Die Tage, die uns nicht gehören
07.11. 2012 | Sieben Jahre sind inzwischen vergangen, seit Amir Shaheens letzter Lyrikband „Keine Wendemöglichkeit“ (Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2005) erschien, und ich muss zugeben, dass ich sieben Jahre mit zunehmender Ungeduld auf eine Neuerscheinung gewartet habe. Shaheens Bücher gehören zu den wenigen, die ich in regelmäßigen Abständen wieder aus dem Regal nehme um zu blättern und zu lesen. Das mag daran liegen, dass wir einen ähnlich ...
Vom großen Leuchten geblendet
06.11.2012 | Andreas Stichmann war bei den diesjährigen Bachmann Tagen der erste Kandidat, bei dessen Text die Jury ein gewisses Wohlwollen zeigte, der Ausschnitt aus dem Roman „Das große Leuchten“, der jetzt vorliegt, wurde als vielschichtig angesehen, die Juroren konnten sowohl die Sehnsucht nach Familie, als auch den Einstieg zur Geldbeschaffung als versuchten Wiedereinstieg in die Normalität werten. Diese Mehrdeutigkeit ist ...
Indianer in St. Petersburg
05.11.2012 | Die Reihe P des Wunderhornverlags ist eine sichere Bank. Bei Interesse an internationaler Poesie kann man hier geradezu blind zugreifen und landet einen Treffer. Jetzt erschien ein Bändchen mit Texten des Russen Igor Bulatovsky.Bei der Lektüre dieses Buches gehen mir einige Dinge durch den Kopf, vor allem aber verspürte ich plötzlich eine gewisse Dankbarkeit meiner Russischlehrerin Frau Rotstein gegenüber, die mir, der ich beim Erlernen von Sprachen vollkommen untalentiert (faul) war, ...
Ist Slam-Poetry auch Lyrik?
04.11.2012 | Immer wieder kommt die Frage auf, ob Slam-Poetry denn nun Lyrik ist oder nicht. Ob man sie dieser hochangesehenen aber höchst selten gelesenen literarischen Gattung zuordnen oder eher unter Comedy / Kabarett einordnen sollte, ob sie nun U oder E ist. Und zugleich, ob man diese Frage überhaupt stellen muss, ob man nicht einfach akzeptieren kann, dass Slam rein formal weitestgehend dem Gedicht zuzuordnen ist, sich aber weniger an den einsamen ...
Die Hunde der Reichen und Schönen
03.11.2012 | Es ist die Straße der Schönen und Reichen: Die Fernsehmoderatorin wohnt dort mit dem angesagten und damit teuren Tierarzt, der Biologieprofessor und die Kunsthistorikerin. Die reiche Anwaltswitwe mit dem Hang zur Esoterik lebt selbst auf Mallorca und lässt ihr Haus vermieten und staunt nur, dass, außer einem schwulen Paar, die Mieter es nicht länger als ein paar Monate in ihrem Haus aushalten: man müsste es mal „auspendeln“, meint sie. ...
Alles unter einem Hut
02.11.2012 | Unterschiedliche lyrische Temperamente unter einen Hut bringen? Mit Lyrik hat man wenig am Hut? Ich ziehe den Hut vor diesen Texten? Besser der Hut ist verrückt als der Kopf? Der Strohhut auf dem Cover, welcher ein wenig das runde, gelbe Logo um das „a“ in „allmende“ in eine andere Dimension variiert, läßt viele Interpretationsmöglichkeiten zu, ist aber vielleicht einfach nur das, was er ist, nämlich ein „Chevalier-Strohhut, genäht von José F. A. Olivers Mutter ...
