Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag (Roman) |
Wilhelm Genazino:
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Inhaltsangabe:Der namenlose Ich-Erzähler ist sechsundvierzig Jahre alt. Seine Lebensgefährtin Lisa hat ihn gerade verlassen und wohnt jetzt bei ihrer Freundin Renate, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hat. Renate ist Lehrerin. Das war Lisa auch, bis sie davon ein Nervenleiden bekam. Lisa hatte es nicht hinnehmen wollen, dass sie mit den Kampfkindern der Gegenwart nicht zurechtkam. Sie hatte geglaubt, sie könnte aus den schlagenden, beißenden und kratzenden Schülern Menschen machen, die ihr selber ähneln. Ein grausiger Irrtum! Ein schleichendes Nervenleiden hat sie nach zwölf Jahren Arbeit zur Berufsaufgabe gezwungen. Zuerst war sie freigestellt, dann beurlaubt, dann frühpensioniert. Lisa ist jetzt zweiundvierzig Jahre alt und bezieht eine Rente dafür, dass sie sich für ihre Ideale, für den Staat, für die Kinder oder für ihre Illusionen ruiniert hat. (Seite 38)
Ihr Bankkonto, für das der Erzähler eine Vollmacht besitzt, löst Lisa offenbar nicht auf; es treffen nur keine Gutschriften mehr ein. Lisa hat wohl einfach ein neues Konto für ihre Rentenzahlungen eröffnet und verzichtet auf ihr altes Guthaben, überlässt es ihm als eine Art Abfindung.
Ich besitze nur ein Sakko, einen Anzug, zwei Hosen, vier Hemden und zwei Paar Schuhe. Ich lebte und lebe, rundheraus gesagt, von Lisas Rente. Meine eigenen Einkünfte sind, ebenfalls rundheraus gesagt, nicht der Rede wert. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen, mir einen soliden finanziellen Hintergrund zu verschaffen [...] Zum Glück leben meine Eltern nicht mehr. Sie würden mich kurzerhand als arbeitsscheu bezeichnen. Mein Vater war besonders stolz, dass er praktisch von seinem sechzehnten Lebensjahr bis zu seinem Tod gearbeitet hat. (Seite 41) Bei seinen Streifzügen begegnet er immer wieder Bekannten, und das Unangenehme daran ist, dass sie ihn an frühere Zeiten erinnern. Beim Anblick Gunhilds denkt er beispielsweise an die langen Wimpern Dagmars, mit der er als Sechzehnjähriger im Freibad auf der Bügeldecke seiner Mutter lag. Vor einem kleinen Zoogeschäft mit schmutzigen Schaufensterscheiben, dessen Besitzer Heftchenromane liest, wird er von Doris angesprochen. Als Kind war sie wegen einer Herzoperation in den USA. Sie hatte ihm später die Narbe gezeigt. Ein anderes Mal sieht er seinen ehemaligen Klavierlehrer Scheuermann, bei dem er vor zweiundzwanzig Jahren eine einzige Klavierstunde hatte. Er war sich dabei selbst so peinlich, dass er gleich wieder damit aufhörte. Dabei rede ich nicht mehr gerne über meine Kindheit. Das Umherschweifen in der Stadt geschieht oft nur deshalb, weil es mir während des Gehens leichter fällt, mich nicht zu erinnern. Ich möchte auch nicht erläutern müssen, warum ich mich nicht mehr gerne an die Kindheit erinnern [...] (Seite 17f) Er beobachtet, wie einer Frau ein Kaugummi aus dem Rucksack fällt. Einige Zeit überlegt er, mit welchen Worten und Gesten er sie darauf aufmerksam machen könnte, aber dann lässt er es sein. [...] ich kann niemanden auf nichts aufmerksam machen. (Seite 13) Es ist ihm zuwider, ... [...] dass das ganze Leben ein pausenloses gegenseitiges Sichaufdrängen ist. (Seite 133) Er stellt an sich eine "Verschwindsucht" (Seite 50) fest und macht sich Sorgen, weil er häufig das Bedürfnis zum Schweigen verspürt. In Wahrheit überfällt mich immer öfter eine Schweigelust, die mir ein bisschen Angst macht, weil ich nicht weiß, ob soviel Schweigen, wie ich es zum Leben brauche, noch normal ist oder vielleicht der Beginn meiner inneren Krankheit, die mit Zerbröckelung oder Zerfaserung oder Ausfransung nur mangelhaft bezeichnet ist [...] Genau wie eine Staubfluse bin auch ich halb durchsichtig, im Kern weich, äußerlich nachgiebig und übertrieben anhänglich und außerdem schweigsam. (Seite 44) Zum Haareschneiden geht er in einen altmodischen, billigen Salon. Margot hat meistens nichts zu tun, wenn er eintritt. Beim ersten Mal löffelte sie gerade einen Teller Suppe, den sie in eines der drei Waschbecken gestellt hatte.
