Es gibt sehr viele Bücher über Depressionen. Meistens handeln sie davon, wie man „es geschafft hat“. Die Depression zu überwinden, das Leben wieder zu „lieben“, der Dunkelheit irgendeine Lehre abzutrotzen, dank der man alles jetzt viel mehr zu schätzen weiß. Die Depression (oder eine andere überwundene Erkrankung) wird als Baustein in einem fortlaufenden Prozess der Selbstoptimierung umgedeutet. Dementsprechend ist es wichtig, dass die Erzählung über Depression eine Heilungs- und Erfolgsgeschichte ist. Eine Anleitung für andere. Prinzipiell spricht auch nichts gegen Erfolgserzählungen. Sie können Motivation sein und Hoffnung, dass nicht immer alles so weitergeht. Die meisten psychischen Erkrankungen sind aber kein Sprint, sondern mindestens ein Marathon und ganz oft etwas, das man nicht restlos besiegt, sondern mit dem man sich zu arrangieren lernt. Man müsste mehr vom arrangieren lesen, weniger vom „siegen“. Es wird nicht immer alles gut, auch am Ende nicht.
Ich bin Maack dankbar, dass er keines dieser Erbauungsbücher geschrieben hat. Vielmehr erzählt er in „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“ von mehreren schweren depressiven Episoden, die ihn sowohl in die Psychiatrie als auch in einer akuten Krise auf eine geschlossene Station gebracht haben. Depression bedeutet in seinem Fall vor allem ein Verlust von Empfindungsfähigkeit. Die Verbindung zwischen Welt und Mensch ist gestört, da findet keine Kommunikation mehr statt, nur noch Rauschen. Von allem ist nur noch Oberfläche übrig. Als hielte man einen Baukasten mit Materialien in der Hand, ohne zu wissen, was man damit soll. Maack quälen immer wieder Selbstvorwürfe, weil er andere belastet, weil er nicht imstande ist, Gefühle aufzubringen für die, die ihm doch nahestehen, weil er glaubt, unfähig und unnütz zu sein. Nur eine Frage der Zeit, bis das alles auffliegt und alle bemerkt haben, was für ein schlimmer Mensch er ist. Viele Menschen, die von Depressionen betroffen sind, fragen sich nach den Ursachen und fühlen sich nicht selten noch schlechter, wenn keine auszumachen sind. Sie glauben, es müsste ihnen gut geht, weil sie doch alles hätten. Ein Satz, den Betroffene vor allem von außen oft hören, als gäbe es so etwas wie einen Depressionsberechtigungsschein. Auch Maack macht sich Vorwürfe. Vielleicht ist er „falsch krank“ – oder gar nicht.
Es gibt diverse Klischees darüber, wie Menschen in psychischen Krisen auszusehen haben. Am besten verheult und handlungsunfähig. Wer noch lachen kann, kann ja nicht so schlimm getroffen sein. Eine Fehleinschätzung, die nicht nur medizinischem Fachpersonal unterläuft, sondern auch Betroffenen selbst. Dabei gibt es hochfunktionale Patient*innen mit Depressionen, deren Leidensdruck nicht etwa geringer ist, bloß weil man weniger davon sieht. Es ist wichtig, mit Klischees wie diesen zu brechen, immer wieder. Auch die Frage, was und wie Medikation die Situation konkret verändert, spielt eine Rolle. Wie viele Betroffene erhält Maack diverse Medikamente und probiert sich unter psychiatrischer Leitung durch den unerschöpflichen Fundus der Psychopharmaka. Dabei muss er immer wieder abwägen: Bin ich bereit und in der Lage, für das Ergebnis die Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen?
Die Schilderungen in „Wenn das noch geht (…)“ sind disparat und fragmentarisch, sehr verschieden in Ton und Intensität. Explizit, auch wenn es um Suizidgedanken geht, die ein behandelnder Arzt als „Zäsurwunsch“ bezeichnet. Es gibt keinen roten Faden, der zur Erlösung führt, auch wenn der Erkrankung am Ende dann doch ein paar positive Aspekte abgewonnen werden („Es geht mir gut. Besser als je zuvor in meinem Leben.“) Wie viele Betroffene, die über psychische Erkrankungen offen schreiben, stellt auch Maack die Frage, ob er künftig nur noch „der mit den Depressionen“ ist. Ähnliches hatten schon Franziska Seyboldt („Rattatatam mein Herz“) und Peter Wittkamp („Für mich soll es Neurosen regnen“) mit ihren Büchern über Angst bzw. Zwangsstörungen thematisiert. Wie sehr identifiziert mein Umfeld mich mit dem, was ich von mir preisgegeben habe? Glücklicherweise war es weder für Seyboldt noch für Wittkamp oder Maack ein Hinderungsgrund, ungeschönt von ihren Erfahrungen zu erzählen. Bücher wie diese sind weit mehr als Aufarbeitungstexte für die Betroffenen, insbesondere wenn sie so ein hervorragendes Gespür haben für Ironie am Abgrund wie Benjamin Maack. Spürbar etwa als im Aufenthaltsraum der Psychiatrie diverse Patient*innen an einem Delphin-Puzzle sitzen und jemand „Delphintherapie“ sagt. Der Text ist immer wieder von feinem Humor durchzogen, vom ständigen Kampf gegen die eigenen Gedanken. Wie ein Seismograph misst er die Erschütterungen und zeichnet sie auf. Dem Buch gelingt es, mehr als eine Notizsammlung zu sein. Es bildet eine Gedankenwelt ab, die viele Menschen kennen und entkräftet en passant auch immer wieder Vorurteile, unter denen Betroffene zu leiden haben. Benjamin Maack ist nicht nur „der mit den Depressionen“. Er ist ein sehr guter Autor.
Wer unter Suizidgedanken leidet, sollte sich schnell Hilfe suchen. Es gibt in Deutschland mehrere Anlaufstellen: die Telefonseelsorge ist unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 rund um die Uhr und kostenfrei erreichbar. Sozialpsychiatrische Dienste vermitteln in jeder Stadt und Gemeinde Hilfen. Auf der Webseite der Deutschen Depressionshilfe kann man Krisendienste und Beratungsstellen in der Nähe finden.
Dies ist der zweite Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert (hier Teil 1).
Magda, Berlin Wie kann man kleinen Kindern die aktuelle Ausnahmesituation verständlich machen? Wie erklärt man einer 2jährigen, warum man gerade das Haus nicht verlassen darf? Was macht die allgemeine verunsicherte Stimmung mit so einem kleinen Kind?
2yo can tell that Everything Is Weird but can’t really grasp what, so she’s spending the morning trying to lock down the basics.
“Mama are you my mom?” (yes)
“Dada are you my dad?” (yes)
“Where are we?” (home)
“Is today a day?” (?)
“What is the number of toddlers?” (??)
Berit, Greifswald Die überall angepriesenen Online-Lernplattformen laufen nur noch in Schneckengeschwindigkeit oder brechen direkt unter der Last der Anfragen zusammen. Ich mache mir Gedanken darüber, was diese Wochen für Familien bedeuten, in denen die notwendigen Ressourcen für Heimunterricht nicht vorhanden sind.
Alle im #twitterlehrerzimmer scheinen #Homeschooling zu planen. Ausstattung, Tools… Was aber, wenn bei vielen der SuS die Ausstattung fehlt? Kein Internet zu Hause? Mit Glück Smartphone mit kleiner Datenflat? Soziale Herkunft beherrscht die Bildungschancen!?
Sonja, Köln Ich denke an meinen Vater, der eigentlich schon lange in Rente sein müsste. Der Musiker ist. Der uns Kinder großgezogen hat und immer noch keine Mindestrente bekommt. Der jetzt keine Auftritte mehr hat. Der auch keinen privaten Unterricht als Musiklehrer mehr geben kann. Der kein Einkommen hat, der kein Einkommen hat, der kein Einkommen hat. Ich sehne mich für ihn und alle meine Lieben, die in ihren überteuerten Wohnungen sitzen und nicht wissen, wie sie diese in den nächsten Monaten bezahlen sollen, nach einem Grundeinkommen ohne Bedingungen. Als mein Vater vor drei Wochen ängstlich über die sich anbahnende Situation gegrübelt hat, habe ich gelacht und abgewunken. Jetzt schäme ich mich dafür.
Die Bundesregierung muss sofort bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Mindestens bis zum Ende der Corona-Krise.
Simon, Freiburg Ich habe mich in den letzten Tagen oft über Fotos von Menschen aufgeregt, die in großen Gruppen im Freien herumstanden, über Berichte von Leuten, die zu Corona-Parties einluden oder über diejenigen, die jetzt noch feiern gehen. In mir hat das alles eine große Frustration und Wut ausgelöst, weil diese Haltung zum einen zeigt, dass viele nicht verstanden haben, was passiert, und weil sie tatsächlich gefährliche Folgen haben kann. Zum anderen befürchte ich, dass genau diese Haltung letztlich doch zu Ausgangssperren und ähnlichem führen könnte, die unter Umständen per se nicht nötig wären, wenn sich alle an die Empfehlungen halten würden und alleine oder als Familie oder als Paar spazieren gehen, Fahrradfahren oder Picknicken würden. Ich werde unruhig, wenn ich so etwas sehe, weil ich es nicht verstehe, dass man sich in solchen Situationen nicht an einfachste Grundregeln halten kann, die vielleicht unangenehm sind, die aber per se nur bedeuten auf ein Freizeitprivileg zu verzichten.
Johannes, Bonn Jede Krise, die eine Gemeinschaft betrifft, bringt neue Tugenden und damit neue Laster hervor. Man macht einen Spaziergang (aber allein!) und sieht auf der Straße die fröhlichen Zusammenrottungen des Frühlingsanfangs plötzlich mit finstererem Blick. Krise bedeutet Verzicht, aber diese Krise fordert den Menschen nicht den Verzicht auf Materielles ab, sondern auf soziale Kontakte, genau das, was ja normalerweise in Krisenzeiten eingefordert wird. Eine moralgeschichtlich komplizierte und faszinierende Situation.
Andrea, Tübingen Auf Twitter trendet kurz “Tag 1”. Als ob die Krise erst jetzt beginnen würde. Ich verstehe das, insofern erst jetzt die Schulen schließen, gleichzeitig ist es seltsam, weil es signalisiert, dass das Wochenende noch als ‘jetzt kann man nochmal alles machen’ von vielen wahrgenommen wurde. Im Verlauf des Tages wird das Maßnahmenpaket der Bundesregierung angekündigt, das ich gut finde. Pragmatisch, wichtige symbolische Wirkung: Keine Urlaubsreisen etc. Beschränkung auf das wirklich wichtige, hoffentlich geht das in die Köpfe! Nach der PK der Kanzler spricht endlich der Bundespräsident zur Corona-Krise: “Die Welt danach wird eine andere sein.” Hoffentlich gilt das auch zukünftig für die Frage, wie effizienzorientiert das Gesundheitswesen sein muss, denke ich. “Ich glaube an unsere Vernunft. Ich glaube an unsere Solidarität. Halten wir heute voneinander Abstand, damit wir uns morgen wieder umarmen können.” Gut.
Es ist 1 pragmatisches Maßnahmenpaket. Die symbolische Wirkung scheint mir auch wichtig, die in ‘keine Urlaubsreisen’ etc. steckt. Dass einfach in die Köpfe reingeht, dass es jetzt darum gehen muss, sich auf das wirklich Wichtige zu beschränken & solidarisch vernünftig zu sein.
Nach der PK der Kanzler folgt auf Phönix eine kurze Ansprache des Bundespräsidenten zur Corona-Krise: “Die Welt danach wird eine andere sein.” Hoffentlich gilt das auch zukünftig für die Frage, wie effizienzorientiert das Gesundheitswesen sein muss!
