Martin Walser: Ehen in Philippsburg (Roman) |
Kritik: In lose verknüpften Episoden hält Martin Walser der bundesdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft den Spiegel vor. Eine Gesellschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg gerade erst wieder im Aufbau befand, beginnt bereits wieder moralisch zu verfallen. ![]() |
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Inhalt: In den gehobenen Kreisen von Philippsburg dreht sich alles um Karriere, Ansehen, Einfluss und Wohlstand. Leidenschaft ist nicht einmal in den Seitensprüngen der angesehenen Ärzte und Rechtsanwälte zu spüren. Während ein erfolgloser, unangepasster Schriftsteller durch Suizid endet, wird ein ehrgeiziger Parvenü in den exklusivsten Club der Stadt aufgenommen. ![]() |
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Martin Walser: Ehen in Philippsburg |
Inhaltsangabe:
Hans Beumann wuchs als uneheliches Kind einer Kellnerin in Kümmertshausen auf. Seinen Vater hat er nie gesehen. Der Vermessungsingenieur hatte vier Wochen lang in dem Dorf zu tun und in dieser Zeit mit Lissi Beumann ein Kind gezeugt. Als ihre Regel ausblieb, war er bereits nach Australien ausgewandert. In ihrer Verzweiflung suchte Lissi einen Eisenbahner auf, der im Krieg Sanitäter gewesen war und heimlich Abtreibungen einleitete, aber nachdem er seine Frau und die Kinder aus dem Zimmer geschickt hatte, verlangte er von Lissi als Vorleistung Geschlechtsverkehr – und dazu war sie nicht bereit. Ärzte, die sie um Hilfe bat, schwärmten ihr von der Würde der Mutterschaft vor. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Kind auszutragen. "Sehen Sie", sagte Herr Volkmann, "wir hätten uns blamiert, wenn wir ten Bergen gelobt hätten." (Seite 103) Unübersehbar macht Anne ihrem Kollegen Avancen.
Alles, was Anne heute sagte, klang wie eine Aufforderung. Hans suchte einen freundlichen Satz zusammen, probierte ihn einmal in Gedanken und sagte ihn. Anne war glücklich. Er hätte sie gerne geliebt. Aber sie war keine Frau wie Cécile oder Marga. Sie war ein altes Mädchen. Obwohl Hans sie schließlich als Geliebte akzeptiert, sträubt er sich mit immer neuen Ausflüchten gegen ihren Wunsch, zu heiraten. Selbst als sie schwanger ist, versucht er ihr einzureden, dass eine Eheschließung nicht in Frage komme. Anne widersprach bald nicht mehr. Vor allem, als Hans ihre Mutter erwähnt hatte und die Augen der Philippsburger Gesellschaft; als er ihr vorrechnete, wie man diese Eheschließung kommentieren würde; dass sie in den Ruf kommen würde, sie habe Hans nur deswegen geheiratet; und er würde verdächtigt werden, er habe Anne in voller Absicht in diesen Zustand gebracht, um sie zu bekommen, er, der mittellose und unbekannte Journalist die reiche Fabrikantentochter: das würde sein Ansehen ein für allemal vernichten. Heiraten könne man später immer noch, wenn sie wolle, wenn ihre Eltern einverstanden seien und er sich als ein Mann bewährt habe, der eine Familie gründen dürfe ... (Seite 105) Der angesehene Gynäkologe Dr. Alf Benrath, den Hans und Anne konsultieren, weigert sich, eine Abtreibung durchzuführen. Sein Bruder sei Staatsanwalt, er selbst sei im Ärzteausschuss zur Bekämpfung der Abtreibung. Seine Krankenbetten stünden in der Elisabethenklinik, die von katholischen Schwestern betreut würde. Wenn er es Anne zuliebe tue, so sei am nächsten Montag sein Sprechzimmer voll [...] und wenn er es einmal gemacht habe, könne er es keiner mehr abschlagen, weil er erpresst werden würde. Der Gewissensdruck wächst, was tut man, man nimmt Morphium, kommt herunter, wird ein Kloakenarzt, endet im Gefängnis oder Zuchthaus. (Seite 107)
