Es war kalt, und es
regnete, als ich mich auf die Suche machte nach Spuren von Harry Gelb.
Achtundzwanzig Jahre war es her, dass ich ihm zum letzten Mal begegnet war.
Damals lebte er in Istanbul und hing an der Nadel. Man kann sagen, ich hatte
Glück bei der Fahndung nach Harry Gelb. Innerhalb einer Stunde fand ich in einer
langen Straße im Stuttgarter Westen drei Zeichen, die Harry Gelb an Hauswänden
hinterlassen hatte. Freundlicherweise bringt er seine Botschaften in Augenhöhe
an, das erleichtert die Schnüffelei ungemein.

Der Name Harry Gelb ist nicht unbekannt in der Stadt, nicht bei Menschen mit
offenen Augen. Ich weiß nicht, wer sich dahinter verbirgt, und will es auch
nicht wissen. Nicht jedes Geheimnis muss gelüftet werden. Eine Stadt braucht
Geheimnisse. Rätsel, die den Menschen Freude machen.

Der Unsichtbare, der sich Harry Gelb nennt, hinterlässt an Hauswänden und
anderen Mauern kleine Kunstwerke. Er arbeitet in der Stadtmitte, im Westen, im
Osten. Bilder mit seinem Namen findet man aber auch in Frankreich, Singapur, auf
der ganzen Welt. Die Kunstwerke in Stuttgart lassen darauf schließen, dass er
mehrere handwerkliche Disziplinen beherrscht. Er ist kein üblicher
Graffiti-Artist. HG befestigt steinerne Kacheln mit laminierten Fotos und
signiert sie in einer feinen Handschrift. Manchmal liest man auch in
Blockbuchstaben »Harry & Gelb«. HG ist Keramiker, Fotograf, Zeichner, Poet.
Vielleicht ist Harry Gelb eine Frau. Vielleicht auch ein global vernetzter
Stadtverschönerungs-Trupp.

Die Bilder, Kreationen der Street Art, der Straßenkunst, sind rechteckig, etwa
zehn, zwölf Zentimeter breit, manchmal quadratisch. Ich habe am Tag nach meiner
Entdeckungstour einen Ladenbesitzer in der Schwabstraße gefragt, ob er das
schöne Relief an seiner Hauswand schon bemerkt habe. Auf dem steinern gerahmten
Foto sind winzige Menschenfiguren in einer weiten, backsteinroten Steppe zu
sehen, am Horizont blau-weiße Wolkengebilde. Nein, sagte der Ladenbesitzer und
ging hinaus, um die Sache zu prüfen. Das Werk müsse brandneu sein. Vor zwei
Wochen erst habe er Girlanden aufgehängt, da habe er nichts gesehen. Er
versprach mir, Harry Gelbs Botschaft auf keinen Fall zu entfernen, jedenfalls
solange kein Schnüffler vom Denkmalamt Einspruch erhebe. Ich fragte auch eine
Geschäftsfrau, ob sie Harrys Hausschmuck neben ihrer Tür gesehen habe. Nein.

Ich weiß nicht, wie lange Harry Gelb schon auf Tour ist in der Stadt. In diesem
Jahr hat man immer wieder von ihm gehört. Es musste allerdings Weihnachten
werden, bis ich meine Regale durchsuchte, weil ich mir sicher war, Harry Gelb
irgendwo zwischen zwei Buchdeckeln zu finden.

Harry Gelb, daran erinnerte ich mich, ist das Alter Ego von Jörg Fauser, einem
großartigen Erzähler, Reportagenschreiber, Essayisten, Lyriker, Songtexter. Nach
langer Suche fand ich im Regal Jörg Fausers Roman »Rohstoff«, 1984 erstmals bei
Ullstein erschienen. Der Umschlag fehlte, der Rest ist gut erhalten. Die
Geschichte beginnt 1968 in Istanbul. Harry Gelb, süchtig nach Rohopium, nach
jedem Stoff, der sich auftreiben und in die Venen pumpen lässt, haust in der
Dachbude eines heruntergekommenen Hotels. Er will einen Roman schreiben. Sein
Zimmerpartner ist Ede. Im ersten Kapitel des Buchs erfährt man: »Ede war ein
kräftiger Bursche aus Stuttgart, den seine Sucht allmählich von innen ausbrannte
– der Knochenbau war immer noch stabil, aber alles Gewebe, Fett, Muskeln
reduzierten sich auf das Notwendigste.«

Wie es der Teufel will, ist Stuttgart-Ede Maler. Künstler. »Das meiste Geld von
dem, was wir gelegentlich machten, ging für Leinwand und Farben drauf. Ede hatte
das, was man einen unverbrauchten Stil nennen könnte, er knallte seine Valeurs
nur so auf die Leinwand, und nachdem er die abstrakte Anfangsphase hinter sich
hatte, ging er zu Figuren und Landschaften über.«

Ede aus Stuttgart, heißt es weiter, malte umso farbenfroher, je düsterer seine
Aussichten wurden. Und anscheinend kannte er seine alte Heimat. Als in Istanbul
die Nachricht eintrifft, in den Straßen von Europa breche die Revolution aus,
sagt Ede: »Glaub mir, ich kenn die, die jetzt Revolution machen. Das sind die
Großschwätzer aus dem Club Voltaire. Bevor die in Stuttgart eine Revolution
machen, hängen meine Bilder im Museum of Modern Art.«

Keine Ahnung, was aus Ede geworden ist. Er könnte noch leben und in den Straßen
von Stuttgart Bilder mit Figuren und Landschaften und der Signatur Harry Gelbs
hinterlassen. Egal. Ich bin dem unbekannten Künstler Harry Gelb sehr dankbar.
Nicht nur, weil ich heute beim Herumgehen jede Hauswand absuche und mich über
jeden Treffer diebisch freue. Harry Gelb hat mich an Weihnachten dazu
gebracht, zu Jörg Fausers Büchern zurückzukehren, zu diesen leidenschaftlichen,
liebevollen, ironischen, wortschatzreichen, präzisen Texten. Vor drei Jahren ist
sein Gesamtwerk bei Diogenes neu aufgelegt worden, und zum Glück habe ich was
davon im Haus.

Ede aus Stuttgart hielt übrigens nicht viel vom Schreiben. »Ach, Schreiber«,
sagt er in »Rohstoff«. Bei denen laufe alles nur übers Hirn. »Dagegen die
Malerei – so direkt ist nicht mal die Musik.«

Der Schriftsteller Jörg Fauser wurde am 27. Juli 1987, in der Nacht nach seinem
43. Geburtstag, auf der A 94 bei München von einem Lastwagen erfasst. Er war
sofort tot. Was er auf der Überholspur der Autobahn gesucht hatte, wurde nie
geklärt. Näheres weiß vielleicht Ede aus Stuttgart.
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