Stammsilben in Neopren
02.11.2012 | Es geht um die Null und die Eins. Nicht weniger. Das Rangeln der Zustände. Das Flackern und die Stille. Das Licht und die Dunkelheit. Das Gegen und das Für. Die Reibflächen der Welt. Wolfram Malte Fues’ ambitionierter vierter Gedichtband lässt sich als Expedition begreifen, als Experimentier-Anordnung, Buchstabenlabor zugleich, der Zumutung des Grundsätzlichen wie der eigentlichen Zumutung, dem Gegenwärtigen, zu begegnen. ...
Alles muss beschämt werden
01.11.2012 | Ins Schweigen gehen. Ein Satz, so rätselvoll wie die meisten Menschen, die ihn benutzen. Ein laufender Widerspruch, das Schweigen anzukündigen. Warum nicht einfach losschweigen, still sein, Fresse halten? Vielleicht weil das Schweigen eine beredete Art ist, zu sagen: ich schäme mich nicht mehr (für was auch immer). Wer sich schämt, muss sich verteidigen, früher oder später reden. Das ganze Schamzeug muss also raus ...
Vom Stillstand durch Fortschritt
31.10.2012 | Es kommt nicht häufig vor, dass ein Buch, als unterhaltsam und fundiert angepriesen wird, und dieses Versprechen tatsächlich einhält. Cordelia Fine ist Neurowissenschaftlerin und lebt und lehrt derzeit in Australien. Offensichtlich hat sie sich so sehr über die Vorurteile geärgert, die die Neurowissenschaften nicht relativieren, sondern vielmehr [ohne Basis] verhärten, dass ihr das seltene Kunststück gelungen ist, tatsächlich diese Art von Buch zu schreiben: unterhaltsam und fundiert. ...
Knapp vor Jubiläum
30.10. 2012 | Der Münchner Literaturzeitschrift außer.dem stehen im nächsten Jahr zwei Jubiläen ins Haus, namentlich die zwanzigste Ausgabe und der fünfzehnte Jahrgang. Umso angebrachter scheint es, schon jetzt grundsätzlich und punktuell etwas zu sagen, auf dass der in der Kulturindustrie so seltsam wuchernde Wirbel um Zahlen, die durch fünf und besser noch durch zehn glatt teilbar sind, nicht den Jubilar überstrahlt und da Überbelichtung einbricht, ...
Sushi und Forellen
29.10.2012 | Der Herausgeber des Buches verneigt sich vor Brautigan, und ich verneige mich gern mit. Auch wenn das Büchlein eher zum Anfüttern dient als zum sattessen. Aber das ist, scheint mir, auch seine Intention. Es war Anfang der achtziger Jahre, Brautigan lebte also noch, aber wir, meine Freundinnen und Freunde und ich, wussten wenig von ihm, nur sein Forellenfischen in Amerika galt uns als Pflichtlektüre und im Gegensatz zu Kerouacs On the road, ...
Bessere Zeiten
29.10.2012 | Im letzten und gleichzeitig titelgebenden Gedicht des schmalen, sowohl optisch als auch inhaltlich schönen Gedichtbandes „La Foto“, geht es um ein „Foto aus besseren Zeiten. Wir beide in einem Park in einem anderen Land. Das Foto, auf dem sie auf ewig nicht ihn, der sie umarmt, anblickt, sondern den Unbekannten, der es schoss. "Kurz, ein Gedicht, das nahezu alle Stichpunkte für eine Besprechung beinhaltet. ...
»Ein unerträgliches Lesewesen«
28.10.2012 | Wieder einmal war Clemens J. Setz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises mit einem Roman vertreten. Und wieder einmal ist ihm der Preis für den »besten deutschsprachigen Roman des Jahres« nur knapp vorenthalten worden. Handelte es sich 2009 noch um die große Familienerzählung „Die Frequenzen“, stand diesmal „Indigo“ zur Wahl – ein bei Suhrkamp erschienener Roman, welcher sich eines seltsamen, in esoterischen Kreisen bekannten ...