Philip, Göttingen Es fühlt sich unwirklich an. Für mich hat sich nicht viel geändert mit dem Lockdown. Es ist keine Vorlesungszeit und ich gehe auch nicht in die Bibliothek, weil ich die Arbeit an meiner Dissertation pausiert habe. Corona scheint online viel präsenter als im Analogen. Wie jeden Montag erledigen wir den Wocheneinkauf. Worüber wir bisher vor allen gewitzelt haben, ist jetzt wirklich. Das Nudelregal ist komplett leer und Toilettenpapier ist nur noch wenig da. Wir beschließen, doch keines mitzunehmen. Wir wollen bewusst nicht “hamstern”, aber ein bisschen lässt es sich doch nicht vermeiden. Wir nehmen hier eine Dose, dort ein Glas mehr mit als wir es unter normalen Bedingungen getan hätten. Nachmittags mache ich einen kurzen Spaziergang. Es ist richtig frühlingshaft, und statt der üblichen Leute mit Hund sind auch viele Familien und ältere Paare im Wald, der gleich hinterm Haus beginnt, unterwegs. Ich muss an einen Tweet denken, der von “Coronaferien” sprach. Aber wer wollte es den Leuten verdenken, die ersten schönen Tage zu genießen? Später telefoniere ich mit meinem Vater. Er arbeitet in Basel, lebt aber in Deutschland. Er erzählt mir, dass er nicht sicher war, ob man ihn nach der Arbeit wieder die Grenze überqueren lassen würde, und scheint sich spitzbübisch darüber zu freuen, dass es ihm gelungen ist. Wir reden darüber, dass wir die Situation nutzen, um es ein wenig langsamer angehen zu lassen. Ich freue mich, dass er jetzt kürzer tritt, denke aber daran, wie glücklich unsere Lage ist, dass wir so mit dieser Krise umgehen können.
Tilman, Hamburg Eben war ich bei Giovanni, den Tisch für Samstag stornieren. “Haben schon ganz viele gemacht”, sagte Mirko traurig. 11 Personen hatte ich angemeldet. Meine Schwester heiratet im Mai und unsere Eltern und die Eltern ihre Freundes kennen sich noch nicht. Aus Nürnberg, Frankfurt, Münster und Bad Hersfeld sollte angereist werden. Als wir vor zwei Wochen das erste Mal darüber sprachen, ob das denn alles so stattfinden könnte, war meine Mutter bereits sehr skeptisch, mein Vater dagegen noch fest überzeugt, alles stelle kein Problem dar. Die Entscheidung abzusagen, fiel bereits letzte Woche, gestern war es aber mein Vater, der sehr vehement in der Familien-Whatsapp-Gruppe forderte, meine Chefs sollten von ihrem Hausrecht Gebrauch machen, falls Kollegen sich nicht freiwillig in häusliche Quarantäne begäben.
Matthias, Jena Mir wird zum ersten Mal seit Tagen richtig mulmig, als ich mitbekomme, dass eine neue Stufe der Einschränkungen bekanntgegeben wurde. Ich muss an »When the Wind Blows« denken. Beim Abendessen schalte ich das Radio ein, ich will jetzt weder ein Feature über ein Massaker in Apartheid-Südafrika noch E-Musik hören, also schalte ich um auf MDR Thüringen Ost, und dort läuft »Some Broken Hearts Never Mend«, es macht direkt alles noch schlimmer, weil es so eine postapokalyptische Atmosphäre produziert. Woran liegt es, dass bestimmte Musik (z.B. älterer Country oder amerikanische Schlager aus dem 2. Weltkrieg) sich so sehr nach Autoradio nach dem Atomkrieg anhört und andere nicht? Es gibt da eine popkulturelle Überlieferungslinie, die den Abspann von »Doktor Seltsam« und den Vorspann von »Fallout« verbindet, aber da muss es doch noch mehr Datenpunkte geben.
Woran liegt es, dass bestimmte Musik (z.B. älterer Country oder amerikanische Schlager aus dem 2. Weltkrieg) sich so sehr nach Autoradio nach dem Atomkrieg anhört und andere nicht?
(Danach übrigens Bobbie Gentry, »I’ll Never Fall in Love Again« mit den herzigen Versen: »What do you get when you kiss a girl? / You get enough germs to catch pneumonia«.)
17.3.2020
Nabard, Bonn Die Straßenbahn ist ziemlich gefüllt. Es herrscht eine erstaunlich gespenstische Ruhe. Nicht aber weil die Schulkinder fehlen. In ein paar Minuten bin ich im Krankenhaus. Mein praktisches Jahr hab ich mir sicherlich anders vorgestellt, doch was soll’s. Hier hat gerade jemand gehustet und alle haben ihn mit einer Mischung aus Ekel, Panik und Verachtung angeschaut. Gleich in der Besprechung erfahren wir die neuesten Zahlen. Von befreundeten Ärzten aus Köln und Berlin höre ich, dass sie in ihren Krankenhäusern sich aufs schlimmste eingestellt haben. In einem teil-privatisierten Gesundheitswesen, was auf Gewinn aus ist, ein radikaler Schritt! Erst einmal Hände desinfizieren und dann den Kittel anziehen.
Magda, Berlin Über ein Facebookupdate ihrer Tochter erfahre ich heute morgen, dass sich der Hirntumor meiner amerikanischen Gastmutter, bei der ich 2006 ein Schuljahr lang gelebt habe, nach über einem Jahr ohne Wachstum nun plötzlich verdoppelt hat, dass sie wieder mit der Chemo beginnen müsse, dass ihr Zustand sehr verschlechtert sei. An manchen Tagen könne sie sich wohl nicht einmal wirklich erinnern, wer sie selbst sei. Meine Gastfamilie lebt in Kalifornien, das inzwischen als Covid19-Risikogebiet gilt, sie haben wenig Geld, wie es um ihre Krankenversicherung gestellt ist, weiß ich nicht. Der Kontakt zwischen uns ist in den letzten Jahren über die gelegentliche Facebooknachricht ihrer Tochter hinaus sehr eingeschlafen, aber heute wird mir plötzlich klar, dass ich vermutlich keine Gelegenheit mehr bekommen werde, sie jemals wiederzusehen. Mit dem Ausnahmezustand hier in Deutschland irgendwie klarzukommen und gleichzeitig zu wissen, dass es überall auf der Welt gerade genauso schlimm aussieht, dass es anderswo auch kein von all dem unberührtes Idyll mehr gibt, bringt mich immer näher an meine mentalen Grenzen.
Sonja, Köln Dem Social Media-Dinosaurier Facebook wird die Funktion kupiert. Wer Facebook noch als Veranstaltungsbörse nutzte, kann jetzt die veralteten Klopapier-Gags und die unzähligen Anfragen von Autor*innen, ihre Seite zu liken, endlich hinter sich lassen.
das gute ist dass jetzt wo es keine Veranstaltungen mehr gibt Facebook seine letzte Existenzberechtigung verliert & hoffentlich endlich endgültig abgeschafft wird
Bei Tinder und OkCupid alles beim Alten: Man matched, man schreibt, man trifft sich nie.
Andrea, Tübingen Die gesundheitlichen Fragen beschäftigen mich am meisten. Aber auch wie es an den Unis weitergeht, diskutiere ich mit Lehrenden verschiedener Unis seit Tagen auf Twitter. Die Informationspolitik der Unis ist dabei sehr unterschiedlich, und das hat keineswegs nur mit verschiedenen Semesterstart-Zeiten zu tun. Manche berichten, dass sie schlicht aufgefordert werden, sich auf digitale Lehre einzustellen. Ohne dass gleichzeitig kommuniziert wird, wie das gehen soll. Online-Formate muss man extra konzipieren. Wer sich etwas mit digitaler Lehre auskennt, weiß, dass das viel Vorlauf braucht. Und da reden wir noch gar nicht über rechtliche Fragen, Netz-Kapazitäten etc.
Die @Uni_MR macht jetzt recht klare Ansagen: “Wir bitten alle Lehrenden sich darauf einzustellen, dass die Lehre im Sommersemester als Nicht-Präsenz-Lehre konzipiert werden muss.”
Wenn sie mir jetzt noch erklären, WIE ich das machen soll (mit all meinen Materialien im Büro).
Liebe Universitäten, da schon einige Unsicherheit besteht, wie das Sommersemester laufen wird: Kommuniziert nur, was ihr von Lehrenden erwartet, wenn ihr gleichzeitig sagt, wie ihr unterstützt. #LehreGW#TwitterCampus
Sonja, Köln Von dem neuen Hashtag #stayhomechallenge wird mir erst schlecht und ich befürchte einen blinden Aktivismus, der unter Publikum propagiert wird, dann scroll ich ein bisschen durch und kichere ein bisschen rum
Heute Nacht die erste Panikattacke. Was, wenn der Lockdown wirklich kommt? Ich wohne allein, ich arbeite allein, ich kann allein sein, aber ich kann nicht eingesperrt sein. Wer schon mal weggesperrt wurde – ob ins Badezimmer, auf eine geschützte Station in einer Klinik oder ins Gefängnis – weiß, wie unvergleichbar beklemmend diese Situation ist. Nur dass man in einer Psychiatrie noch in Gesellschaft ist, wie fordernd die Mitpatient*innen, wie streng die Pfleger*innen auch sind, man kann jemanden zu sich rufen und in Kontakt treten, wenigstens einen Anflug von Berührung erleben. In der Quarantäne aber, wer will mich da mit einer Hand auf meinem Handgelenk, einer Schulter in meinem Rücken, einer Stirn an meinem Kopf beruhigen?
Das abendliche Twitterkonzert von Igor Levit gibt mir Halt, gibt mir eine Routine in der Ausnahmesituation, 19 Uhr ein Klavier. Gibt mir ein Gefühl von Gemeinschaft, spendet Nähe.
Guten Morgen. Ich bin zurück in Berlin und werde heute Abend wieder um 19:00 Uhr für Euch ein Hauskonzert geben. Aus meinem Wohnzimmer heraus, hier auf Twitter und über Instagram als Livestream. Ich freue mich auf Euch. Bleibt gesund. Igor https://t.co/5grCngQnw5
Ich telefoniere mit einem Freund, der in der gleichen Situation ist. Ein Musiker, der für die nächsten Wochen ohne Aufträge sein wird. Er ruft schon das vierte Mal an heute. Auch ihm klemmt der Brustkorb, rauschen die Ohren. Unsere Unruhe wuchert. Die antizipierte Einsperrung ist die Schlimmste. Wieso lässt man sich freiwillig in einen Container einsperren? Aber neugierig, wie die Bewohner*innen von Big Brother hier in Köln Ossendorf heute auf die Info reagieren, bin ich auch.
Andrea, Tübingen Gegenüber anderen Menschen habe ich in dieser neuen Situation nicht wirklich etwas zu bewältigen. Ja, ich mache mir Sorgen um Verwandte, aber mein Alltagsleben ist gut zu managen. Eigentlich sollte es nicht viel anders sein als sonst in der vorlesungsfreien Zeit. Aber so fühle ich mich nicht. Das entspricht viel eher meinem Zustand:
Es ist verrückt. Die Situation ist kein bisschen anders als sonst, ich sitze eigentlich IMMER allein am Schreibtisch… und trotzdem dreh ich gerade beinahe durch und kann kaum klare Gedanken fassen. pic.twitter.com/3c7T4P1Vzg
Magda, Berlin Ich mache mich bereit für meine heutige Spätschicht in der Buchhandlung. Heute werde ich die Strecke von ca. 2,5 km ausnahmsweise zu Fuß gehen (ich besitze kein Fahrrad, fahre sonst immer Tram). Die angekündigte Pressekonferenz des Berliner Senats wurde von 13 auf 14:30 Uhr verschoben, noch weiß also niemand, ab wann die vom Bund empfohlene Schließung aller nicht-essentiellen Läden hier in Berlin umgesetzt wird. Das heißt auch, dass keine*r aus dem Buchhandlungsteam weiß, ob wir morgen zur Schicht antreten müssen und wie es überhaupt jetzt weitergehen wird. Es fühlt sich komisch an, nach vier freien Tagen gleich im Laden stehen und mit Kundschaft interagieren zu müssen. Bei meiner letzten Schicht am Donnerstag war noch alles vergleichsweise “normal”, unser Café war noch in Betrieb, der Laden voll. Wie die Stimmung wohl heute Nachmittag sein wird? Ob überhaupt Leute kommen werden?
