Alison Louise Kennedy: Paradies (Roman) |
Alison Louise Kennedy: Paradies |
Inhaltsangabe:Die Schottin Hannah Luckraft ist sechsunddreißig und seit langem Alkoholikerin.
Inzwischen rolle ich rasch und unwiderstehlich auf die Vierzig zu und fliege ständig aus den Kurven meines Jetzt. (Seite 70) Wenn Hannah sich am Morgen verkatert fühlt, trinkt sie nach Möglichkeit ein Glas Milch mit Cointreau. Das muss man hinunterkippen, bevor die Milch gerinnt. Die erste Dosis ist leicht schockierend – aber um die nächste zu kriegen, würde man über Neugeborene trampeln. (Seite 92) Eines Tages lernt Hannah den ebenfalls alkoholkranken Zahnarzt Robert Gardener kennen. Als er siebzehn war, brachte sein Vater seine Mutter um und wurde dafür eingesperrt. Später änderte Robert seinen Namen. Er ist zwar verheiratet und hat eine Tochter, lebt aber allein. Hannah fühlt sich zu ihm hingezogen und möchte mit ihm schlafen, aber dadurch gerät sie in ein Dilemma: Trinkt sie nicht ausreichend, wird sie dazu nicht in der Lage sein, trinkt sie jedoch zu viel, wird sie am nächsten Morgen nicht mehr wissen, wie es war und sie möchte sich doch in diesem Fall gern daran erinnern können.
[...] ich fühle, dass meine Gedanken sich noch zur Oberfläche emporkämpfen, während der Rest, mein Fleisch, sich überhastet in eine andere Richtung aufmacht, und schon umarme ich Robert, obwohl ich gar nicht bewusst nach ihm gegriffen habe. Mein Kopf jault auf, als ich ihn zu schnell bewege [...] Einmal hat Hannah den Eindruck, dass sie in einem Sessel an einer Kneipentheke sitzt und wundert sich darüber, denn ein Sessel an einer Theke ist ungewöhnlich!
Ich muss nach Hause. Sonst denken die Leute noch, ich sei betrunken, wo ich doch bloß erschöpft bin [...] Hannah trinkt seit ihrer Schulzeit, und mit siebzehn verließ sie ihr Elternhaus. Ihr vier Jahre jüngerer Bruder Simon wurde Arzt. Seine Ehefrau Gillian ist gerade schwanger. Drei Wochen nachdem Hannah und Robert sich vorgenommen haben, keinen Alkohol mehr zu trinken, lädt Simon seine Schwester zu einem vorweihnachtlichem Singgottesdienst ein. Obwohl Hannah eine halbe Flasche Hustensaft getrunken hat, um die dreiviertel Stunde in der Kirche überstehen zu können, hält sie nicht durch. Draußen setzt sie sich auf die Kirchentreppe und trinkt die Hustensaftflasche leer. Hustensaft ist kein Drink, und wenn du keine Drinks trinkst, trinkst du ja nicht wirklich (Seite 110) Schließlich kehren Hannah und Robert doch wieder zu Whiskey und anderen Spirituosen zurück. An einem Wochenende machen sie einen Ausflug und kommen betrunken in ihr Hotelzimmer. Durch blitzartige zahlenlose Berechnungen kam ich zu dem Schluss, dass er sich nicht gegen den Fußboden lehnte, sondern darauf lag, was wiederum bedeutete, dass ich über ihm stand. (Seite 141) Hannah fällt hin und schlägt sich das Gesicht auf. Der Arzt, den sie aufsucht, weist sie in ein Krankenhaus ein. Weil Hannah weiß, dass sie dort keinen Alkohol bekommt und das nicht aushalten würde, geht sie stattdessen nach Hause und bittet ihren Bruder telefonisch um Hilfe. Simon verspricht, so rasch wie möglich zu ihr zu kommen. Natürlich wird er ihre Wohnung nach Spirituosen durchsuchen und alle Flaschen auskippen, die er findet. Deshalb muss Hannah eilig alles austrinken, und das ist gar nicht so einfach, weil sie Vorräte angelegt hat und es ihr schwer fällt, sich an alle Verstecke zu erinnern. – In Simons Haus kommt sie wieder zu sich. Meine Kleider und Schuhe sind natürlich irgendwo anders versteckt, damit ich nicht weg kann. Das ist sehr, sehr vorhersehbar. Das machen sie immer: Mütter, Väter, Brüder, besorgte Partner: egal, wer es ist, am Ende entwickeln sie alle die gleichen Symptome. Sie reden in der dritten Person über dich, obwohl du dabei bist, als wärst du ein Idiot oder ein Hund. Sie vernichten deinen Schnaps, als hättest du keine Disziplin [...] (Seite 153)
Simon und die Eltern legen zusammen, um Hannah zur Enwöhnungskur nach Kanada zu schicken. Ihr Bruder bringt sie zum Flughafen und besorgt ihr die Boarding Card. Vor der Sicherheitskontrolle verabschiedet er sich von ihr. Zum Glück gibt es hier Geschäfte. Vorsorglich hat Simon ihr zwar das Geld aus dem Portemonnaie genommen, aber Hannah bezahlt die Flasche Whiskey mit ihrer Kreditkarte. Nachdem sie in einer WC-Kabine ein paar Schlucke getrunken hat, steigt sie in das Flugzeug. Während des Fluges geht sie einige Male mit ihrer Einkaufstüte zur Toilette – bis die Flasche leer ist.