Endlich trägt der Palmbaum Früchte
26.10.20 | Man könnte auf den Gedanken kommen, besonders wenn man in den Straßen Berlins die Legionen der Flyer und Plakate unter den Augen vorbeiziehen lässt, dass derzeit weniger produziert als vielmehr kuratiert wird – nicht nur Ausstellungen, auch Theater- und Musikveranstaltungen, gar Mixtapes. Dass diese Kulturtechnik, oder vielmehr: Kulturmaschine auch auf den Gefühlshaushalt und auf die Restposten metaphysischer Hoffnungen auszugreifen ...
Coole Jungs
26.10.2012 | Don Winslow spinnt an seiner Surfer- und Kiffergeschichte weiter. „Kings of Cool“ ist damit zwar politisch nicht perfekt, aber eine unterhaltsame Krimilektüre. Amerikaner sind wirklich zu beneiden. Diese merkwürdige und in großen Teilen unliterarische Kultur bringt seit Jahrzehnten immer wieder aufs Neue Schreiber hervor, über die man nur staunen kann. Was soll man sie alle auflisten? Nun eben Don Winslow. ...
Buch der Körper. 24 Kommentare.
25.10.2012 | a. Am Anfang ist das Wort, oder auch: Alpha (Aleph, und so fort). Der erste Mensch: Adam (mit agglutiniertem a heißt das auch: Acker). Aleš Šteger orientiert sich in seinem fünften Lyrikband, im slowenischen Original vor zwei Jahren erschienen, am Alphabet. Der Ordnung der Buchstaben also, dem Fundus des Schreibens überhaupt. Er geht von bis →Z jedem Buchstaben auf den Grund und assoziiert sie alle miteinander. ...
Der Abbau und das Fortsein
24.10.2012 | Westfalen war mir immer schon ein Rätsel. Lange Zeit wusste ich gar nicht, wo es eigentlich liegt, und im Grunde weiß ich es, wenn ich ehrlich bin, heute noch nicht. Ich kenne Westfalen im Grunde nur aus der Literatur und dem Geschichtsunterricht (Westfälischer Friede). Und alle Westfalen, die ich getroffen habe und die sich zu ihrer Herkunft bekannten, waren von dort weggezogen. ...
Zum Verschenken und Wiederentdecken
24.10.2012 | Die Büchergilde Gutenberg muss als Verlag für schöne, ja bibliophile Bücher nicht mehr vorgestellt werden. Bereits seit 1924 besteht die einst in Leipzig gegründete Buchgemeinschaft, aus der 2002 der eigenständige Verlag Edition Büchergilde hervorging. Im Jahr des zehnten Geburtstags gibt der Verlag nun eine neue Reihe illustrierter Bücher heraus, die im wahrsten Sinne des Wortes kleine Schätze sind. Die Bände der Reihe „Petits Fours“ messen ...
Nach allen Seiten
22.10.2012 | Das Konzept begeistert mich sogleich und überzeugt durch die gelungene Umsetzung: Ein Autor schreibt ein Gedicht, eine Illustratorin zeichnet dazu, eine Autorin schreibt zu der entstandenen Zeichnung und reicht es dem nächsten Illustrator weiter... ein Ketten-Werk. Die Beiträge dieser Anthologie sind ein bisschen wie Briefe, weil sie so direkt sind, so spontan anmuten, z.B. Benswerks filligrane, floristische Zeichnung, deren zerfetzter Rand den Ringbuchblock verraten, ...
Eingeseifte Dämonen
21.10.2012 | Vor den Soaps im Fernsehen gab es die Soaps im Radio. Es waren Familienserien „Pension Spreewitz“ aus Westberlin, „Neumann 2 x klingeln“ in der DDR und in Österreich gab es „Die Radiofamilie Floriani“. Die beiden erstgenannten konnte man vor nicht allzu langer Zeit im Sender Deutschlandradio Kultur in origineller Form wieder hören. Je eine Folge der Ost- und eine der Westserie wurden gekoppelt und leicht ironisch aus heutiger Sicht kommentiert. ...
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