• Charlotte Chronicles.24 [xxl seduction]

    Wie viele andere Dinge verkaufen sich auch Essen und Getraenke in den USA mehr ueber ihre Aufmachung als den aktuellen Inhalt. Ueber den beruechtigen [Naehr]Wert des Essens in den USA brauche ich wohl nicht viele Worte zu verlieren. Wahre Meisterwerke sind nicht unbedingt die Gerichte, sondern ihre Ankuendigung. Man muss nicht einmal edle Restaurants aufsuchen, damit einem beim Lesen der Speisekarte das Wasser im Mund zusammen laeuft. Dass sich hinter der >chicken breast marinated in our signature Honey Barbecue Sauce, topped with tasty melted Monterey Jack cheese and exquisitely smoked bacon, served in a sesame bun< lediglich ein Chicken Burger nur knapp ueber McDonald’s-Niveau verbirgt, glaubt man mit hungrigem Magen einfach nicht und erliegt den von Marketingexperten formulierten Verlockungen. Auch der visuelle Aspekt dominiert ueber gesundheitliche Ueberlegungen: Aepfel werden in vielen Supermaerkten mit einer feinen Wachsschicht ueberzogen, damit sie genauso glaenzen wie die perfekten Zaehne der potentiellen Konsumenten.

    Die Grundversion vieler Produkte ist relativ teuer, wer aber die vielen Zusatzangebote wahrnimmt, bekommt einen guten >deal< fuer das Gesamtpaket; so als gaebe es eine >low consumption tax<. Ein >medium coffee< bei Starbucks oder Caribou Coffee ist erstens ziemlich klein und zweitens verdammt teuer. >Large coffee< hoert sich dagegen nicht nur besser an, sondern ist auch kaum teurer. Fuer wenige weitere Cents koennte man gleich zu einem >extra large coffee< greifen, genauso wie man beim Kauf eines Burgers durch eines der diversen >Combo<-Angebote gegen einen geringen Aufpreis noch >French Fries< und ein Getraenk dazu bekommt. Die Zusatzkosten fuer extra Kaese und Schinken sind ebenfalls so laecherlich klein, dass ein Verzicht darauf aus oekonomischer Sicht eine Suende waere. >Double meat< ist nur ein paar weitere Cents entfernt und eh man sich versieht, kauft man nicht nur Kaffeebecher und Burger sondern auch Kleidung im XXL-Format.

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    Das Angebot ist so vielfaeltig, dass die Wahl oft zur Qual werden kann. Staendig muessen neue Produkte auf den Markt kommen, da die alten schon nach kurzer Zeit langweilig geworden sind. Eine Bestellung, a la >ein Kaffee, bitte<, wie ich sie aus dem letzten Jahrtausend in Deutschland kenne, funktioniert vielerorts nicht mehr. Wer nicht gleich ein hippes Produkt wie die >Mint Condition< (a delicious blend of mint, espresso, cocoa, and whipped cream) bestellt, muss sich durch einen langen Fragenkatalog arbeiten:
    >From which region would you like your coffee?<
    >Hm, let me think… heard that Colombian coffee is good.<
    >Absolutely, Sir. Dark roast or a multi-region blend?<
    >I don’t know. Just give me coffee!<
    >I sure will, Sir. What type of milk would you like with your coffee?<
    >I guess coming from a cow.<
    >Skim milk, vitamin D, cream or low fat?<
    >Forget it. Do you have tea?<
    >Sure, we have Chai Tea Latte. A fantastic blend of oriental spices. What kind of milk would you like with your Chai?<
    >Aarrgh…<

  • Die Zukunft ist jetzt

    Ein Verbrechen zu verhindern, bevor es geschieht: Klingt gut! Potentielle Kriminelle zu bestrafen, bevor sie eine Untat begehen: Klingt eigentlich auch gut! Prophylaxe hat sich schon immer bewaehrt. Jemanden zu verurteilen fuer etwas, dass er noch gar nicht getan hat, aber ganz sicher tun wird: Ist verstaendlich. Aber die Tat wird dann gar nicht stattfinden, er wird also bestraft fuer etwas, das in der zukuenftigen Gegenwart ueberhaupt nicht geschieht…? Berliner Gazette-Lesern duerften solche Gedanken bekannt vorkommen: In seinem juengsten Beitrag erzaehlt David Rice, US-amerikanischer Si-Fi-Satiriker, die Geschichte vom zweijaehrigen Jake Fritter, der dank neuer Technologien eines in der Zukunft stattfindenden Mordes schon jetzt ueberfuehrt werden konnte.