Kommt vorbei, aber haltet Abstand zu uns und zu anderen Kund*innen – zu unser aller Sicherheit.
Unser Onlineshop https://t.co/4avONsVDQG liefert übrigens auch versandkostenfrei nach Hause! https://t.co/52TsPKRmdL
Beim kurzen Spaziergang im Park am Sonntag habe ich mich erst über die ganz ungerührt dicht an dicht sitzenden Menschenmassen geärgert. Dann kam mir der Gedanke, dass zum Glück inzwischen Pokémon Go schon wieder out ist, weil es sonst in den Berliner Parks noch viel schlimmer aussähe. Gotta catch ’em all!
this like the exact opposite of that pokemon go summer
Birte, Darmstadt Mein Sohn und ich versuchen, einen Rhythmus des zuhause Seins, Arbeitens und Lernens zu finden. Ganz gegen Brecht haben wir einen Plan gemacht, vor allem, damit wir wissen, wann wir frei, gemeinsame Zeit haben oder allein sind. Seinen Vater wird er mehrere Wochen nicht sehen können, der lebt in der Schweiz. Wenn vieles ungewiss ist, hilft vielleicht ein Rhythmus, ein Plan. Wir wissen beide: wir müssen uns noch eingewöhnen.
Gerade sind wir über die Rosenhöhe spaziert, einem Darmstädter Park. Hier scheint die Sonne, die Magnolienbäume öffnen ihre Knospen. Alle gehen sorgsam miteinander um, alle vermeiden zu große Nähe, wenn sie anderen begegnen.
Ich musste an meinen Kollegen Jonathan Triffitt denken, der über die Entmonarchisierung Hessens, Württembergs und Bayerns nach 1918 promoviert, denn das Palais Rosenhöhe gehörte dem letzten regierenden Großherzog von Hessen-Darmstadt Ernst Ludwig. Überhaupt denke ich viel an Kolleg*innen, tausche mich mit ihnen aus, froh über die Zeit, die uns noch bleibt, die Lehre online vorzubereiten.
Hier ist Frühling.
Simon, Freiburg Es ist sehr seltsam und anstrengend, die Diskrepanz zwischen Normalität und Ausnahmezustand aushalten und balancieren zu können. Während in meiner Region die Lage angespannter wird, schaue ich auf die Deutschlandkarte und sehe Städte und Regionen, die 3 vielleicht 5 Fälle haben – ganz Thüringen hat derzeit weniger als Freiburg, deutlich weniger. Manchmal schalte ich das Radio an und hoffe auf einen Beitrag, der nichts mit der aktuellen Situation zu tun hat und gleichzeitig fühlt es sich seltsam an, wenn dort wie heute morgen über die ersten freien Wahlen in der DDR vor 30 Jahren gesprochen wird. Ich werde mir in den nächsten Tagen und Wochen Momente freischaufeln müssen, in denen das Thema Covid19 keine Rolle spielt, in der sich alles normal anfühlt – und ich befürchte, dass sich es diese Momente nicht geben wird, weil sich diese Abwesenheit seltsam anfühlen wird.
Gerade bin ich durch meine Timeline auf Twitter gegangen, auf der Suche nach einem Tweet, der nichts mit der Situation zu tun hat. Ich musste lange scrollen.
Tilman, Hamburg Ich habe noch nie Home Office gemacht. Das will erstmal eingerichtet werden. Also muss ich mit dem Mann von der IT telefonieren. Das ist ein externer Dienstleister und hin und wieder hat man zwar eine bekannte Stimme dran, aber so häufig hat man eigentlich keine Computer-Probleme, dass man sich da groß anfreunden würde. Nach der Schilderung meines Problems, (ich habe eigentlich zwei, denn ich habe meine Maus im Büro liegen lassen), schaltet er sich auf meinen Rechner auf. Während nun ferngesteuert der Cursor über meinen Bildschirm flitzt, schweigen wir uns an. Er schweigt so deutlich, dass ich ins Grübeln komme, was für ein IT-Hotline-Typ ich wäre, also auf Dienstleisterseite.
Kenne nicht so viele, aber für ein Magazin würde ich u. a. die folgenden nehmen:
manche brabbeln oder machen so Geschäftigkeitsgeräusche,
manche erklären dem Gegenüber, was sie tun,
manche schweigen.
Dann müsste ich mir noch welche ausdenken, damit dieser Typen-Test einen lustigen Spin bekommt und die Leute weiterlesen, vor allem damit sie die Auflösung lesen, hihi, bist Du auch der “XYZ-Typ” und dann unterhalten die Leser*innen sich darüber, was die Redaktion sicher für einen Heidenspaß hatte sich so einen Test auszudenken. Der Schweigetyp sagt jetzt, dass er zurückruft. Bestimmt einfacher sich zu konzentrieren, wenn der andere nicht in den Hörer schweigt.
Im Supermarkt bietet jemand an der Kasse einem anderen jemand Geld für zwei Rollen Klopapier. Das Angebot wird einfach überhört. Ein Edeka Mitarbeiter sagt dem Anbietendem, dass heute Nachmittag neues Klopapier kommt (wir kaufen Saft und vegane Burger und bisschen Obst und Gemüse; extra kein Klopapier und keine Nudeln).
Wir treffen Daniel und Judith. Judith hat ein Baby und sagt, dass das Zuhausebleiben einfach wie sehr langes Wochenbett sei. Das verstehe ich nicht richtig.
Charlotte, Bonn Aufwachen. Die ersten 30 Sekunden sind immer die besten des Tages, weil ich solange brauche, um mich daran zu erinnern, was gerade los ist. Seit gestern bin ich im Home-Office. Das ist eine enorme Umstellung, bislang haben wir eng im Team gearbeitet. Jetzt gibt es zwar einen Chat, aber darin passiert nicht viel. Wir müssen erstmal unsere Abläufe einstellen. Und technische Probleme sind da auch, nicht gerade wenige. Mein Mann arbeitet noch im Büro, also sitze ich alleine im Home-Office. Es ist seltsam, dass der Arbeitsplatz jetzt direkt neben dem Schlafzimmer liegt. Ich lese regelmäßig twitter und merke, dass es nicht gut tut, ich es aber auch nicht lassen kann. Jede*r postet ständig Artikel wie es jetzt weitergehen könnte. Es entstehen Diskussionen über Fake-News, die heute keine Fake-News mehr sind. Alle regen sich auf, niemand weiß genaues. Das ständige Updaten tut mir nicht gut, gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich könnte etwas “Wichtiges” verpassen. Aber was ist denn gerade “wichtig”? Gegen Mittag höre ich den neuesten Corona-Virus-Update-Podcast und wage mich hinaus. So ein paar Einkäufe will man dann ja doch erledigen. Auf dem Weg zum Supermarkt achte ich kleinlichst darauf, dass mir niemand zu nahe kommt, an der Ampel nähert sich mir dann trotzdem ein Mann, obwohl ich versuche ihm auszuweichen. Ich mache die
Social-Distancing-Playlist auf Spotify an, sehr eklektisch.
Im Supermarkt ist eigentlich alles wie immer, auch wenn es hier das zu sehen gibt, was ich schon von Fotos auf twitter kenne: leere Regale bei gewissen Produkten. Aber alle versuchen möglichst nett zueinander zu sein. An der Supermarktkasse telefoniert eine Frau, es geht um Nachschreibetermine und das Schulministerium und ich versuche niemandem nahe zu kommen, aber die zwei Meter Abstand, die empfohlen werden, hält niemand ein. Auf dem Weg zurück ins Home-Office schreibe ich Freunden, aber der Ausnahmezustand ist nicht wirklich spürbar. Es sind allerdings weniger Menschen unterwegs und ich habe das Gefühl, die Sirene der Polizei nebenan geht in letzter Zeit öfters als sonst, aber vielleicht bin ich auch nur viel sensibler dafür geworden. Abends registriere ich mich für eine Studie der Ruhr-Universität Bochum, die herausfinden will, wie sich unser Erleben und Verhalten gerade über die Zeit verändert. Bislang planen sie mit vier Tagen, die die Studie dauern soll.
Anna, Berlin Ich denke gerade sehr viel über Freiheit nach. Freiheit in all der Vielfalt, die dieses Wort beinhaltet. Unsere Freiheit ist mehr und mehr eingeschränkt, ist ja auch erstmal gut so, es ist wichtig, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, usw usf. Aber wie viel Freiheit wir plötzlich aufgeben. Es trifft mich. Es schnürt sich eng um meine Brust. Für wie lange wird das gehen? Wann dürfen wir wieder? Reisen, umarmen, Essen gehen, all diese kleinen Luxusmomente? Und Eltern, wann dürfen sie wieder etwas zusammen ohne die (kleinen) Kinder unternehmen? Ins Kino, Date Night, einfach raus? Sonst haben immer Oma und Opa aufgepasst, aber jetzt, tja, Risiko.
Wann wird die Freiheit wiederkommen? Und wie? Auf einen Schlag? Nach und nach? Werden wir sie uns erkämpfen müssen?
Viktor, Frankfurt Seit Tagen Diskussionen über Freiheit und was die richtigen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus’ sind.
Heute schrieb mir eine gute Freundin, (über 60 Jahre, DDR-Flüchtling), dass sie lieber am Virus sterbe als in einer Notstandsverordnungsgesellschaft zu leben. Sie schrieb auch “Ich werde die Grundsätze der Aufklärung niemals aufgeben”. Mich beschäftigt das. Ich frage mich, ob die naturwissenschaftliche Aufklärung, also das Wissen über das Virus, nicht auch ein Teil der Aufklärung ist? Mediziner und Naturwissenschaftler können sagen – oder zum jetzigen Zeitpunkt wohl auch nur vermuten – was gegen das Virus hilft, aber die entsprechenden Maßnahmen umsetzen müssen dann Politiker:innen. Und hier steckt ein gesellschaftlicher Konflikt. Mein Nachbar ist selbstständiger Optiker, er hat drei Kinder, er weiß nicht, wie er die nächsten Monate überstehen soll …
Wütend machen mich Gerüchte und Verschwörungstheorien. Wütend macht mich auch, dass viele Menschen sich nicht informieren, Unsicherheit nicht aushalten können und dann ihre Unsicherheit mit einfachen, realitätsfernen Erklärungen beruhigen.
18.3.2020
Marie Isabel, Dunfermline Mein Flug nach Deutschland wurde abgesagt. Das schon gebuchte Brahms-Konzert auch. Erstattungen erfolgen automatisch oder lassen sich leicht online vornehmen. Sogar die sonst nicht als mildtätig bekannte Deutsche Bahn macht einem Hoffnung … Die Welt ist wirklich aus den Fugen. Im hiesigen Supermarkt klaffen die gleichen Regallücken wie in Deutschland: kein Toilettenpapier (ich verstehe es immer noch nicht), wenig Tiefgefrorenes, null Spaghetti … An der Kasse meint ein Mann, in anderen Ländern seien leere Regale alltäglich, wir daran nur nicht gewöhnt. Ich nicke der Einfachheit halber. Es wäre zu umständlich, ihm zu erklären, wie beeindruckt ich Anfang 1990 war, als ich (DDR-Kind) zum ersten Mal in einen westdeutschen Supermarkt ging. Wann werde ich meine Familie wiedersehen? Ich sorge mich um sie. Sie sich um mich. Wie letztes Jahr um diese Zeit, als ich mitten in der Chemotherapie steckte. Im Nachhinein wirkt das wie ein Intensivvorbereitungskurs für die Pandemie: Menschenansammlungen meiden, ausreichenden Abstand von Hustenden halten, Hände gründlich waschen, im Zweifelsfall daheim bleiben, regelmäßig die Körpertemperatur messen, etc. Ich denke momentan viel an all jene, die sich jetzt in einer solchen oder ähnlichen Situation befinden, die besonders verletzlich sind … Als würde einem der Krebs nicht schon genug Angst machen. Ich hoffe, sie verbringen nicht allzu viel Zeit online oder vor dem Fernseher, wo es momentan eigentlich nur eine Nachricht zu geben scheint. Auf Twitter sehe ich, dass dank Little Miss Corona (wie eine Survivor aus meinem Bekanntenkreis Covid-19 nennt) der Sehnsuchtsort Venedig nun eine Geisterstadt ist – mit plötzlich wieder klarem Wasser in den Kanälen, bevölkert von Schwänen.
Here’s an unexpected side effect of the pandemic – the water’s flowing through the canals of Venice is clear for the first time in forever. The fish are visible, the swans returned. pic.twitter.com/2egMGhJs7f
Ich kann das erleichterte Seufzen der Erde förmlich hören. Manche Zeitung schwelgt derweil in postapokalyptischen Szenarien, die uns in Folge der Pandemie bevorstehen könnten.
— jasmin schreiber aka seeräuberbatman (@LaVieVagabonde) March 17, 2020
Es gibt Journalisten, die sollten vielleicht doch besser schlechte Literatur schreiben. Und es gibt Premierminister, die hätten lieber bei ihrem Zeitungsjob bleiben sollen. Dann würde so jemand wie Boris Johnson nicht in diesem Amt verkünden, dass aufgrund des neuen Virus „noch viel mehr Familien geliebte Menschen zu früh verlieren werden“. Ein Satz, der in meinem Kopf wider- und widerhallt, wie in einer Echokammer.
Nabard, Bonn Studientage dienen dem Eigenstudium und sollen von Studierenden genutzt werden, praktisch erlerntes theoretisch zu festigen. So viel zur Theorie. Ich nutze die Zeit um einen Zahnarzttermin wahrzunehmen. Die Straßenbahn fährt jetzt nach einem gesonderten Fahrplan. Hätte man mir gerne früher sagen sollen aber sei’s drum. Bin eh zu spät. Heute kam eine email, dass sollte es zu einer Ausgangssperre komme wir von unserem Krankenhaus eine Bescheinigung erhalten auch außerhalb der Sperrzeiten rausgehen zu dürfen. Zu meiner linken fließt der Rhein, ganz ruhig und wir überqueren die Konrad Adenauer Brücke. Ich selbst bin aufgewühlt und habe eine innere Unruhe. In den Nachrichten taucht jetzt vermehrt Professor Streeck auf, Virologe aus Bonn. Irgendwie entwickeln wir gerade eine Obsession zu Virologen. Problem ist nur, sie alle sind keine Kliniker. Was soll’s.
Die ganze Zeit begleiten mich Jay Electronica und Jay Z. Die passende Musik für so einen morgen.
Viktor, Frankfurt Immer wieder fasziniert, wie schnell in Krisen oder Stresssituationen Humor eine besondere Rolle im Alltag einnimmt. Menschen posten Bilder, wie sie in der Dusche – angekleidet, Kopfhörer im Ohr – wie in einer Straßenbahn stehen; Menschen witzeln über strikte Struktur für den besonderen Alltag, tragen in den Kalender ein “evtl. duschen” ein
Andere verzweifeln, weil sie als Ärzte zerrissen sind zwischen Fürsorge für die Familie und gesellschaftlicher Aufgabe
Ich habe 3 Kinder. Alles 3 gehen in die Notfallbetreuung, weil wir beide Ärzte sind und gerade dringend gebraucht werden. Gerade sind wir alle am Weinen, weil es nicht funktioniert. K2 hasst die Notfallbetreuung, weil sie nicht spielen dürfen, da die Schule sagt: 2 m Abstand. (1)
Berit, Greifswald Von einem besorgten älteren Verwandten aus Island bekommen wir auf Facebook ein Video mit einem “todsicheren Trick” um Corona-Viren zu bekämpfen. Ich schaue es mir komplett an. Es dauert mehrere Minuten und ist erstaunlich professionell produziert. Gegen hitzeempfindliche Viren soll es angeblich helfen, sich mit dem heißen Fön ins Gesicht zu blasen und die Viren so zu töten. Dazwischen soll man sich mit der Pflanzenspritze Wasser ins Gesicht spritzen, damit die Haut nicht geschädigt wird. Ich muss lachen, bei der Vorstellung, dass sich gerade viele Menschen mit dem Fön selbst behandeln. Angst geht seltsame Bahnen und wir sind wahrscheinlich alle gerade empfänglich für falsche Informationen und dumme Tipps. Es gibt einem das Gefühl etwas Handlungsmacht zu haben. Wir schreiben freundlich zurück, dass dieses Video nicht wissenschaftsbasiert ist. Vielleicht haben wir die virale Ausbreitung dieses Videos so zumindest an einem Zweig gestoppt.
Und die nächste Fuhre Fake News trifft bei meinen Eltern ein. Gestern bat ich sie, die Namen der Autoren zu googlen bevor sie es glauben. Sie machen es nicht. Oder sie machen es, aber verlieren nach dem ersten Suchergebnis die Geduld.
Birte, Darmstadt Heute auf dem Markt die Choreographie des neuen Körperregimes. Lange Abstandschlangen im Sonnenschein, die sich langsam und aneinander vorbei bewegen. Schlecht damit zurecht zu kommen scheinen mir all jene, die auch sonst nicht darüber nachdenken, wo ihr Körper anfängt und wo er endet.
Das erste Mal seit mein Sohn sehr klein war, sind wir mindestens fünf Wochen zusammen, keiner muss wegfahren oder morgens zur Schule. Noch ist das Homeoffice ein ohnehin eingeübter Zustand, noch macht er nicht mürbe, noch haben wir Phantasien, wie wir uns schöne Momente schaffen. Unsere Wohnung ermöglicht Alleinsein, draußen auf dem Balkon zu sitzen. Luxus, den wir jetzt deutlicher sehen.
Ich frage mich, ob ich ungeduldiger bin, mit schlecht komponierten Texten, wie dem zu Freiheitseinschränkungen in der Süddeutschen, mit den Appell-Tweets, die jetzt meinen oder schon immer meinten zu wissen, was das richtige ist. Früher haben sie mich gelangweilt, jetzt finde ich sie kaum erträglich.
Sorge bereitet mir die Situation in Großbritannien. Norbert Kraas aka @reclamekaspar hat dazu heute morgen einen so bitteren wie guten Text der Schriftstellerin A. L. Kennedy verschickt.
Mein vor drei Tagen aus Österreich zurückgekehrter Nachbar läuft an meinem Balkon vorbei. Da sitze ich beim Arbeiten und komme mir vor wie Frederick aus dem Kinderbuch von Leo Lionni. Den Plan haben wir für heute ausgesetzt.
Berit, Greifswald Island ist sehr stark von den Unmengen an Tourist*innen abhängig, die entscheidend daran beteiligt waren, dass das Land die Wirtschaftskrise von 2008 relativ gut überstanden hat. Der Wegfall dieser Touristen in Zeiten von Corona wird Island sehr hart treffen, die Folgen sind noch nicht absehbar. Die notorisch instabile isländische Krone ist bereits um 15% gefallen – das Gehalt meines Mannes, der für eine isländische Universität arbeitet, ist somit von einem Tag auf den anderen um 15% gesunken. Wir hoffen, dass es nicht noch mehr wird. Viele meiner Lesungen und Veranstaltungen sind ausgefallen oder abgesagt, mittlerweile fehlen Honorare im vierstelligen Bereich. Zumindest bleibt meine halbe Stelle an der Universität uns als Quelle eines stabilen Einkommens noch bis ins Frühjahr 2021 erhalten.
Fun Times, wenn in der Pandemie eines der Familienmitglieder das monatliche Gehalt in einer fremden Währung erhält und der Wechselkurs mal eben 15% fällt. Mit der isländischen Krone wird es nie langweilig.
Simon, Freiburg Mich irritieren im Moment Zahlen. Einerseits suche ich sie, weil das handfeste Anker für Entwicklungen im Chaos sind, andererseits verunsichern sie mich; und vor allem verwirren sie mich. Der Spiegel Online veröffentlicht einen Artikel mit Fallzahlen vom 14. März, ich werde wütend, weil ich diese Zahlen seit vier Tagen kenne, was soll mir das bringen? Die Johns Hopkins University veröffentlicht permanent deutlich höhere Zahlen als das Robert-Koch-Institut, gleichzeitig beobachte ich die Fallzahlen in meiner näheren Umgebung und dort, wo Familie und Freund*innen leben. Und bei all dem weiß ich, dass das sowieso nur identifizierte Fälle sind und dass Schätzungen davon ausgehen, dass ⅓ der Infizierten symptomlos bleibt. Eine Studie spricht von 7-10x so vielen Infizierten wie die offiziellen Zahlen anzeigen. Hier, schon wieder, Zahlen. Dann höre ich wie Christian Drosten Prozentzahlen einer britischen Schätzstudie zitiert, die er bei aller Vorsicht, die er deutlich ausdrückt, für relevant hält. Die Prozentzahlen klingen beruhigend, Krankenhausaufenthalte nur bei sehr niedrigen Prozentzahlen überhaupt nötig, intensivmedizinische Betreuung bei noch weniger, ich fahre innerlich herunter – dann nennt er die Studie alarmierend. Ich bin verwirrt, auch wenn ich verstehe, dass Prozentzahlen und und tatsächliche Zahlen in der Realität etwas anderes sind. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte einen Tick weniger Informationen.
“Schon wieder so viele gestorben.” Wenn man auf die Corona-Statistiken und Todeszahlen schaut, ist es nicht leicht, dabei ruhig und gelassen zu bleiben.
Ein langer Thread über Zahlen – und darüber, warum Vorsicht richtig und nötig, Todesangst aber nicht notwendig ist.
— Kinderpsychiater Dierssen (@KJPGehrden) March 17, 2020
Slata, München In aufgeregten Diskussionen bei facebook, etwa unter Beschlüssen des OB, Polizeiberichten, Rathausinformationen, finden sich ältere Frauen, die sich über Kinder auf Spielplätzen, Jugendliche in Parks beschweren, die zuständigen Ämter darauf aufmerksam machen wollen. Die stecken doch einander an, verbreiten es weiter, sie spielen, als ob da nichts wäre, wo sind ihre Eltern eigentlich, sind Eltern nicht für ihre Kinder verantwortlich.
