• Beenden wir die Diktatuhr! [Ideenwettbewerb]

    Argh! Ich muss es zugeben. Mein Experiment ist fehlgeschlagen. Ich meine mein neues Zeitkonzept, den Tag nicht in Stunden und Minuten zu unterteilen, sondern in Mahlzeiten. Nachdem ich zweimal zu spaet zur Arbeit gekommen, beziehungsweise ueberhaupt nicht aufgetaucht bin (es laesst sich so schlecht zwischen Arbeitstag und Wochenende unterscheiden bei der Mahlzeitrechnung), musste ich mein Selbstexperiment leider aufgeben.

    Nun bin ich dem Zeitstress wieder ausgesetzt, wie alle anderen Menschen (wenn man sie ueberhaupt noch so nennen kann!). Wenig Schlaf, immer Termindruck, immer alles schnell, schnell, schnell. Die Diktatur der Uhr, oder kurz: die Diktatuhr. Es ist einfach zum Haare ausbeissen! Deshalb moechte ich jetzt einen Ideenwettbewerb in der Berliner Gazette starten. Ich suche smarte Entschleunigungsstrategien. Verstehen Sie mich recht: nicht Zeitsparstrategien, wie etwa gleichzeitig Fernsehen gucken, essen und Logbuchtraege schreiben, aeh ich glaube das nennt man Multitasking, zumindest, wenn man dabei dann auch noch Zehennaegel kaut.

    Nein, der Leser oder die Leserin mit der eindeutig besten Strategie zur Verlangsamung erhaelt ein Exemplar von Guenter Grasss Buchhit Beim Zwiebelschaelen. (Eine schicke Papierausgabe.) Sie denken jetzt bestimmt: Ich interessiere mich nur fuer den Besten, damit ich den ganzen anderen Mist nicht auch noch lesen muss. Aber nein: Je mehr Konzepte, desto besser. Ich will endlich wieder in einem Berg von Texten baden und dabei die Zeit vergessen.

  • Daytripping in Tokio

    Menschen, wie Wasser. Strassen, wie Kanaele. Ampeln, wie Schleusen. Alles fliesst im innerstaedtischen Tokio. Es gibt so gut wie keine Sitzbaenke im innerstaedtischen Raum, kaum oeffentliche Orte, an denen man verharrt, innehaelt, den Blick zu Ruhe kommen laesst. Man ist immer in Bewegung, genau wie all das, was einen umgibt. Menschentrauben, Neonschilder, Werbung, Verkehrszeichen. Alles loest sich auf, wird Information.

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    Die Dichte ist immens. Laerm und Rauschen verdichten sich, werden zu einem Ton, einem Bild, einem Signal. Je mehr die Frequenz zunimmt, desto naeher darf man sich seinem Ziel waehnen – einer Hauptstrasse, einer Kreuzung oder einem Bahnhof. Wer Shibuya, eines der groessten Zentren Tokios, betritt, spuert, wie die Informationsdichte gleich um ein Vielfaches zunimmt. Waeren die menschlichen Wahrnehmungsorgane wie Messgeraete ausgestattet, wuerden alle Displays Werte im roten Bereich anzeigen.

    Man hat das Gefuehl, eine kuenstliche Sphaere betreten zu haben, die – in sich geschlossen – ein Eigenleben fuehrt. Nicht alles dient hier der Orientierung. Nein, mitunter wird der umherschweifende Blick des Betrachters in einen immateriellen Raum hineinnavigiert. Dann tut sich ein Zeitloch auf. Die Welt um einen herum kommt zum Stillstand und ein Film im Kopf beginnt. Gigantische Monitore, dreidimensionale Werbetafeln mit Koerpern in rasanter Bewegung, perfekt choreographierte Neonlichtspiele oder verspiegelte Haeuserfassaden vermoegen solche Mindclips auszuloesen.

  • Spaziergangswissenschaft

    Als Freiburgerin radele ich jeden Tag eine viertel Stunde entlang der Dreisam zur Uni. Bei Kettensprung, Platten oder Schlimmerem bleibt nur die Wahl zwischen Bahn und Bus oder einem ausgedehnten Spaziergang. Letzterer waere koerperlich und vor allem, was den zeitlichen Parameter anbelangt, die wohl natuerlichste Option, jedoch bei einer Strecke von fuenf Kilometern die zugleich unwahrscheinlichste. Doch welche Konsequenzen hat die Wahl des Fortbewegungsmittels auf meine Wahrnehmung? Was passiert, wenn ich in der Grossstadt in die U-Bahn steige und sie zehn Minuten spaeter aus dem Dunkeln wieder verlasse? Welchen visuellen Einbussungen ist der Auto-, Bus-, und Strassenbahnfahrer ausgesetzt?