    Das Ganze funktioniert ungefaehr so: Ein PC der Gegenwart wird mit einem zukunftsbasierenden PC verknuepft – das so genannte Zeitverknuepfungsnetzwerk ist aktiviert. Dort wird die Anfrage aus dem Hier und Jetzt bearbeitet und die entsprechende Information zurueck in unsere Zeit geschickt. So konnte man beweisen, dass Jake Fritter in 30 Jahren ein verbrecherisches Leben fuehren und, sollte dem nicht sofort Einhalt geboten werden, sich vor Gericht des Mordes verantworten wird muessen. Ergebnis: Das Opfer eines potentiellen Moerders wurde gerettet. Die Idee der Zeitverknuepfung liegt auch Rice’ Projekt Future Feed Forward zugrunde. Nur geht es hier nicht um praeventive Verbrechensbekaempfung, sondern um ueberraschende Perspektiven auf die Gegenwart. Entsprechend spielt sich bei FFF alles in der Zukunft ab: The future is our product. We sell tomorrow’s information today. Unter diesem Motto bieten sich dem Besucher Nachrichten im Zeitungsstil an.

    Im Artikel Bush II Never President aus dem Jahr 2081 erfaehrt man beispielsweise, dass Bush laut einer langjaehrigen Studie niemals der 43. Praesident der USA gewesen ist. Einen groesseren Ueberblick ueber die kuenftigen Ereignisse bis zum April 2202 bietet die Timeline. Das alles ist nun aber nicht einfach nur dazu da, um bestaunt zu werden. Vielmehr wirkt es bisweilen so, als wollten diese Informationen, die quasi unsere Kinder und Kindeskinder uns liefern, den Leser aufruetteln sollen: Wenn wir wissen, was geschehen wird, taeten wir doch gut daran, dieses oder jenes zu verhindern, bzw. zu foerdern? Doch was ist, wenn es gar nicht die Zukunft ist, die da zu uns spricht? Sondern unsere eigene Gegenwart, ad absurdum? (Anmerk. d. Red.: Geben Sie mal David Rice als Stichwort in der Volltextsuche ein; dort finden Sie einige Texte von ihm, die bei uns bereits auf Deutsch erschienen sind und sich noch immer so frisch lesen wie gestern.)

  • Der Leser von morgen: Subcomandante Marcos, Geert Lovink und Web 2.0

    Was haben Subcomandante Marcos und Geert Lovink über die Zukunft des Lesens zu sagen. Krystian Woznicki hat sich im Web 2.0 nach Antworten umgeschaut. weiterlesen »

  • Warum ich Luhmann verstehe?

    Erstmal. Ich verstehe gar nix. Luhmann ist, sozialisationsbedingt, baeh (kurzes >ae<). Was ich dann verstehe, ist so banal, dass es kaum zu glauben ist, dass das vorher niemand so gesagt haben soll. Zum Beispiel: Beobachtet man das reformierte System, hat man den Eindruck, dass das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs fuer weitere Reformen ist. (Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 166.) Das entspricht so recht eigentlich der normalen Erfahrung. Aber selten hat man es gelesen. Wahrscheinlich ist es nicht empirisch nachgewiesen und daher erst mal nicht glaubwuerdig.

    Ueberhaupt mache ich die Erfahrung, dass, wenn man beispielsweise den Adorno zur Theoretisierung der praktischen Welt heranzieht, dies von der angesprochenen Seite als >alte 68er<-Sache abgetan wird. Die Welt sei nun mal heute anders. Nicht wahr. Und all das gildet eben nicht mehr. Sagt man dann aber sowas wie Derrida oder Luhmann, Bourdieu oder Habermas, dann wird man ernst genommen. Denn die sind ja noch halbwegs aktuell. Die Kraft des Arguments steigt mit dem Label. Also Adorno, ich meine, Luhmann: Die wichigste Ressource der Reformer scheint daher eine Leistung des Systemgedaechtnisses zu sein, naemlich das Vergessen. (Ebd. S. 167.)