Svenja, Köln Schreibt man Grußformeln? Hallo! Bei uns hat das Semester bereits angefangen (Niedersachsen, formerly Fachhochschule). Weil ich in dieser Woche auf einer Spring Academy in Portugal sein sollte, fielen die Seminare geplant aus bzw. die Studierenden waren mit Essay- und Rechercheaufgaben versorgt. Jetzt versuche ich eine Onlinelehre zu planen; das textlastigere Fan-Seminar mit älteren Studierenden lässt sich gut mit Skype oder Zoom durchführen, Text-Diskussionen werden als Chats durchgeführt, wir haben keine social-reading-Plattform und ich greife mit schlechtem Gewissen auf googledrive und die integrierte App Kami zurück: PDFs können geteilt und dann gemeinsam gelesen und kommentiert werden. Schenke ich google dafür alle meine Daten? Vermutlich. Ironie: Herhalten müssen zunächst Adornos Gedanken zu leichter Musik. Sorgen mache ich mir um jüngere und fremdsprachigere Studierende: Ist diese Form des Unterrichts überfordernd?
Dann versuche ich einen Leitfaden zur Onlinelehre zu formulieren: Richtet einen Arbeitsplatz ein (Laptop, Kopfhörer, Papier+Stift). Informiert Eure Mitbewohner:innen über die Seminarzeit. Wenn es geht: Schließt die Zimmertür. Ladet das Material vorher runter. Bereitet Euch vor. Seid weiterhin pünktlich. Strukturen helfen uns allen. Verlasst Euch bei Gruppenaufgaben aufeinander und seid verlässlich. Aber auch: Niemand erwartet, dass das das beste Semester Eures Lebens wird.
Slata, München Da kommt das Ökonomische ins Spiel, hätten wir, ja wären wir, stell dir vor, wir, jeder in seinem Arbeitszimmer, das Kind in seinem Spielzimmer irgendwo im zweiten Stock, in einem großen, hellen, gut eingerichteten, in so einem Zimmer könnte man Monate verbringen, ohne irgendwas zu vermissen, alles nach Bedürfnis und Geschmack und es hat einfach Stil, mit viel Luft unter hohen Decken, und abends essen wir gemeinsam auf der Veranda, so guter stabiler Holztisch, passendes Geschirr, hübsche Servietten, so ikeamäßig, alle lächeln und genießen und haben sich total gern, egal, wie lange die Quarantäne noch dauern sollte, wir zufrieden mit allem, was wir in unseren Arbeitszimmern geschafft haben den Tag lang, das Kind total happy, endlich ein paar Wochen allein Lego zu spielen, in seinem Zimmer mit Stil, dann räumen wir zusammen vom Tisch ab, denn wir machen so gerne alles zusammen.
Andrea, Tübingen So langsam spiegelt sich die neue Situation auch in neuen Formaten wie hier etwa in “Die Zeit”:
Liebe Scientific Community! In unserem @DIEZEIT-Newsletter #Wissen3 gibt es eine neue Rubrik, #PanAcademia: “Wie Corona meine wissenschaftliche Arbeit verändert – in 1 Bild und 560 Zeichen”. Freuen uns über Tweets und Zusendungen (wissendrei@zeit.de)!
Als ich das gesehen habe, habe ich spontan gedacht (& dann auch geantwortet), dass für mich die größte Umstellung in der Lehre liegen wird, nicht im wissenschaftlichen Arbeiten. Bei Letzterem sehe ich einfach Hürden, wenn die Bibliotheken zu sind. Da können wir Wissenschaftler*innen uns gegenseitig ein wenig aushelfen, aber vieles wird nicht greifbar sein. In der Lehre hat sich das bei mir aber auch entwickelt: Nach einer aktivistischen Phase, was die Umstellung auf online-Lehre betrifft, bin ich jetzt wieder stärker im Lese-Vorbereitungsmodus. Ich habe viele Links abgespeichert und kann mir das alles noch rechtzeitig in den nächsten Wochen ansehen und anlernen, falls am 20.4. tatsächlich unser Semester mit online-Teaching gestartet werden soll, aber eigentlich warte ich jetzt erstmal auf weitere Informationen für uns Lehrende. Relaxter bin ich vor allem, seit ich mir klar gemacht habe, dass es eben nicht darum gehen kann, Präsenzlehre vollständig durch tools in online-Lehre umzusetzen, sondern auch darum andere Formate zu finden. Und da habe ich Ideen & denke am Material entlang, mit dem ich mich gerade beschäftige. Gleichzeitig bin ich weiterhin über den ganzen Tag immer wieder auf Twitter. Ich verstehe, wen das eher nervös macht. Mir tut es gut. Zu sehen, dass es ähnliche Schwierigkeiten gibt im Umfeld, aber auch, um Neuigkeiten zu erfahren und zu teilen – z.B. heute eine Petition für den Schutz und die Unterstützung von Pflegekräften auf change.org. Vor allem aber bin ich dort vernetzt und bekomme neben Infos auch emotionalen Halt.
Marie Isabel, Dunfermline Meine Schwiegermutter teilt mit mir per WhatsApp ihre Begeisterung über den irischen Premier Varadkar. Dessen gestrige Rede zur derzeitigen Situation machte auch auf Twitter die Runde. Mit Blick darauf, dass ältere und chronisch kranke Menschen in naher Zukunft gebeten werden sollen, daheim zu bleiben, sprach er nicht von Selbstisolation – was technokratisch klingt, kalt, einsam – sondern von cocooning, was man als Rückzug an einen sicheren Ort übersetzen könnte, aber auch anders verstehen: als ein wärmendes Sich-Einspinnen, ein Verpuppen. Ich schwanke zwischen Grusel und Wohlgefallen. Meine Schwiegermutter jedenfalls verabschiedet sich wohlgestimmt und beruhigter mit Grüßen aus ihrem ‘Kokon’. Was Worte doch für einen Unterschied machen. Von ‘Superhelden’ sprach Varadkar ebenfalls und meinte damit jene, die die medizinische Versorgung der Bevölkerung stemmen. Überhaupt war diese Rede so ganz anders als die Äußerungen ‘führender’ Politiker wie Johnson, Trump, Macron: ehrlich und ohne den Ernst der Lage herunterzuspielen, aber gleichzeitig voller Zuversicht und Dankbarkeit angesichts dessen, was die Menschen bereits leisten. Gegen übertriebene Angst und für ein weltweites, solidarisches Miteinander. Letzteres sieht der britische Außenminister, Dominic Raab, übrigens als besten Ansporn, die Brexitverhandlungen ohne Verzögerung Ende 2020 abzuschließen. Ist das Wahnsinn oder hat es Methode? Gerade meldet die BBC mittlerweile 104 Tote in Großbritannien.
Svenja, Köln Ich bin irritiert davon, wie schnell ich diesen Status als neue Lebensrealität akzeptiere. Schon jetzt schaue ich Serien und denke automatisch: Warum treffen die sich diese Figuren? Warum sind sie gemeinsam auf der Straße unterwegs? Hat da jemand geniest?
Ein befreundeter Wissenschaftler schreibt, dass sich sein Alltag nicht besonders verändert hat – vielleicht liegt es daran, vielleicht sitzen wir (Single, kinderlos, promovierend) sowieso ständig alleine daheim. Ich teile das Zimmer, in dem ich wohne, arbeite, koche und schlafe nur mit ein paar Kompostwürmern, die meinen Biomüll zu wertvollem Pflanzendünger verarbeiten. Die meisten Menschen halten Würmer für unrein, meine leben in einem sehr eleganten Tongefäß. Gestern mischte ich ihnen – vielleicht als Soulfood gegen die Krise – viele Sellerieblätter unter die Erde. Meine eigenen Hummusvorräte neigen sich dem Ende.
Magda, Berlin Der Berliner Senat hat beschlossen, dass neben Lebensmittelgeschäften, Apotheken, Baumärkten und zahlreichen anderen Ausnahmen auch Buchhandlungen systemrelevant sind und daher geöffnet bleiben dürfen. Aus der Chefetage kommt daher die Anordnung, dass auch wir vorerst offen bleiben. Im Team vor Ort stößt das auf wenig Begeisterung, die meisten mit uns kommen mit einem flauen Gefühl im Magen zu ihrer Schicht. Die meisten Kund*innen sind freundlich und freuen sich, dass wir noch auf sind, aber längst nicht alle halten sich an die empfohlenen Sicherheitsabstände und ALLE FASSEN SICH STÄNDIG INS GESICHT.
Wenn ich heute wieder einen Kunden habe, der auf meine Vorsichtsmaßnahmen mit einem überheblichen “Du hast wohl ganz schön Angst, was?” reagiert, zünde ich alles an.
Auch oder vielleicht gerade weil ich bis auf weiteres meine Schichten im Einzelhandel ganz normal absolvieren muss, bin ich dauerhaft angespannt, kann mich zuhause auf nichts konzentrieren, habe ständig Kopfweh und Nackenschmerzen. Twitter ist mein Outlet für all den Frust, ich neige momentan deutlich mehr zum Oversharing als sonst.
Ich bin vor lauter anxiety und von der Arbeit so extrem verspannt, dass ich mir gerade ernsthaft mit meinem Magic Wand den Nacken massiere. Fühle mich wie in einer schlechten amerikanischen Komödie.
Jan, Hannover Seit einigen Tagen sind die Straßen so menschenleer wie auf den Captcha-Bildern. I am not a robot. Mein kleiner Hund (bekannt unter dem Namen Kleiner Hund) zieht auf dem Bürgersteig fröhlich nach vorne. Dreimal am Tag muss er raus, morgens und abends jeweils kurz, nachmittags lang, bei jedem Wetter, bei jeder Krankheit. Daran ändert auch Corona nichts. Wie Flugzeuge, die in Warteschleife über dem Flughafen kreisen, drehen wir Hundeleute also unsere Runden durch die einschlägigen Parks, stapfen die angelegten Wege entlang und halten respektvoll Sicherheitsabstand voneinander. Wo man früher kurz zusammengestanden und geplauscht hätte, winkt man sich nun von ferne zu. Die Hunde wollen sich beschnüffeln, miteinander herumtollen oder sich zurechtweisen, sie verstehen Social Distancing nicht. Manchmal tritt dann doch ein dazugehöriges Herrchen oder Frauchen zu einem, allem Abstandhalten zum Trotz. Das sind die, die Dir ungefragt erzählen wollen, wie übertrieben alles sei. Auch die Menschen verstehen Social Distancing manchmal nicht. Aber es hilft ja alles nichts, die Tiere müssen raus, sie müssen bewegt und geleert werden, sonst werden sie rammdösig oder kommen auf schlechte Ideen. Sollte es zu einer Ausgangssperre kommen, wird es hoffentlich geeignete Regelungen für Hund-Mensch-Gespanne geben, denn beim Fußball wie in der Hundehaltung gilt: You’ll never walk alone.
Viktor, Frankfurt Spannend zu sehen, wie jeder einzelne Mensch in meinem Umfeld die Corona-Krise vor allem durch die eigene Prägung wahrnimmt und das in Diskussionen nie eine Rolle spielt. (Gilt auch für mich, hier schreibe ich das aber mal auf.) Persönliche Erfahrungen mit Krisen lassen diese Situation ganz unterschiedlich wahrnehmen. Ich höre sehr oft “Ich glaube, dass …” in den Gesprächen über Corona. Aber was nützt jetzt, etwas zu glauben?
Zugleich ist es auch möglich, sich auf einen Punkt zu einigen: Viele Menschen halten Unsicherheit/Ungewissheit nicht aus und sehnen sich nach einfachen, vielleicht realitätsfernen, aber vorstellbaren Antworten und Erklärungen für das, was da passiert.
Tilman, Hamburg Das gibt es also wirklich, nicht nur in der Zeitung oder auf Twitter. Gestern hatte mir jemand per Whatapp geschrieben, seine Schwester habe von einer Freundin, die es wiederum von jemandem aus dem “Poltikbetrieb” in Berlin habe, gehört es soll Ausgangssperren geben. Morgens hört man dann, dass abends die Kanzlerin eine Fernsehansprache gibt. “Passt ja alles!!”, denkt man da und am Ende passt es doch nicht.
Ich antworte gleich auf Ihren Brief, damit Sie sich auch nicht die geringsten Sorgen meinetwegen machen müssen. Ich bin sehr froh, daß Sie so aufrichtig zu mir sind. Daß ich ein recht schwerer Fall bin, weiß ich ja selber auch. Es stimmt nicht, daß ich nicht idyllisch sein will. Ich möchte sehr gern, aber das wäre gelogen. Gerade diese Mischung von Dämonie u. Idylle, auf die ich unentwegt stoße, bereitet mir das größte Unbehagen u. fasziniert mich zugleich. Vielleicht wäre es meine Aufgabe gerade das glaubwürdig zu gestalten. Wahrscheinlich fehlt mir dazu die dichterische Kraft. Oder ich müßte einmal ein paar Monate allein sein u. Ruhe haben.
Marlen Haushofer war zweiunddreißig und hatte noch nichts veröffentlicht, als sie ihrem Mentor Hans Weigel am 23. Juli 1952 diesen Brief schrieb. Er hatte das Manuskript ihres ersten Romans gelesen, der, wie Weigel später berichtete, davon handelte, „daß irgendwo einige Frauen sind und es auf sorgsam ausgeklügelte Manier schließlich dazu bringen, daß ein Mann von ihnen umgebracht wird, ohne daß sie als Täterinnen belastet sind. Ende des Romans. Der klassische ungesühnte Mord.“ Weigel riet Haushofer aus Vorsicht, den Roman nicht zu publizieren. Er ist bis heute verschollen. Vermutlich hat Haushofer ihn – wie viele ihrer als misslungen oder zu privat erachteten Texte – verbrannt.
Dass sie sehr wohl die dichterische Kraft hatte, über Dämonie und Idylle zu schreiben, selbst ohne ein paar Monate Ruhe, beweisen die fünf Romane, zwei Novellen, drei Erzählbände und mehrere Kinderbücher, die sie anschließend veröffentlichte. Marlen Haushofer zählt nicht zu den vergessenen Autorinnen – ihr Werk ist lieferbar, wenn auch verteilt auf mehrere Verlage –, aber den ihr gebührenden Rang nimmt sie nicht ein. In den Literaturgeschichten fehlt ihr Name weitgehend, taucht höchstens in separaten Frauenliteraturgeschichten auf.
„Es muß einmal gesagt werden, Marlen Haushofer hätte es weiter bringen können.“
Das schrieb die Autorin selbst in ihrem „Nachruf auf eine vergeßliche Zwillingsschwester“, einem so selbstironischen wie beklemmenden Zeugnis ihrer inneren Zerrissenheit. Die von ihr konstruierte Doppelgängerin geht streng mit der Autorin ins Gericht, zählt zahlreiche Schwächen auf und enttarnt das Bild der natur- und kinderlieben Schriftstellerin als ein für die Öffentlichkeit produziertes Image. Der Zwiespalt, der hinter diesem Kunstgriff steckt, dürfte in dem Versuch gründen, in einer österreichischen Kleinstadt der Fünfziger- und Sechzigerjahre zwei miteinander unvereinbare Leben zu führen: das der Autorin und das der Mutter und Ehefrau. Dass sie schrieb, sahen ihr Mann und ihre Söhne nicht gern, es sollte den Familienalltag nicht beeinträchtigen. Also tat sie es mit Hilfe von Cola und Kaffee morgens zwischen halb fünf und halb sieben oder abends zwischen neun und Mitternacht, und fuhr nur gelegentlich nach Wien, um andere Schriftsteller*innen zu treffen.
1954 wurde sie eingeladen, bei der Tagung der Gruppe 47 in Italien aus ihrem noch unveröffentlichten Roman Eine Handvoll Leben zu lesen. Die Novelle Das fünfte Jahr war inzwischen erschienen und Haushofer mit dem Staatlichen Förderungspreis für Literatur ausgezeichnet worden. Zu dieser Reise kam es jedoch nicht – vielleicht ein Grund dafür, dass „‚die Haushofer’ auch heute noch so gar nicht als Zeitgenossin von ‚der Bachmann’ wahr- und ernstgenommen“ werde, wie Daniela Strigl in ihrer Haushofer-Biografie schreibt. Ingeborg Bachmann, die viel reiste und deutlich mehr Ehrgeiz und Formwille an den Tag gelegt habe, sei Ende der Fünfzigerjahre schon berühmt gewesen. Haushofer dagegen lebte als Zahnarztgattin und Mutter zweier Söhne in Steyr ein bürgerliches Leben und äußerte sich immer wieder in dem Sinne, keine Freude an einem gelungenen Buch zu haben, „wenn ich das Gefühl hätte, mich meiner Familie gegenüber nicht genug bemüht zu haben“. Man könne nicht zwei Herren dienen, und „der lebende Mensch“ habe für sie immer Vorrang. Strigl zufolge war das jedoch auch eine gute Ausrede, um absolute Ansprüche gar nicht zuzulassen:
Indem sie ihr Werk bewußt zur ‚Hausfrauenprosa’ stilisierte, hat Marlen Haushofer sich von vornherein einer weiblichen Autorenschaft verschrieben und sich, anders als Ingeborg Bachmann, die männliche Rolle nie angemaßt. Andererseits hat sie sich so auch nie dem Gesetz des männlichen Genie-Ideals unterworfen. Ihre legendäre Bescheidenheit diente ihr als Schutzschild gegen allzu große Erwartungen, sie war Ausdruck einer Verweigerung.
Es gibt aber auch Aussagen von Haushofer, die das Schreiben viel höher werten und es über die Familie stellen. „Eigentlich kann ich nur leben, wenn ich schreibe u. da ich derzeit nicht schreibe, fühle ich mich versumpft u. ekelhaft“, schrieb sie 1967 in ihr Tagebuch. Oder: „Wenn ich vorher gewußt hätte, daß Schreiben mein Lebensinhalt ist … hätte ich vielleicht keine Kinder bekommen.“
Schutzraum und Käfig
Betrachtet man diese widersprüchlichen Aussagen für sich, scheinen ihre Prioritäten jeweils klar – zusammen betrachtet bedeuten sie einen Konflikt, der jeden Tag von Neuem bestimmt werden muss. Haushofers Figuren trachten immer danach, die lästigen Pflichten hinter sich und Abstand zwischen sich und die Familie zu bringen. In Eine Handvoll Leben verlässt die Protagonistin Mann, Kind und Liebhaber mittels vorgetäuschtem Selbstmord, um ein freies, unabhängiges Leben zu beginnen. Die Protagonistin in Die Mansarde, Haushofers letztem Roman, verlagert ihre „unbürgerlichen Ausschweifungen“ in ihre Dachkammer, die die anderen nicht betreten. Dort zeichnet sie und denkt ihre „Mansardengedanken“. So ist schön säuberlich getrennt, was hierhin und was dorthin gehört:
Ich habe einen bürgerlichen Mann geheiratet, führe einen bürgerlichen Haushalt und muss mich entsprechend benehmen. … Dinge und Gedanken, die mein Mansardenleben betreffen, haben nicht in das übrige Haus einzudringen.
In fast allen Büchern von Marlen Haushofer finden sich Frauen in der Einsamkeit wieder oder suchen einen Ort für sich, sei es innerhalb der Familie oder außerhalb von ihr. Sie suchen einen Rückzugsraum, der für Freiheit steht und das Leben erst erträglich macht, einen Überlebensraum. Um die Ordnung aufrechtzuerhalten, wird das dort stattfindende eigene Leben jedoch weggeschlossen, wird die Kreativität domestiziert, durch Putzzwang und andere sich ständig wiederholende eintönige Tätigkeiten bezwungen, „eine Art Austreibungsritual“ schreibt Marlene Krisper in ihrem Essay über Marlen Haushofer. Haushofers Figuren führen ein Leben zwischen Anpassung, Widerstand und Resignation. In der Novelle Wir töten Stella heißt es:
Mein Zorn ist längst verraucht, geblieben ist nur das Grauen, das mich ganz beherrscht und in dem ich wohne wie in einem verhassten Raum. Es ist in mich eingedrungen, es hat mich ganz durchtränkt und begleitet mich überallhin. Es gibt keine Flucht.
In Die Wand, Haushofers eindringlichem opus magnum, das sie selbst am gelungensten empfand, wird das Bild des eigenen Raums konsequent zu Ende gedacht. Die Protagonistin, die mit ihrer Cousine und deren Mann ein Wochenende in einer Jagdhütte verbringen wollte, findet sich plötzlich allein im Tal, vom Rest der Welt durch eine durchsichtige Wand abgeschlossen, hinter der alles tot ist. Abgeschnitten von der Menschheit und ihrem gewohnten Leben, ist sie zurückgeworfen auf die Gesellschaft der Tiere, die mit ihr diesseits der Wand sind, und auf die Erprobung ihrer archaischen Fähigkeiten, ohne die sie nicht überleben können wird. Sie ist radikal auf sich gestellt und muss lernen, autonom zu leben. Und das gelingt. Die Wand, die jede Flucht unmöglich macht, ermöglicht zugleich erst das Überleben, ist in ihrer Bedeutung also hochgradig ambivalent. Das verschont gebliebene Tal, der eigene Raum, ist Schutzraum und Käfig zugleich, es gibt kein Entrinnen.
Tief empfundene Ausweglosigkeit
Nicht wenige Rezensent*innen verurteilten den Roman bei seinem ursprünglichen Erscheinen 1963 aus moralischen Gründen: weil Gott darin keine Rolle spiele und der Erzählerin die anderen Menschen gar nicht wirklich fehlten. Clara Menck fiel in der FAZ die Unfähigkeit zu lachen der Ich-Erzählerin auf, die sie zu der Frage veranlasste, „ob Menschen ohne erotische Begabung nicht immer humorlos sind“. Die Rezensentin weiß aber, unter welchen Umständen „eine gute Erzählung daraus“ hätte werden können, nämlich wenn sich Marlen Haushofer von Anfang an von ihrem Thema oder Objekt distanziert hätte.
Größeres Aufsehen als die Originalausgabe erregte die Neuausgabe von Die Wand im Jahr 1983, die die Autorin nicht mehr miterlebte. Der Roman wurde nun im Kontext der atomaren Aufrüstung, der Friedens- und der Frauenbewegung gelesen, als Science Fiction und als Emanzipationsgeschichte. Auch diesmal fällt eine Besprechung auf, in der es in erster Linie um Außerliterarisches geht. Christa Kickbusch schrieb in der taz:
Es ist bedauerlich, daß nur wenige schreibende Frauen […] positive spielerische Fantasien entwickeln. Die meisten Autorinnen sind noch dabei, sich die Wunden zu lecken, die nur eine naßkalte Einsamkeit absondern, und nur selten Milch und Honig. Und es ist ebenso bedauerlich, daß ein Großteil der Verlagsproduktion die Tendenz ‚Frauenleben als Frauenleiden’ weiterhin perpetuiert, nur selten durchbrochen von starken unverschämten, humorvollen Frauenbüchern, von denen es doch auch mehr geben muß. Ich zumindest kann mit der Richtung ‚unser Leiden ist die letzte Stärke, die uns noch geblieben ist’ nichts anfangen, […] Leiden hat für mich nur Sinn, wenn es Bewältigung, Ansatz zu einer Veränderung ist. Solche Bücher wie M.H’s. Die Wand machen mich traurig und ängstlich, irritieren und betäuben mich in ihrer Auswegslosigkeit.