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    Lucius Burckhardt und Helmut Holzapfel haben sich mit diesen Fragen eingehend beschaeftigt. Um auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi der heutigen Landschaft aufmerksam zu machen, fuehrten sie 1992/93 diverse Spaziergangsexperi- mente durch. So simulierten sie etwa die Perspektive eines Autofahrers: Ausgestattet mit Windschutzscheiben gingen sie durch die Stadt und beobachteten, wie sich dies auf ihr Seherlebnis auswirkt. Ihre Schlussfolgerungen verdichteten sie in Texten, die den theoretischen Ueberbau der von Burckhardt in den 1980er Jahren begruendeten Spaziergangswissenschaft bilden. Nun hat Martin Schmitz in seinem Verlag dieser noch wenig bekannten Disziplin, die ueberigens auch als Promenadologie bekannt ist, ein Buch gewidmet.

    Burckhardt darin: Nie hat man sich so sehr um die Aesthetik der Umwelt gekuemmert wie heute; nie waren so viele Kommissionen mit Bewilligungsverfahren beschaeftigt, nie gab es so potente Vereinigungen zum Schutz der Umwelt, der Landschaft, der Heimat, der Denkmaeler (…). Aber trotz aller Schutzbestimmungen, Verfahren und abgelehnter Baugesuche waechst staendig die Klage ueber die Verhaesslichung der Umwelt und die Zerstoerung der Landschaft. Anhand zahlreicher Beispiele, die dem Leser und der Leserin das reinste Vergnuegen bereiten, geht der 2003 Verstorbene unterschiedlichsten Phaenomenen auf den Grund. Martin Schmitz indes versucht die Spaziergangswissenschaft einem breiteren Publikum in Vortraegen naeher zu bringen. Zum Beispiel am 14. Februar in der Hochschule fuer Gestaltung Karlsruhe und am 8. Maerz im Goettinger Literarischen Zentrum.

  • Sitcom der Globalisierungsverlierer

    Trailer Park Boys ist das perfekte Gegenwarts- naemlich: Unterschichts-Fernsehen. Die fiktive Dokumentar-Serie ueber den Alltag in einer kanadischen Wohnwagensiedlung zeigt eine Parallelgesellschaft derart fortgeschrittenen Zustands, dass die individuellen Dramen und kollektiven Katastrophen, in denen das Totalversagen sozialer Fremd- wie Selbstkontrolle alle paar Minuten kulminiert (Gewaltausbrueche, Haushaltsunfaelle und zahllose Verstoesse gegen Bewaehrungsauflagen) zur neben Alkohol und Drogen einzigen Unterhaltungs- und wichtigsten Erkenntnisquelle geworden sind: Selbstreflexion als eine am eigenen Ruin gutgelaunt und scharfsinning teilnehmende Beobachtung.

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    Trashigstmoegliche Aufklaerung gesellschaftlicher Zustaende betreibt die Serie aber nicht nur bei Themenwahl, Dramaturgie und Besetzung – in den Hauptrollen Julian (der in jeder – wirklich jeder – Einstellung einen Drink in der Hand haelt, sogar noch beim Aussteigen aus einem qualmenden Autowrack) und Ricky (der in einem solchen Autowrack wohnt und auch in der englischen Sprache nicht wirklich bei sich oder zu Hause ist) – sondern auch beim Einsatz formaler Mittel: im Verlauf der zahlreichen Schiessereien kann es schon mal passieren, dass versehentlich der Sound-Assistent angeschossen wird und die ohnehin bereits ueberforderten Protagonisten fuer den Rest der Szene den Ton selber angeln muessen. Trailer Park Boys ist sowas wie die Rache der Realitaet, getarnt als Fiktion, am Reality-TV.

    Uebrigens bin ich nicht ueber das Fernsehen auf dieses vermutlich zweit- bis drittbeste Fernsehformat der letzten fuenf Jahre aufmerksam geworden, sondern erst durch einen ausdruecklichen Hinweis dreier schwedischer Raubkopierer, deren BitTorrent-Tracker fuer einen nicht unerheblichen Teil des schwedischen Internet-Traffics verantwortlich ist.