    Man kann diesen ganzen Passus, Seiten 165-167, wie eine einzige Satire lesen. Unmittelbar prickelnd, nach links und rechts gleichermassen austeilend. Intelligente Verarsche hoere ich da aus dem Hintergrund murmeln. Sind Luhmann und Loriot am Ende die gleichen Personen? Also, ich verstehe diesen Luhmann mittlerweile sehr, wenn ich mal ueber den Spezialjargon hinweggehe. Oder habe ich nicht doch nur wieder Adorno zitiert? Das wuerde mich jetzt gar nicht wundern. Nicht: Isolierte paedagogische Reformen allein, wie unumgaenglich auch immer, helfen nicht. (Luhmann oder Adorno, na einer von beiden bestimmt).

  • Unterschriften gegen die Vereinzelung

    Vor kurzem ging ein Aufruhr durch New York: Die haesslichen tags in der Subway sind wieder da! Nachdem lokale Graffiti-Kuensler schon lange die Finger davon lassen die U-Bahn mit ihren Markierungen zu verzieren, sind es nun Touristen (Nicht-New-Yorker), die nachts in Bahnhoefe einbrechen und ihre Botschaften hinterlassen. Diese werden dann mit der Digicam abgeknipst und auf YouTube online gestellt – so verbreitet sich der fame schneller. Unter den neuen tag-Kuenstlern sind auch viele Deutsche, wie zum Beispiel Biser, der so subtile Nachrichten hinterlaesst wie Hi from Berlin!. Aufgrund dieser hohen Deutschquote, hat die New York Times mal eben den Neologismus guten – tagger kreiert. Mit dem Zusatz: Verschwindet schnell wieder!.

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    Dass das tag-movement in Deutschland schon eine Evolutionsstufe weiter ist, hat im Big Apple allerdings noch keiner zur Kenntnis genommen. Immer diese Selbstbezogenheit! Der Kuenstler Stefan Beck laesst sich davon nicht beirren. Er hat zusammen mit The Thing das Projekt tagcity gestartet. Hier hinterlaesst man keine Kritzeleien, sondern Barcodes in oeffentlichen Raeumen. Diese koennen mit einem internetfaehigen Handy entschluesselt werden. Der Handynutzer kann auf diese Weise etwas ueber die Geschichte der getaggten Orte erfahren und selbst Kommentare hinterlassen. Demnaechst soll es auch moeglich sein, Videobotschaften oder Musik zu taggen.

    Falls tagcity irgendwann mal in meiner Heimatstadt Pritzwalk Einzug halten sollte, koennte ich einen tag an jenem Baum hinterlassen, unter dem ich damals meinen ersten Kuss bekam. Die entschluesselte Botschaft wuerde jenes Gedicht preisgeben, das ich damals aus diesem Anlass geschrieben hatte. Frueher haetten wir vermutlich ein Herz in den Baum geritzt, schoen krakelig mit unseren Initialen in der Mitte. Die Zeiten aendern sich halt. Vielleicht sollte man das auch mal den New Yorkern fluestern – oder besser: taggen. Nicht das die sich eines Tages wundern, dass die Graffitis verschwunden sind, und alle nur noch mit ihren Handys beschaeftigt sind, die Stefan Beck mit seiner tagcity-Software infiziert hat.

  • Geduld für Teilhabe

    Entschleunigung und nicht Beschleunigung lautet das Gebot der Stunde. Entgegen der haeufig geaeusserten Prognose vom Wettlauf gegen die Zeit glaube ich das. Und das schreibe ich auch, obwohl ich menschliche Grundtechniken wie Reden, Lesen, Essen und Gehen schnell taetige und mich Menschen mit langsamen Zungenschlag in Stress versetzen. weiterlesen »

  • Zeit neutralisieren

    Bei der “Zeitspar-Show”, unserem juengsten experimentellen Buehnenformat im “nbi”, ging es uns darum, einen Abend zeitneutral auszugestalten. Hintergrund war unser schlechtes Gewissen. Ueber die Jahre hatten wir unserem Stammpublikum sehr viel Zeit mit unausgegorenen und schlecht vorbereiteten Shows gestohlen. Von dieser Schuld wollten wir etwas abtragen, was uns gelungen ist. Die Show sollte mehr Zeit einsparen, also mehr einbringen, als sie kostet. Am Ende stand einer Brutto-Dauer von einer Stunde und zwanzig Minuten eine Netto-Zeitersparnis von mehreren hundert Jahren gegenueber. Das Ganze wurde multipliziert mit der Zuschauerzahl. Erreicht haben wir das ueber ein knackiges “Studium generale”, sowie eine Reihe Zeitspartipps, die sich aufsummierten, wie zum Beispiel “beim Losgehen von der Tuer abstossen” oder “warten, bis der Film rauskommt.” weiterlesen »