Dass gerade die Ausweglosigkeit die tief empfundene Lebenswirklichkeit von Haushofers Protagonistinnen ist, will hier nicht gesehen werden; dass Resignation und Depression zu bestimmend sind, um die für einen Aufbruch nötige Energie aufzubringen. Frauen sollen nun gefälligst stark, unverschämt und humorvoll sein und auch so schreiben. Es scheint eine Notwendigkeit zu bestehen, sich von dem bei Haushofer beschriebenen Lebensgefühl zu distanzieren, von Geschlechterrollen, die man in den Achtzigerjahren überwunden zu haben glaubt. – Vielleicht auch ein Grund dafür, dass Marlen Haushofer nicht den ihr gebührenden Platz in der Literaturgeschichte einnimmt.
Für die Autorin war die Wand, wie sie in einem Interview sagte, „eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird.“ Andere erkannten deshalb in Haushofers geschilderten Seelenzuständen ein Urbild der conditio humana und verglichen ihre Texte mit denen von Kafka und den Existenzialisten, vor allem mit Albert Camus.
Verschweigen und Verdrängen
Der Kontext von Haushofers Schreiben waren eben nicht die Achtzigerjahre, sondern die unmittelbare Nachkriegszeit, was nicht nur starre Rollenbilder bedeutete, sondern auch die Tabuisierung der jüngsten Vergangenheit und das kollektive Verdrängen erlebter Traumata. Die Antithese von Verdrängen und Erinnern zieht sich denn auch durch Haushofers Werk; mehr als einmal werden etwa alte Briefe gefunden und verbrannt, die Vergangenes lebendig werden lassen. In diesen Zusammenhang gehört auch die 1955 entstandene Novelle Wir töten Stella, die als eins von Haushofers Meisterwerken gilt.
Stella ist die neunzehnjährige Tochter einer Freundin, die für einige Monate bei der Familie der Erzählerin Anna unterkommt – eine schwierige Situation, weil ein anderer ja „die unzähligen Tabus“ nicht kennt, „die wir im Umgang miteinander beachten müssen.“ Nachdem Annas Mann Stella verführt und geschwängert, eine Abtreibung veranlasst und die Affäre beendet hat, wirft Stella sich vor einen Lastwagen und stirbt. Der Erzählerin ist bewusst, dass ihre Rolle dabei keine passive war, dass auch sie Schuld trägt an diesem Tod, diesem Mord. Im Psychogramm dieser bürgerlichen Familie spiegeln sich die Kriegserlebnisse und das Verdrängen der Nachkriegsgesellschaft, auf das sich zahlreiche Anspielungen finden lassen. Für beide Bezugsrahmen gilt, wie Daniela Strigl schreibt: Wer gute Miene zum bösen Spiel macht, entscheidet sich für lebenslange Gefangenschaft.
In ihrem eigenen Leben entschied sich Marlen Haushofer immer wieder, einschneidende Ereignisse zu verschweigen. Mit zwanzig wurde sie schwanger und bekam das Kind 1941 in einem Heim für ledige Mütter. Ihren streng katholischen Eltern verheimlichte sie diesen Sohn, der zunächst von der Mutter einer Freundin aufgezogen wurde. Drei Monate nach der Niederkunft heiratete sie Manfred Haushofer, der den „Fehltritt“ akzeptierte. Zwei Jahre später kam der gemeinsame Sohn Manfred zur Welt. Erst, als ihr Erstgeborener sechs war, holte sie ihn zu sich, lernten die beiden Söhne sich kennen und lebten von da an die Normalität einer Familie. Die Wahrheit erfuhren sie erst als erwachsene Männer, nach dem Tod der Mutter.
Auch dass ihre Eltern sich zwischenzeitlich hatten scheiden lassen, weil Marlen Haushofer eine Affäre ihres Mannes nicht hinnehmen wollte, erfuhren die Söhne erst spät und durch Zufall. Weil der Vater nicht hatte ausziehen und die Mutter für sich und die Kinder ebenfalls nichts Eigenes hatte suchen wollen, lebten sie weiterhin zusammen und heirateten später sogar erneut – weil man „in Steyr nicht geschieden sein“ könne, wie Haushofer einer Freundin sagte. Dabei hatte von der Scheidung dort überhaupt niemand gewusst.
„Diesen ungebrochenen Weg des Verschweigens, Verdrängens und Sublimierens geht Marlen bis zum Tag ihres Todes“, schreibt Marlene Krisper. Den Knochenkrebs, der 1968 diagnostiziert wurde, nannte sie „verflixte Verkalkung“ und nach vierunddreißig Bestrahlungen schrieb sie ihrem Verleger, der Prozess sei gutartig und sie sehr glücklich davongekommen. Auch ihren Kindern und ihrem Mann verschwieg sie, dass sie unheilbar krank war. Dieser wusste längst Bescheid, beschloss aber seinerseits, darüber zu schweigen. Echte Nähe, echter Austausch schien keine Möglichkeit zu sein. „Wir sitzen hier und spielen eine Szene, die nicht ganz stimmt, die aber doch ein guter Ersatz ist für die wirkliche Szene, die nie gespielt wird“, heißt es in Die Mansarde.
Auch Haushofers Figuren stellen sich taub und blind, wenden sich ab, suchen das Gespräch mit dem Gegenüber nicht, äußern Gefühle nicht und nehmen sie nicht wichtig – eine Härte gegenüber anderen und sich selbst, die unauflöslich verbunden ist mit ihrer existenziellen Einsamkeit. Vielleicht ist es das, was Haushofers Werk so faszinierend macht. Dass es eben nicht um abseitige, spezielle Befindlichkeiten geht und schon gar nicht nur um eine Psychosoziologie des Hausfrauendaseins in den Fünfzigerjahren, nicht mal nur um die innere Verfasstheit der Kriegsgeneration – sondern um den Kern menschlichen Seins. Obiger Brief an Hans Weigel aus dem Jahr 1952 endet mit den Worten:
Ich steh auf einem Platz, auf den ich nicht gehöre, lebe unter Menschen, die nichts von mir wissen u. die Hälfte meiner Kraft geht schon auf, in der Anstrengung die es mich kostet unauffällig zu bleiben. Je älter ich werde, desto klarer sehe ich, wie hoffnungs- und ausweglos wir alle verstrickt sind und ich bin froh für jeden, der nie zu Bewußtsein kommt.
Marlen Haushofer starb am 21. März 1970 in einem Wiener Krankenhaus, drei Wochen vor ihrem fünfzigsten Geburtstag.
Von Marlen Haushofer
Das fünfte Jahr
Eine Handvoll Leben
Die Tapetentür
Wir töten Stella
Die Wand
Himmel, der nirgendwo endet
Schreckliche Treue, Gesammelte Erzählungen
Die Mansarde
Der gute Bruder Ulrich: Märchen-Trilogie
Über Marlen Haushofer
Andreas Brandtner, Volker Kaukoreit (Hrsg.), Marlen Haushofer, Die Wand: Erläuterungen und Dokumente, Leipzig: Reclam, 2012.
Markus Bundi, Begründung eines Sprachraums: Ein Essay zum Werk von Marlen Haushofer, Innsbruck: Limbus, 2019.
Anne Duden, Irmela von der Lühe, Manuela Reichert (Hrsg.), „Oder war da manchmal noch etwas anderes?“, Texte zu Marlen Haushofer, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik, 1995.
Marlene Krisper, Das ordentliche Leben der Marlen Haushofer: Ein Essay, Steyr: Ennsthaler, 2010.
Daniela Strigl, „Wahrscheinlich bin ich verrückt …“ Marlen Haushofer – die Biografie, Berlin: List, 2007.
Liliane Studer (Hrsg.), Die Frau hinter der Wand, Aus dem Nachlaß der Marlen Haushofer, München: Claassen, 2000.
In diesem kollektiven Tagebuch wollen wir sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. Dazu werden wir kleine Gedankenmiszellen sammeln und versuchen Tweets, die uns signifikant vorkommen oder bestimmte Entwicklungen besonders gut oder interessant zusammenfassen, zu sammeln und zu kommentieren. Der flüchtige und schnelle Diskurs in den sozialen Medien bildet einerseits gesellschaftliche Dynamiken rasch und intensiv ab, andererseits stellt er ein gravierendes archivarisches Problem dar, weil sich die Verläufe kaum nachträglich abbilden lassen. Deswegen soll hier der Versuch unternommen werden, diese Eindrücke (mit Verlinkungen zu eigenen und fremden Tweets) zu sammeln – soziale Distanz und sozialmediale Nähe. Eine Zusammenfassung wird wöchentlich auf 54Books erscheinen.
Woche 1: 9. März bis 15. März
11.3.2020
Berit, Greifswald
Wie bringt man geliebten älteren Menschen bei, dass sie sich von Menschenmengen und Veranstaltungen fernhalten sollen? Das Thema Autonomie versus Sorge treibt nicht nur in den sozialen Medien viele Menschen um. Ich rufe mehrfach bei meinen Eltern an und bitte sie unnötige Termine abzusagen. Es ist eine interessante Umkehrung der Verhältnisse plötzlich das besorgte Kind zu sein, dass auf die Eltern einredet und um Vorsicht bittet. Mit diesem Gefühl scheine ich nicht allein zu sein und das hilft mir. Wir rufen auch unsere isländische Familie an. Mein Schwiegervater ist Taxifahrer, wir sorgen uns um ihn, der bei seiner Arbeit mit vielen weitgereisten Menschen in Kontakt kommt. Er hat beschlossen sich für eine Weile aus dem aktiven Geschäft zurückzuziehen, doch wie soll er dann den neuen Wagen bezahlen, den er gerade erst angeschafft hat?
#wasfehlt Selbsthilfegruppe für Angehörige älterer Menschen, die alle Coronavirus-Vorsichtsmaßnahmen verweigern, “mir fehlt doch nichts, hier ist niemand krank, was soll schon sein, an irgendwas stirbt man ja eh”.
Johannes, Bonn
Es ist folgerichtig, dass auch diese Krise nicht auskommt, ohne rätselhafte Erotisierungen. Fast scheint es eine anthropologische Grundkonstante zu sein, dass man mit Teilaspekten einer Bedrohlichen Situation seinen sexy Schabernack treibt. Und so musste und muss der gerade beruhigend allgegenwärtige Virologe Christian Drosten (oder wie das Netz ihn geiernd nennt Prof. Dr. Christian Drosten) für allerlei Projektionen und halb ironische Schelmereien herhalten. Eros und Thanatos liegen eben doch eng beisammen.
Wenn man in Himmel kommt sieht man einen Mann mit Wuschelhaaren vor einer Leinwand stehen, er malt einen idyllischen kleinen See mit Jägerhäuschen vor Alpenpanorama.
Der Mann dreht sich zu Dir um: Es ist Prof. Dr. Drosten.
– zuhören
– kochen können
– Augenkontakt kein Problem
– Christian heißen
– sportlich sind
– promoviert
– gut gekleidet
– saubere Fingernägel
– Nachname Drosten
– Virologe
– Christian Drosten
– du kleine Süßmaus
(Nachtrag 14.3.2020) Aber ach, auch dieser harmlose Spaß bleibt nicht harmlos. Sachte Kritik an diesem leicht ins Personenkultige abgleitenden Spiel wurde sofort mit einer Flut von empörten schnappatmenden Kommentaren überschüttet.
Verstehe den Hype um Drosten nicht so ganz, um ehrlich zu sein. Wird nicht wieder mal ein Weißer cis Mann angehimmelt, nur weil er seinen Job ordentlich macht?
