banalitäten schildert Wilhelm Genazino auch, was Abschaffel an anderen Menschen beobachtet, und da entsteht die eine oder andere originelle Miniatur in diesem tragikomischen Roman. Ein Buch, das Einsamkeit, Langeweile und Ereignislosigkeit veranschaulicht, kann nicht spannend sein. "Abschaffel" ist keine atemraubende Lektüre, bietet aber ein Panorama des öden Großstadtlebens in den Siebzigerjahren. Auch wenn das Bild subjektiv ist und viele Leser das Leben in einer Metropole wie Frankfurt am Main anders wahrnehmen, gibt der sozialkritische Ansatz zu denken. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag |