Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman (Roman) |
Wilhelm Genazino:
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Inhaltsangabe:Mit siebzehn trudelte ich ohne besondere Absicht in ein Doppelleben hinein. Kurz zuvor war ich vom Gymnasium geflogen und sollte, auf Drängen meiner Eltern, eine Lehrstelle übernehmen. (Seite 7)
Mit diesen beiden Sätzen beginnt der Roman. Die Mutter geht mit dem Siebzehnjährigen zu Bewerbungsgesprächen, und weil er dabei den Mund nicht aufbekommt, redet sie für ihn. Aber er gefällt den Chefs ebenso wenig wie diese ihm gefallen. Es war klar, die Lehre, in die ich früher oder später eintreten würde, war nichts weiter als eine Übergangslösung. In Wahrheit wollte ich schreiben, hauptberuflich, und zwar sofort. (Seite 9) Am 1. April fängt der Junge – er heißt Weigand – als kaufmännischer Lehrling bei einer Spedition an. Etwa zur gleichen Zeit schaut er bei der Redaktion des Lokalblatts "Tagesanzeiger" vorbei, um einige seiner neuen Kurzgeschichten anzubieten. Da fragt ihn der Redakteur Herrdegen, ob er nicht zweimal in der Woche eine Reportage schreiben wolle. Beim ersten Auftrag handelt es sich um einen Bericht über den Dia-Vortrag eines Herrn, der an den norwegischen Fjorden war. Ab sofort führte ich ein Doppelleben. Tagsüber war ich kaufmännischer Lehrling, abends Reporter. (Seite 21)
Schließlich arbeitet Weigand für alle drei Lokalzeitungen, aber weder seine Eltern, noch die Vorgesetzten und Kollegen in der Spedition wissen etwas davon, und jeder der zuständigen Redakteure glaubt, er arbeite nur für ihn. Bald reichen zwei, drei Stunden Nachtarbeit nicht mehr aus, um die Artikel zu schreiben, und die Mittagspause benötigt Weigand, um seine Manuskripte abzuliefern. Der Zeitdruck macht ihm zu schaffen, zumal es angeblich zu seiner Ausbildung bei der Spedition gehört, Eisenbahnwaggons zu entladen und ihm oft vor einer Abendveranstaltung, über die er schreiben soll, nicht genügend Zeit zum Umziehen bleibt. Die Musiker spielten jetzt nicht mehr so sorgfältig, dafür aber ununterbrochen. (Seite 66)
Bei der Heimfahrt im dunklen Bus schlafen fast alle ein. Weigand sitzt ganz hinten neben Frau Kiefer, mit der er seit einigen Wochen in der Registratur arbeitet. Sie ist ungefähr dreißig, verheiratet und bringt hin und wieder ihr zweieinhalbjähriges Kind mit in die Firma. Unversehens küsst Weigand ihren "magnolienartig aufgeblühten Busen". Sie zieht den Rock hoch, rutscht auf ihrem Platz ein Stück nach vorn, lehnt sich zurück und spreizt die Beine. Zwischendurch dösen sie und Weigand immer wieder kurz ein, aber nach einer Weile ist er in ihr drin. Je weiter der Nachmittag voranschritt, desto stiller wurde es zwischen Gudrun und mir. Als sie gegen 18.00 Uhr die Brotkrümel und den Sand von der Wolldecke herunterschüttelte, wusste ich, dass es mit uns beiden zu Ende war. (Seite 86)
Eines Tages erhält Weigand seinen Verdacht bestätigt, dass Linda mit dem Seemann zusammen ist. Kurze Zeit später erfährt er, dass sie sich erhängt hat. Herrdegen gewährt ihm zwei Tage Sonderurlaub, damit er zu der Beerdigung fahren kann, die in Lindas Heimatort an der Nordseeküste stattfindet. Ich dachte, du brauchst eine Frau, eine Wohnung, einen Roman. (Seite 147) Obwohl Weigand sich noch in der Ausbildung befindet, macht der Prokurist ihn zum Vorarbeiter. Zu seinen Aufgaben gehört es jetzt, frühmorgens zu einer Außenstelle des Arbeitsamtes zu fahren und dort geeignete Tagelöhner auszuwählen. Es drängte mich nicht, ein elender Arbeiter zu sein, der noch elendere Arbeiter für brauchbar oder nicht brauchbar befand. Es verlangte mich aber auch nicht danach, beim Tagesanzeiger mehr und mehr zu verdünkeln und am Ende in meinem eigenen Hochmut unterzugehen. (Seite 143) Eine Kollegin von einer anderen Zeitung, die in Kürze heiratet, sucht einen Nachmieter für ihr Appartement und zeigt es Weigand. Das Appartement war kaum mehr als ein Klo mit etwas Umgebung. (Seite 152)
Owohl es ihm überhaupt nicht gefällt, nimmt er es in dem Gefühl, hier einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu können. Als er seinen Eltern mitteilt, dass er auszieht, befürchtet der Vater zunächst, er werde dann nicht mehr die Hälfte seines Lehrlingsgehaltes abliefern. Aber der Junge versichert ihm, er wolle die Familie weiterhin finanziell unterstützen. Als Gegenleistung bietet ihm der Vater an, er könne der Mutter jede Woche seine schmutzige Wäsche vorbeibringen. Ich zweifelte nicht, dass ich mich in einem ungeschriebenen Roman bewegte. Ich sah auf mein Frühstück herunter und wartete auf das Aufzucken des ersten Wortes. (Seite 160) |
Buchbesprechung:
Der Protagonist von "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman" erzählt in der Ich-Form und reiht dabei scheinbar einfache, häufig sehr kurze Sätze aneinander. Dieses Lapidare passt vorzüglich zu der unbeholfenen, zurückhaltenden und unsentimentalen Natur dieses siebzehnjährigen Schulversagers, der Schriftsteller werden möchte und die Mitmenschen im Alltag beobachtet, um darüber zu schreiben. "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman" ist eine Art Entwicklungsroman und spielt um 1960 im Rhein-Main-Gebiet. (Damals war auch Wilhelm Genazino siebzehn Jahre alt und lebte in Mannheim.) Das Leben ist bieder und banal: Die Mädchen schwärmen für den Schnulzensänger Rex Gildo, in den Kinos lacht man über "Peter Alexanders Faxen", in einem Lokal machen sich einige der Gäste bei "Je-ka-mi"-Wettbewerben (von: jeder kann mitmachen) auf der Bühne zum Affen, und ein Warenhaus wirbt mit einer italienischen Woche um Kunden. Es passiert nichts Großes in "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman", aber gerade deshalb gelingt es Wilhelm Genazino, mit viel Liebe zum Detail das Besondere im Alltäglichen einzufangen und es mit leiser Komik und verhaltener Ironie wiederzugeben. Wilhelm Genazino: Bibliographie (Auswahl):
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Wilhelm Genazino: Abschaffel |