Margot erinnert mich an die Frauen, die ich vor Lisa kannte. Sie passten alle nicht zu mir. Damals gab ich die Vorstellung auf, es gebe irgendwo die "richtige" Frau, und gewöhnte mich an den Schmerz über das dauerhafte Zusammensein mit einer unpassenden Frau. Kurz darauf lernte ich Lisa kennen. Jetzt ist Lisa weg, und ich überlege, ob ich mich nun wieder an Frauen gewöhnen muss, die nicht zu mir passen, mit denen ich aber doch zusammen bin, weil es keine anderen Frauen gibt. Dabei drängt es mich nicht zu einer neuen Liebesgeschichte, weder mit einer passenden noch mit einer unpassenden Frau, aber ich bin auch nicht ganz sicher. (Seite 52) Nachdem Margot ihm die Haare geschnitten hat, sperrt sie den Salon ab und nimmt ihn wie schon häufiger mit ins Hinterzimmer. Während er sich abmüht, sie zum Höhepunkt zu bringen, schweifen seine Gedanken immer wieder ab und es gelingt ihm nicht, sich auf den Akt zu konzentrieren. Ruhelos stützt sie sich mal auf die Hände, dann wieder auf die Ellenbogen [...] Plötzlich dreht sie ihr Gesicht nach hinten und schaut mich an. Ich nehme den Blick als Erlaubnis zum Abbruch des Beischlafs. (Seite 56)
Vor dem Verlassen des Friseursalons legte er 150 Mark auf die Theke, und Margot nimmt das Geld. Es werden schon lange keine Beweise mehr gebraucht, dass man es auf der Welt nicht aushalten kann, aber hier wird gerade wieder einer geliefert [...] Ich versuche, dem Jungen unter dem Tisch zuzuzwinkern, aber es gelingt nicht. Die Frauen bemerken meine Solidarität mit dem Jungen und halten sie für problematisch beziehungsweise unangebracht. Sie rufen den Jungen hoch. Er sitzt jetzt ruhig zwischen den beiden Frauen. Sie schauen mich inzwischen an wie einen frisch entlarvten und gerade noch verhinderten Kinderverderber. (Seite 115)
Bei einem seiner Rundgänge trifft er Regine. Sie hatten zusammen als Interviewer gearbeitet, bis die Agentur die Langzeit-Interviews abschaffte und sie durch kurze Straßenbefragungen ersetzte. Ihre persönliche Beziehung endete, als Regine irritiert merkte, dass sich ihre Brustwarzen nicht mehr aufstellten. Die Geschichte, die es einmal zwischen uns gab, ist in hundert Unschlüssigkeiten zerfallen. (Seite 16)
Schon mit zwölf wollte Susanne Schauspielerin werden. Sie besuchte eine Schauspielschule und erhielt dann auch zwei oder drei kleine Engagements, aber das war vor fünfundzwanzig Jahren. Inzwischen verdient sie ihren Lebensunterhalt als Empfangsdame in einer Anwaltskanzlei
"Zu uns kommen Menschen, die das Gefühl haben, dass aus ihrem Leben nichts als ein langgezogener Regentag geworden ist und aus ihrem Körper nichts als der Regenschirm für diesen Tag." (Seite 105)
Himmelsbach bittet ihn unter vier Augen, beim Generalanzeiger ein gutes Wort für ihn einzulegen. Er habe doch früher für die Zeitung geschrieben. Widerstrebend ruft der Erzähler dort seinen damaligen Chef an. Messerschmidt freut sich, von ihm zu hören, will zwar nichts von dem ewigen Versager Himmelsbach wissen, drängt jedoch den Anrufer, endlich mal vorbeizuschauen, und als er es tut, schlägt Messerschmidt ihm vor, wieder Artikel für den Generalanzeiger zu schreiben. Der Erzähler denkt, das könne Susanne beeindrucken und nimmt das Angebot an. |
Buchbesprechung:
"Ein Regenschirm für diesen Tag" ist ein Roman über einen leisen, unauffälligen Sonderling, der sich, wenn er durch die Stadt (Frankfurt am Main) flaniert, die Zeit nimmt, auch bei alltäglichen Dingen länger hinzuschauen. Er wird nicht, wie die Menschen um ihn herum, von Geschäften getrieben, stellt keine großen Ansprüche, drängt sich nicht auf und lässt sich nicht vereinnahmen. Die schnelllebige Welt der Tüchtigen ist nicht die seine. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Wilhelm Genazino: Abschaffel |