Es ist ja nicht so, dass ich nicht mitspielen will. Ich versuche es. Ich habe das echte Bedürfnis, ein anderer Mensch zu sein, mehr mit mir selbst im reinen, wenn ich hier rauskomme. Die Lage hatte sich zugespitzt, sie bedurfte einer Korrektur, was bedeutet, dass ich mein schlechtes Benehmen bessern muss. Ich sehe, dass diese Veränderung nötig ist, und mir ist bewusst, dass ich daran mitarbeiten muss. (Seite 183f) Nachdem Hannah es acht Tage ohne Alkohol geschafft hat, ist sie überzeugt, für immer darauf verzichten zu können. Aber dann lügt sie einem gutmütigen Patienten mit Korsakow-Syndrom vor, er schulde ihr Geld, damit er ihr so viel gibt, wie sie für ein Flugticket nach Europa benötigt. Ich muss nur einfach weg sein, bevor sie in mein Hirn und mein Schlafzimmer einbrechen und erwarten, dass ich dabei aufblühe. Das könnte ich nicht ertragen, jedenfalls nicht ohne zu trinken. (Seite 209) Hannah zwängt sich unter dem Maschendrahtzaun hindurch, fährt per Anhalter zum Flughafen und kehrt auf dem Umweg über Budapest nach Heathrow zurück. Am anderen Morgen findet Hannah sich im Frühstücksraum eines schäbigen Hotels wieder. Aus dem Benehmen eines zotteligen, rotblonden, weißbäuchigen Hotelgasts, der hier mit seiner Ehefrau und seinen Kindern wohnt, schließt sie, dass sie sich nachts von ihm ficken ließ. Sie hat wohl ein Zimmer, denn sie trägt einen Zimmerschlüssel bei sich. Bei der Rezeption erkundigt sie sich, ob sie heute abreisen wollte oder nicht und erfährt dabei auch, dass sie mit einer Karte auf den Namen M. H. Virginas bezahlt hat. Wer M. H.Virginas ist und woher sie die Karte hat, weiß Hannah nicht. Froh ist sie jedenfalls, in der Reisetasche in ihrem Zimmer eine Flasche Whiskey zu finden. Dass sie nicht aus der Flasche trinkt, sondern aus einem Zahnputzbecher, hält sie sich zugute.
Und außerdem gähne ich. Es ist wahrscheinlich mit ungeübtem Auge nicht zu erkennen, aber ich beginne langsam und unerträglich von den Knöcheln aufwärts zu gähnen [...] (Seite 212) In einem kleinen Laden sucht Hannah nach Alkohol, findet aber nichts außer drei Dosen Bier. Dazu kauft sie eine Schachtel Streichhölzer, damit der Besitzer nicht denkt, sie sei alkoholabhängig.
Drei morgendliche Dosen Bier = Peinlichkeit. Hannah ist zuversichtlich: Bald werde ich stabil sein. (Seite 216) Dementsprechend bestellt sie bei ihrem ersten Besuch in der Lieblingsbar ihres Wohnortes ein Glas Orangensaft. Robert ist auch da, aber er ignoriert sie ostentativ, denn er ist verärgert darüber, dass sie wochenlang fort war, ohne ihm etwas zu sagen. Hannah will es ihm erklären, aber er ist nicht bereit, mit ihr zu reden oder ihr zuzuhören. Erst nach einiger Zeit gibt Robert nach und versöhnt sich mit Hannah. Er trinkt mit ihr und möchte wieder mit ihr schlafen, aber sie ist überall trocken. Das kommt vom Speed oder was er mir da eingeworfen hat – davon werde ich immer wie eine Eidechse auf dem Bratrost. (Seite 269) Eines Abends werden sie aus einem Restaurant hinausgeworfen. HinterausgangchinesischesRestaurant – fettige Gasse, überall Fett und so ein dicker Geschmack, chemisch, ich versuche zu pissen und nicht hinzufallen, mich nicht schmutzig zu machen, und ich weiß nicht, was los ist, was nass wird. Jeans sindn Problem. (Seite 273) Unvermittelt beginnt Robert, Wasser zu trinken und Obst und Gemüse zu essen. Dieser neue Ernährungsplan lässt seine Konversation nicht unbedingt spritziger werden. (Seite 282)
Er beendet seine Beziehung mit Hannah und behauptet, zu seiner Familie zurückkehren zu wollen.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Hannah glaubt, Robert sei nach Kanada gereist, um sich in der Clear Spring Clinic einer Entziehungskur zu unterziehen. Sie verhökert ihre Möbel und Haushaltsgeräte, um sich ein Flugticket nach Montreal kaufen zu können. Von dort aus will sie sich an die Westküste durchschlagen. Durch Zufall lernt sie in Montreal einen Versicherungsvertreter kennen – Matt Duchamps –, der seine Freundin Dorothy Burnaby mit einem Ausflug nach Vancouver überraschen wollte, sich jedoch inzwischen mit ihr zerstritt. Matt schenkt Hannah die beiden Schlafwagenkarten. |
Buchbesprechung:
Die Protagonistin Hannah Luckraft kommt sich wie im Paradies vor, wenn sie durch eine pittoreske Landschaft fährt, die Haut ihres Geliebten spürt oder Whiskey auf ihrer Zunge schmeckt, aber in keinem Fall handelt es sich um einen dauerhaften Zustand; Paradies und Hölle, Glück und Verzweiflung liegen hier dicht beieinander. "Paradies" ist ein minuziöses, differenziertes und authentisches Psychogramm einer Alkoholkranken, die selbst in ihren schlimmsten Lagen nicht in Selbstmitleid verfällt.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Alkoholkrankheit, Alkoholmissbrauch |