  • Seismograph der Sinnsysteme

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    Allstar-Teams begegnet man heute so gut wie ueberall. Ob im Kino, TV oder Sport. Gepraegt wurde diese Idee nach dem Zweiten Weltkrieg in der Musikbranche. In der ersten Hochphase der Allstar-Bands zwischen 1945 und 1960 rekrutieren sich Mitglieder solcher Combos meistens aus Jazz- und Rockbands. Die symbolische Funktion jener Allstar-Formationen war indes mit der damals ebenfalls in Erscheinung tretenden UNO-Tagungskultur vergleichbar: In der chaotischen Nachkriegszeit half die Weltauswahl, die Welt zu ordnen. Den maechtigen Staaten gleich, stellten die glaenzenden Groessen des Allstar-Teams Orientierungs- und Fixpunkte dar. Diese Funktionslogik scheint auch heute noch zu greifen, in Zeiten, da das Allstar-Ensemble in allen Bereichen der Kulturproduktion zu Hause ist. Natuerlich laesst sich nicht alles ueber einen Kamm scheren. Ausserdem gibt es Zweifler. Robert Altman zum Beispiel. Wie kaum ein anderer hat er dieses Modell in Frage gestellt.

    Obwohl der juengst verstorbene US-Regisseur mehr als 80 Filme gedreht hat, ist er heute lediglich fuer eine Handvoll bekannt, die jeweils nach seinem Durchbruchserfolg MASH (1970) und nach seinem Comeback-Hit The Player (1992) entstanden. Die Altman-Reihe, die gerade im Berliner Filmkunsthaus Arsenal auslaeuft, hat sich nun nicht die ganzen Versaeumnisse vorgenommen, sondern ein wichtiges Leitmotiv dieses sperrigen Oeuvres ins Blickfeld gerueckt: den Vielpersonenfilm, den Altman mit dem wuchtig- maeandernden Nashville (1975) praegte und dem er in Produktionen wie A Wedding (1978), Short Cuts (1993), Pret-a-Porter (1994) und A Prairie Home Companion (2006) stets neue Facetten abrang. Mit einem spektakulaeren Staraufgebot von bis zu 20 Figuren bliess Altman immer wieder zum Angriff auf die ueberkommene Idee des Allstar-Ensembles als Weltordnungsbewahrer. Mit seinen nicht selten hochkaraetigen Aufgeboten liess er Staedte, Gesellschaften, Industrien und Unterhaltungshows entstehen, um die Beschaffenheit und Fragilitaet dieser Welten oder besser noch: Sinnsysteme vorzufuehren.

    Altman war mit seinen Allstar-Filmen ein Dekonstrukteur im wahrsten Sinn dieses haesslichen Wortes: Er stellte in immer wieder neuen Anlaeufen die Konstruktionsprinzipien unterschiedlicher Sinnsysteme aus. Altman: I am not telling a story, I am showing. Er zeigte die Super-Architektur als Skelett: nackt und bruechig. Und irritierte damit viele. Der Kulturkritiker Greil Marcus etwa, sah in Nashville eine Orgie des Ja, als Nein maskiert. Er meinte ein Ja zum Zusammenbruch des Systems, zum Verfall der Werte, kurz: zum (schleichenden) Untergang der Welt. Doch waren Altmans zynische Visionen wirklich einfach nur Bestaetigungen dafuer, dass unser Experiment gescheitert ist, so dass wir uns nicht mehr mit den gefaehrlichen, unberechenbaren Zielen unseres Handelns beschaeftigen muessen? Wenn Altman Welten aus den Fugen geraten liess, dann nicht nur um zu zeigen so sieht die Konstruktion von Innen aus, sondern auch um ein Danach in Aussicht zu stellen. Bestes Beispiel: Das grosse Beben am Ende von Altmans epischem L.A.-Film Short Cuts. Der Erdrutsch verbindet alle Figuren – von Tim Robbins, ueber Tom Waits bis hin zu Robert Downey Jr.; laesst sie erstmals als Teil eines grossen Ganzen erscheinen, das just in diesem Moment unterzugehen droht. Am Tag danach geht jedoch eine neue Sonne im Leben aller auf.

  • Eine Gleichzeitigkeit von Moment und Dauer

    In seinen Bildern eroeffnet Marcel Odenbach mehrere Ebenen des Sehens. Aus einigen Metern Entfernung sehen wir figuerliche Darstellungen, die in ihrer Momenthaftigkeit Filmstills aehneln. Der Blick faellt auf sorgsam konzipierte Bildausschnitte, vage deutet sich eine Erzaehlung an – so als schalte man ganz unvermittelt einen Film ein. Wenn wir uns dann naeher auf die Bilder zubewegen, schwindet das eben noch Gesehene und verliert sich in einer ornamentalen Flaeche aus papiernen Fetzen.