Nach weiteren Fehlschlägen findet Anne endlich einen Arzt, der die Abtreibung vornimmt, aber er reißt den Fetus in einer stundenlangen Operation stückweise aus ihrem Uterus. Seine Neigung zu Cécile brach aus wie eine Krankheit. Aber er hatte sie fast gewaltsam seinen Wünschen unterwerfen müssen. Die Scheu vor dem stadtbekannten Arzt, die Achtung vor seiner Ehe, die Achtung vor Birga auch, die sie mehr als andere Kundinnen schätzte, und die Ahnung, dass sie Alf mehr lieben würde als jeden anderen vor ihm, das alles hatte sie seine Gesellschaft mehr fliehen als suchen lassen. Aber Benrath konnte nicht mehr zurück. (Seite 134) Eine Scheidung kommt für Benrath nicht in Betracht, denn da würde er die Frauen gegen sich aufbringen, und die Männer wären ihm neidig. Inzwischen hält Cécile die Heimlichtuerei kaum noch aus. Aber Benrath war ein stadtbekannter Arzt, hatte eine Abteilung in der Elisabethenklinik, Frauen aus der besten Gesellschaft waren seine Patientinnen, er hatte auf seinen Ruf zu achten, als Frauenarzt mehr als jeder andere, und Cécile musste das verstehen, und sie verstand auch, aber sie hielt es nicht mehr aus. (Seite 117)
Einmal reden Alf Benrath und Cécile kurz davon, dass nur Birgas Tod ihnen helfen könne. Als Birga sich dann aber mit Tabletten das Leben nimmt, endet auch die Affäre. Wenn ich bei Cécile geblieben wäre, räsoniert Dr. Benrath, hätte ich Birga vergessen müssen. "Cécile wusste selbst, dass das ein lächerlicher Versuch geblieben wäre, Cécile wusste, dass Birga uns getrennt hat." (Seite 170) Sie machte kein Hehl daraus, dass es ihr gleichgültig sei, welche Partei Alwin benütze, um nach oben zu kommen, während er es vorgezogen hätte, auch zu Hause so zu sprechen wie er es in der Öffentlichkeit tun musste. Er wäre am liebsten auch vor sich selbst als ein Mann dagestanden, dem es um eine Idee zu tun war, der eine Vorstellung von einem besseren Zustand aller irdischen Verhältnisse hatte, eine Vorstellung, die er als Politiker zum Wohl aller verwirklichen musste. Eine solche Vorstellung, nährt man sie nur langsam genug und mit allen Kräftigen, beflügelt das Bewusstsein, wird zu einer übermächtigen Musik, nach der man selbst tanzen und die übrige Welt tanzen lehren kann. (Seite 204f)
Dr. Alwins Mutter war noch Garderobenfrau im Philippsburger Staatstheater gewesen, sein Vater Buchhalter beim Elektrizitätswerk. Nicht zuletzt die Eheschließung mit Ilse von Salow hatte dem jungen Juristen den Weg nach oben geebnet. Er durfte es sich hoch anrechnen, dass er Ilse nicht mit allem behelligte. Es gab Ehemänner in seinem Bekanntenkreis, die wussten nichts Besseres zu tun, als zu ihren Frauen heimzurennen, um loszuheulen und zu beichten und alles auf die armen Frauen abzuladen! Da war Herr Dr. Alwin schon ein anderer Kerl! Er sagte sich immer wieder: Alwin, das musst du ganz allein tragen. (Seite 174)
Im Augenblick ist Vera seine Geliebte. Sie verdient ihren Lebensunterhalt als Platzanweiserin im Kino und stellt keine Ansprüche an ihn. Gerade deshalb dauert das Verhältnis schon ein Jahr. Und als sie sich jetzt ins Polster fallen ließ, sagte sie: "Man muss die Männer immer wieder daran erinnern, dass Ehefrauen auch Frauen sind." (Seite 233) Während der Fahrt bemüht Alwin sich, Céciles Aufmerksamkeit zu erregen und sucht fortwährend ihren Blick im Rückspiegel, aber sie schaut geradeaus durch die Windschutzscheibe und beachtet ihn nicht weiter. In der Hoffnung, ihr ein wenig Angst machen zu