  • Heute abend: Possible Time

  • Charlotte Chronicles.23 [land of plenty]

    Zu den beliebtesten Beschaeftigungen in grossen Teilen der Welt gehoert das so genannte >America Bashing< – das scharfe Kritisieren >der Amerikaner<. Nun mag es zu vielen Kritikpunkten eine sachliche Grundlage geben, doch ist diese generalisierte Kritik oft stark vereinfachend. Vielen Menschen, die dabei Regierung und US-Buerger in einen Topf werfen, ist nicht bewusst, wie unterschiedlich auch in den USA die Meinungen zu den entsprechenden Themen sind. Das haeufig sehr undiplomatische Vorgehen in der Aussenpolitik spiegelt sich zum Beispiel nur aeusserst selten im privaten Verhalten der Amerikaner, auch Auslaendern gegenueber, wider. Dort ist Ruecksichtnahme auf Andere ein bedeutendes Element des taeglichen Miteinanders und Entschuldigungen fuer Kleinigkeiten, die man aus deutscher Sicht nicht fuer entschuldigungsbeduerftig haelt, gehoeren zum guten Ton.

    Darueber hinaus faellt es schwer, >den Amerikaner< zu definieren, denn in einem Land dessen Flaeche knapp unter der Europas liegt, gibt es fast ebenso grosse Mentalitaetsunterschiede wie auf dem >Alten Kontinent<. Selbst wenn man nur eine eng definierte ethnisch-religioese Scheibe der Gesellschaft betrachtet, z.B. die WASPs (White Anglo-Saxon Protestants), stellt man fest, dass zwischen dem rauen und direkten Umgangston eines New Yorkers, der ueberbetonten Freundlichkeit eines Suedstaatlers und der Entspanntheit eines >laid back Californians< Welten liegen. Auch innerhalb der USA wird Wert auf Abgrenzung gelegt: Die Entsprechung des deutschen >Weisswurstaequators< ist die >dividing line< zwischen den Nord- und den Suedstaaten aus der Zeit des Sezessionskriegs. Suedstaatler beschimpfen ihre noerdlichen Landsleute als >Yankees<, waehrend diese im Sueden jede Menge >Rednecks< vermuten. In Texas, das alleine doppelt so gross wie Deutschland ist, gibt es Stimmen, die sich gerne aus dem Bund mit den aus ihrer Sicht >zu liberalen< Staaten loesen wuerden. Die >Hippies und Schwulen< aus San Francisco sehen in Texanern hingegen hauptsaechlich >schiesswuetige Radikale<.

    Zieht man dazu noch Kategorien wie die ethnische und religioese Zugehoerigkeit in Betracht, so findet sich jede denkbare Schattierung zwischen all den Asiaten, Schwarzen, Latinos, Weissen, Indianern, Baptisten, Buddhisten, Anglikanern, Juden, Muslimen, Quakern und unzaehligen weiteren Religionen, die einen grossen Einfluss auf das taegliche Leben ausueben. Wie unvollstaendig mein Bild der Amerikaner war – bis dahin hauptsaechlich aus Filmen, der Popkultur und Urlaubsaufenthalten gespeist – stellte ich bei meinem ersten Ausflug ins Landesinnere fest. Ich hatte mich auf einer mehrtaegigen Tour durch Tennessee auf der Suche nach der Jack Daniel’s distillery verfahren und hielt vor einem einsamen Haus, um nach dem Weg zu fragen. Mit meiner Vorstellung, die sich wohl eher auf eloquente Staedter bezog, hatten die drei Gestalten dort nicht viel gemeinsam. Weder verstand ich ein Wort von dem, was sie sagten, noch war ich mir sicher, wozu das Gewehr auf dem Beifahrersitz ihres Pickups diente und wie gross der Inzuchtanteil in ihrer Familie war. All die guten und weniger guten Erfahrungen, die ich gemacht habe, fuegen dem Puzzle >der Amerikaner< in meinem Kopf staendig neue Teile hinzu – Ende offen.