    Eine unruhige Musterung durchzieht das Bild und loest die Logik des dreidimensionalen Bildraumes auf. Um die Papierschichten vollstaendig zu erkennen, muessen wir noch naeher heran gehen. Zahllose winzige Bilder tauchen hinter und in der abstrakten Musterung auf. Es sind Bilder, wie man sie aus Zeitschriften kennt. Bilder von Politikern, Pornostars, irgendwelchen Personen. Erkannte man aus der Distanz eine einzelne Szene, so blickt man nun auf eine Flut von Fotografien.

    Mit der Erzeugung der verschiedenen Bildebenen erreicht Odenbach eine Gleichzeitigkeit von Moment und Dauer. Die einzelne Geschichte steht nie ganz fuer sich allein, sondern immer im Zusammenhang mit einer Reihe von Szenen, Ereignissen, Momenten. Zwischen den beiden Polen des Sehens – der Naehe und der Distanz – verschwindet das konkret Sichtbare in einer abstrakten Struktur. Diese erzaehlt nichts; hier herrscht Gleichgueltigkeit gegenueber Ausdruck und Tiefe, Anfang und Ende.

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    Marcel Odenbachs Papiercollagen sind Zitate der visuellen Sprache der Medien. Jedoch erhebt er nicht den Vorwurf, dass diese, Simulacren gleich, auf nichts mehr verweisen. Vielmehr scheinen die Bilder fuer Odenbach eine sehr urspruengliche Bedeutung zu haben. Aehnlich Bildern aus der Vergangenheit, die in der Gegenwart wieder auftauchen, liegt ihr Raetsel in ihrer moeglichen Gleichzeitigkeit.

  • Charlotte Chronicles.20 [Bogotá Remix]

    Die letzten zehn Tage verbrachte ich auf Reisen in Kolumbien und resuemierte am Ende dieser Zeit meinen Aufenthalt hinsichtlich Begegnungen mit deutschen Einfluessen oder Wurzeln. Solche gibt es in den verschiedensten Bereichen, zum Beispiel bei den Kuehen: Neben Zebus, die fuer Europaeer eher exotisch aussehen, sieht man auf den Feldern oder am Strassenrand haeufig auch die gleichen Kuehe, die einen auf einer deutschen Weide wiederkaeuend anstarren wuerden. Eine Anfrage bei meinen kolumbianischen Begleitern nach dem spanischen Namen wurde mit der durchaus unerwarteten Bezeichnung >Holstein< (sprich: >Holstihn< mit scharfem s) beantwortet.

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    Bei einer Silvesterfeier, die im >inneren Zirkel< von etwa 20 Personen einer kolumbianischen Familie begangen wurde, war ich die ersten zwei Stunden damit beschaeftigt, mir die Namen aller Anwesenden einzupraegen. Nach dem erfolgreichen Meistern der Grossmuetter, geriet ich bei den acht Onkeln und Tanten arg ins Schwitzen, weshalb ich nach einiger Zeit in meiner Verzweiflung dazu ueberging, auf einem kleinen Zettel einen Stammbaum anzulegen. Dabei lernte ich unter anderem, dass zwischen Blutsverwandtschaft und angeheirateten Verwandten unterschieden wird; man spricht in letzterem Fall von >politischen Onkeln< oder Tanten. Einer dieser Onkel wurde >Hermann< ausgesprochen, doch als ich von einer der unzaehligen Cousinen genealogische Hilfe beim Anfertigen des Stammbaums erhielt, stellte ich ueberrascht fest, dass er sich >Germán< schrieb. Weitere Nachfragen ergaben, dass dieser Name durchaus verbreitet ist und ich wage die These, dass es sich hierbei um das Erbe deutscher Einwanderer handelt.