können, erhöht er schließlich die Geschwindigkeit. Cécile schrie auf, Alwin nahm den Blick aus dem Rückspiegel, sah im Bruchteil einer Sekunde noch das Licht, das auf ihn zuschoss, dann folgten zwei harte metallische Schläge. (Seite 235) Er hält an. Der Fahrer eines Kleinmotorrads liegt schwer verletzt auf der Straße. Alwin schimpft auf den angeblich betrunkenen Motorradfahrer, der ihm entgegengekommen und dann vors Auto gefahren sei. Auf keinen Fall will er zugeben, dass er nicht auf den Verkehr geachtet, sondern in den Rückspiegel geschaut hatte und dabei möglicherweise auf die linke Fahrspur geraten war. Da es nach dem Tod des Motorradfahrers im Krankenhaus außer Ilse und Cécile keine Unfallzeugen gibt, hat Dr. Alwin durchaus Chancen, ungestraft davonzukommen. Ilse drängt ihn, sich eine widerspruchsfreie Schilderung des Unfalls zu überlegen. Die Polizei habe angerufen, dass er zur endgültigen Protokollierung in den nächsten Tagen erscheinen müsse, darauf müsse man sich vorbereiten, sagte Ilse, sonst gäbe es womöglich noch Scherereien, er sei doch Rechtsanwalt, er könne es sich nicht leisten, auch nur den geringsten Makel auf sich ruhen zu lassen, bitte, er möge doch bloß einen Augenblick an seine politische Karriere denken, an die Landtagswahlen, es hänge jetzt alles davon ab, dass er rasch und umsichtig handle, dass der Unfall richtig dargestellt werde. Alwin sagte, daran sei er jetzt nicht interessiert. Und starrte in den Regen hinaus. Und in die schwarzen Bäume. (Seite 240) Hans Beumann erhält einen Brief von Berthold Klaff: Er solle mit dessen Büchern und Papieren nach Belieben verfahren, sonst sei kein Besitz vorhanden. Klaff hat sich in seiner Dachkammer das Leben genommen. Man schafft die Leiche fort, Hans trägt Bücher und Kladden in sein Zimmer, und Frau Färber beginnt zu putzen. Eines der Hefte mit Berhold Klaffs Aufzeichnungen trägt den Titel "Eine Spielzeit auf Probe". Der erfolglose Schriftsteller schildert darin, wie er von Verwaltungsdirektor Dr. h. c. Josef Mauthusius als Pförtner des Philippsburger Staatstheaters für eine Spielzeit auf Probe eingestellt wurde. Er erinnert sich, wie er Hildegard heiratete, die Verkäuferin in der Buchhandlung, die ihn Bücher und Zeitschriften durchblättern ließ, obwohl er sie nicht kaufen konnte. Aber er enttäuschte sie: Er wurde kein berühmter Schriftsteller, und es gelang ihr nicht, seinen Ehrgeiz zu wecken. Manchmal stelle ich mir vor, dass es schön wäre, ein Mann zu sein, der "vorwärts" kommen will, der seine Frau "liebt", Kinder will und in seiner Familie aufgeht. Aber ich darf diesem Wunsch nicht nachgeben. Das ist der Wunsch, ein anderer zu sein. Wenn ich mich ganz von diesem Wunsch durchdringen lasse, muss ich aufhören zu leben, denn ich habe keine Kraft, jener andere zu werden. also ist der Wunsch, ein anderer zu werden, eine Versuchung, sich umzubringen (Seite 254)
Hildegard verließ ihn, und dann verlor er auch noch seine Stelle beim Philippsburger Staatstheater. |
Buchbesprechung:
Martin Walsers Debütroman "Ehen in Philippsburg" spielt in den Fünfzigerjahren in der Bundesrepublik Deutschland. Der erste Abschnitt ("Bekanntschaften") wird aus der Perspektive des mittellosen Hans Beumann erzählt, der gerade sein Studium abgeschlossen hat und in der fiktiven Stadt Philippsburg eine Journalistenkarriere anstrebt. Der am Ende dieses Kapitels eingeführte Gynäkologe Dr. Benrath ist der Protagonist des nächsten Kapitels ("Ein Tod muss Folgen haben").
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Martin Walser: Die letzte Matinee |