    Darueber hinaus begegneten mir einige deutsche Familiennamen in Gestalt von Firmenbezeichnungen. So trug auf den bergigen Strassen die Anden hinauf jeder zweite der LKWs, hinter denen man andauernd feststeckt, die Bezeichnung >Inca Fruehauf<. An anderer Stelle grinste mir ueber einem Stand ein Schweinekopf unter der Ueberschrift >Nacken< entgegen. Ein Blick auf die angebotenen Produkte bestaetigte, dass es dort keineswegs nur Schweinenacken gab, sondern dieses vermutlich ebenfalls der Familienname des Firmengruenders war. Zum Schluss noch ein kleiner Bonuswitz fuer diejenigen, die sich in der hannoverschen Bierszene etwas auskennen: In einem Feinkostladen fuer europaeische Importprodukte in Bogotá entdeckte ich >Lindener Spezial< in der Dose… Sie stand in einem Bierregal, welches sich zwischen dem Champagnerbereich und den hochwertigen Pasteten befand. Die Verkaeuferin schaute sehr interessiert, als ich nach einem kurzen Lachanfall die Dose fotografierte. Nachdem sie solch besondere Aufmerksamkeit erfahren hat, wird ihr bestimmt bald ein exponierter Platz im Schaufenster zuteil.

  • Das Beschleunigungsregime

    Manchmal fragen mich die Leute nach Vortraegen, ob mein Interesse fuer Beschleunigung mit meinem hohen Redetempo zusammenhaengt. Ich antworte dann meistens, dass ich da eher eine Verbindung zu meinem langsamen Essenstempo sehe: Da ich sehr langsam esse, bin ich am Tisch meistens der Letzte, was dazu fuehrt, dass die anderen unruhig auf den Tisch trommeln und mich unter Beschleunigungsdruck setzen. Aber wirklich angefangen, mich fuer Beschleunigung zu interessieren, habe ich, als ich ueber ein Oedoen von Horvath zugeschriebenes Bonmot nachdachte, das da lautet: “Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm’ ich so selten dazu”. Das traf irgendwie genau meine Lebenserfahrung: Man hetzt von Termin zu Termin, mal privat, mal beruflich, und hat dabei das Gefuehl, nie zu den Dingen zu kommen, die einem wirklich wichtig sind. Und da wollte ich eben wissen, ob das an mir selbst liegt, ob ich also etwas falsch mache, oder ob man auf diese Weise einem Strukturproblem moderner Gesellschaften auf die Spur kommt. Und siehe da – je laenger ich darueber nachgruebelte und nachforschte, um so klarer zeigte sich: Das Problem ist sozusagen in die Wurzeln der Moderne eingelassen. weiterlesen »

  • >Mahl< >Zeit<

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    Ich hab alles versucht. Ich hab mich auf die Strasse geworfen und geschrieen wie ein Baby. Ich bin tagelang rueckwaerts gelaufen. Ich hab sogar an der Uhr gedreht. Keine dieser Massnahmen hat auch nur irgendwas bewirkt. Die Zeit laeuft mir davon. Die Uhr tickt. Ich kann nichts dagegen tun. Ich glaube das ist schon meine Midlife-Crisis – mit 23. Klar, alles passiert den Menschen heute ja immer frueher. Weil nicht genug Zeit ist. Den ersten Sex hat man mit elf. Den ersten festen Freund mit zwoelf, etc.

    Nun probiere ich seit ein paar Tagen etwas ganz Neues aus, um das Vergehen der Zeit zu verhindern. Ich messe meine Zeit nicht mehr in Stunden und Minuten, sondern in Mahlzeiten. Mein Bauch sagt mir wie spaet es ist. Das funktioniert bis jetzt ganz gut. Wenn ich mich zum Beispiel mit meiner Freundin verabrede, dann treffen wir uns einfach zum Fruehstueck – kein Problem. Ich zieh meine neue Zeitrechnung jetzt seit 13 Mahlzeiten durch. Ich glaub heute muss ich zur Arbeit. Schaetzungsweise in zwei Mahlzeiten (Mittag und Kaffee + Kuchen). Mal sehen wie das so klappt.

    Auf meinem Computer hab ich die Uhr unten rechts ersetzt. Da stehen jetzt keine verwirrende Zahlen mehr, sondern kleine Icons. Jetzt ist da gerade ein Croissant zu sehen. In Ihrer Zeitrechnung, werter Leser, ist es jetzt also zwischen acht und elf. Das Praktische ist, dass ich das Vergehen der Zeit beeinflussen kann. Ich kann Zeit sparen, in dem ich spaeter fruehstuecke, oder ich kann die Wartezeit auf freudige Ereignisse verkuerzen (zum Beispiel ins Kino gehen mit meinem Freund) indem ich gleich nach dem Aufstehen Abendbrot esse. In einigen Mahlzeiten erfahren Sie mehr von meinem Experiment!