Elisa, Berlin
hab ausser 1 pkg klopapier noch nichts eingekauft, gehöre zu diesen maximalüberforderten.
aber verstehe ich richtig: geschäfte (jdf supermärkte) bleiben geöffnet, die müllabfuhr kommt weiterhin + die briefe der inkasso-unternehmen erreichten mich auch noch im entlegensten lazarett?
ok den hafer flat triple shot muss ich mir bis auf weiteres wohl selbst zubereiten. aber jetzt ist eben der punkt erreicht für maßnahmen die weh tun
Johannes, Bonn
Selten so viel über Klopapier gelesen und damit zwangsläufig auch nachgedacht. Es funktioniert wahrscheinlich so. Die meisten Menschen haben gar nicht geplant, eine Menge Klopapier zu hamstern (auch ein Wort, das später, wenn alles vorbei ist, als parodistischer/nostalgischer Nachklang an unserer Sprache kleben bleiben wird), aber wenn man hört, das Klopapier wird knapp, gerät man in Panik, und beginnt selber zu hamstern. Gleichzeitig auch Kaufscham, Panik vor der Panik. Inzwischen werden leere Regale zur ikonischen Trophäe auf Social Media. So entstehen Bilder der Zeit, durch visuelle Verdichtung des immer gleichen Bildwitzes. Schaut mal, bei mir im Rewe gibt es auch kein Barilla mehr. Gleichzeitig regen sich aber auch kritische Stimmen, die auf die Multiplikatorfunktion dieser Bilder verweisen.
Ähm. Sind denn alle komplett deppert oder wie?
Interspar Sandleitengasse hat leere Regale. So gespenstisch. pic.twitter.com/AMZNOg5mRu
“Wenn Sie kein Brot haben sollen sie halt Kuchen essen!” ich fange jetzt an für jedes Bild von leeren Regalen volle zu posten… Es hat keinen Sinn leere regale zu posten, es verstärkt lediglich Panikreaktionen und die brauchen wir sicherlich nicht pic.twitter.com/c8niN4oN5v
Berit, Greifswald
In den sozialen Medien sprechen alle über Toilettenpapier. Nudeln und Klopapier scheinen zu wichtigen Objekten zu werden, anhand derer sich einerseits die Sorge hamsternder Menschen ausdrückt und andererseits der Spott darüber. Die Tweets sind so zahlreich, dass es zu Ermüdungserscheinungen kommt. Mit den angekündigten Schulschließungen bereiten sich Eltern darauf vor wochenlang ihre Kinder zu Hause zu betreuen und dabei schwirren die absurdesten Ideen und Lösungsvorschläge umher. Wir überlegen, wie wir die nächsten Wochen mit drei Kindern ohne Betreuung durch Schule und Kita zu gestalten. Alle Kinder haben einen Atemwegsinfekt mit leichtem Fieber, sie erkranken nacheinander. Bei jedem Husten der Gedanke an den Virus, vielleicht haben wir ihn schon? Ich bin froh, dass ich vor zwei Wochen bereits unsere Fiebersaftvorräte aufgestockt habe.
So langsam setzt die Phase ein, in der die Leute nicht mehr wissen, was sie zu Corona noch tweeten sollen.
Vielleicht sollte ich mal Menschen ein Kurzpraktikum in meiner Familie anbieten, damit einige Vorstellungen in Bezug auf Kinderbetreuung und Home-Office mit anwesenden Kindern mit der Realität abgeglichen werden.
Sonja, Köln
Eine Sprachnachricht auf Whatsapp geht rum. Eine Nachricht von der “Mama vom Poldi”:
„Hallo, liebe Isabella, hier ist die Elisabeth, die Mama vom Poldi. Ich wollte dir nur kurz eine Information zukommen lassen, bei der ich dich auch bitten würden, dass du sie weiterverteilst, weitergibst und auch bittest sie weiterzugeben. Ne Freundin von mir ist an der Uniklinik in Wien, die hat mich heute angerufen und die hab’n halt mal so’n bisschen Forschung betrieben, warum in Italien so viele so heftige Coronafälle aufgetreten sind…“
Jemand schreibt in die Whatsappgruppe:
“In Wien wurde herausgefunden aber nicht offiziell das Ibuprofen corona begünstigt. Also lieber Paracetamol nehmen wenn jemand Schmerzen derzeit hat.”
In der gleichen Whatsappgruppe wird uns von jemand anderem ein wenig später kommentarlos der “Coronacodex”, eine Aufforderung zur “Selbstverpflichtung während der Covid-19-Epidemie”, weitergeleitet:
Eine Frau aus der Gruppe schreibt darunter: “Sorry aber das ist nicht meine Welt… :)”
Tilman, Hamburg
Man soll ja unbedingt vor die Tür. Als wir auf Daniel warten, laufen an uns zwei Männer vorbei, die heftig streiten. Ich vermute, sie sind aus einer Kneipe geflogen, dabei ist es bereits 11 Uhr. Der eine redet auf den anderen ein, das würde nie wieder passieren. Ständig würde er das versprechen, entgegnet er, und dann würde es doch wieder passieren.
Mit Daniel gehen wir in diesen neuen Kaffeeladen am Grünen Jäger, der gar nicht mehr so neu ist und dort, wo früher der Blumenladen war von der unfreundlichen Frau, die angeblich früher mal Prostituierte war. Dort läuft Metal. Niemand ist im Laden. Wir nehmen zwei Cappucino mit Hafermilch, Daniel möchte einen Kakao. Dann laufen wir Richtung Planten un Blomen. Metal in einem Coffee Shop ist auch wirklich die unwirtlichste Musik. Irgendwie wäre ich deswegen gerne geblieben.
Matthias, Jena
Es ist vermutlich Zufall, aber ich werde gerade mit Korrekturaufträgen überschüttet und alles andere, was ich so beruflich mache, läuft auch weiter. Ich arbeite ohnehin seit 2017 fast nur zuhause, es sind Semesterferien (und als Lehrbeauftragter betrifft das ja auch nur zwei Stunden die Woche), von Februar bis zur vorletzten Aprilwoche habe ich nur einen einzigen bezahlten Termin verloren, wir haben keine Kinder. Mir kommt es fast unwirklich vor, da um mich herum das Leben mehr oder minder aller auf den Kopf gestellt wird, sich aber für mich nichts ändert, außer, dass meine Frau jetzt auch zuhause arbeitet. Ich habe richtig viel zu tun und am Mittwoch eine Deadline. Wie merkwürdig, dass das bleibt, mitten im Ausnahmezustand.
Soziale Medien machen mir mehr zu schaffen als sonst schon. Ich komme nicht gut damit klar, wie einfach und radikal die Situation für einige zu bewerten ist und wie egal Tatsachen sind. Es ist, als wäre sich das halbe Internet einig, dass Deutschland ein völlig rappeliges, »kaputtgespartes« Gesundheitssystem hat, was keine Kennzahl im geringsten hergibt, dass irgendwie »der Neoliberalismus« schuld an allem ist und jetzt die natürliche Chance ist, den herbeigesehnten Sozialismus einzuführen, und wie schon mein ganzes erwachsenes Leben denke ich auch jetzt, dass diese Leute doch sicher irgendetwas besser verstanden haben müssen als ich, dass sie irgendwie Recht haben müssen und ich nur zu dumm bin, während sich gleichzeitig irgendetwas in mir auflehnt und ich mit ihnen diskutieren will. Ich hatte einmal einen linksradikalen Mitbewohner, der zu einer der letzten Grippewellen meinte, die Bundesregierung hätte lieber ein paar zehntausend Tote riskieren als sich von der Pharmaindustrie erpressen lassen sollen, Tamiflu und Impfstoffe zu bunkern. Immerhin höre ich diesmal nichts in die Richtung.
15.3.2020
Berit, Greifswald
Der Corona-Virus verbreitet sich in Europa und mittlerweile befinden sich immer mehr Menschen in selbst verordneter Distanz, Schulen und öffentliche Einrichtungen sind ab Montag geschlossen, Krankenhäuser bereiten sich auf den Ansturm vor. Im Internet und auch in Interviews werden plötzlich Dinge denk- und sagbar: Macron hinterfragt den Neoliberalismus, es wird von Verstaatlichung gesprochen, gräßlicherweise wird Eugenik wieder ein Thema. In Italien singen die Menschen im Lockdown von den Balkonen, was zu Rührung und Witzeleien einlädt.
(Wollte ja immer dabei sein, wenn „Geschichte passiert“, Kubakrise und sowas. Findet man auch nur, wenn man den Ausgang schon kennt, wird mir gerade so bewusst.)
Ob Corona der Anfang von etwas ist? Mehr Umsicht, mehr Bewusstsein für prekäre Beschäftigungsverhältnisse? Für Care-Berufe? Für Freiheit? Etwas Gutem im Schlimmen?
Andrea, Tübingen
Die Formulierung die Lage sei “dynamisch” höre ich schon eine Weile, nun wird sie greifbar: Durch die neuen Maßnahmen, die die Bundesländer ergreifen, vor allem die Schulschließungen, aber auch die vielen Absagen von Veranstaltungen, neue Regelungen für Kneipen etc. Es sind bestimmte Massenveranstaltungen, die man im Nachhinein als besonders kritisch erkennen kann, dazu gehört auch der Fasching, den man wegen Hanau sowieso hätte absagen müssen! Auf Twitter werden Bilder von Menschenmassen geteilt, die so tun, als wäre erst ab Montag Krise, und es gibt Menschen, die offenbar einfach jede Regelung als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit ansehen. Dabei geht es um unsere Verantwortung.
Wer sich jetzt über Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus aufregt, bitte an die Adresse Karneval, Ballermann-Skigebiete & die ‚solange es nicht verboten ist, mache ich es‘-Spirit-People.
Vor einer Woche veröffentlichten die taz und 54Books einen offenen Brief, in dem eine Gruppe von Autor*innen des Rowohlt Verlages forderte, die Veröffentlichung der Memoiren Woody Allens zu überdenken. So wie das Hachette bereits getan hatte. Allen wird vorgeworfen, seine Adoptivtocher Dylan Farrow missbraucht zu haben. Im Anschluss an diesen offenen Brief erhob sich in den sozialen Medien ein Sturm der Entrüstung gegen den offenen Brief und seine Anliegen. Die Rede war unter anderem von Guillotine, Reichsschrifttumskammer, Stasi, Pranger und Mob, Hexenjäger, Stalinismus und immer wieder Bücherverbrennung. Nun ist bekannt, dass im Internet die rhetorischen Exzesse übertriebener Vorwürfe und unangemessener historischer Analogien leider keine Seltenheit sind. Gott sei Dank sind unsere etablierten Medien und Medienschaffenden an einer zivilisierten Debattenkultur interessiert. Hier ein kurzer Pressespiegel.
“Deswegen ist es an der Zeit, dem, man muss es einmal so sagen, denn der Schaden, den er anrichtet, wird immer größer: dem Moralpöbel das Maul zu stopfen. ‘Moralpöbel’ ist hier zu verstehen als Sammelbegriff für all jene, die sich etwas anmaßen, was ausschließlich Sache der Justiz ist: über die Schuld und Strafwürdigkeit eines anderen Menschen zu urteilen und dieses Urteil auch noch in der Öffentlichkeit herumzuposten und zupesten. (Edo Reents, FAZ)
“Man hat das Gefühl, ein Mob rottet sich gerade zusammen, der neues Fleisch sucht, neue Beute.” (Eva C. Schweitzer im Cicero)
“Denn durch diesen offenen Brief weht der Geist einer Bürgerwehr, einer legalen zwar, weil sie keine Gewalt anwendet, aber einer durchaus gefährlichen.” (Tobias Wenzel im DLF)
“Deutsche Schriftsteller, die niemand kennt, protestieren gegen den grossen Woody Allen. Präventive Bücherverbrennung.” (Roger Köppel auf Twitter).
“Inzwischen leisten – wie im Stalinismus – Schauspieler öffentlich Abbitte, dass sie je mit ihm gearbeitet haben.“ (Eva Menasse, FAZ)
“Der Kommunismus und der Nationalsozialismus waren totalitäre Bewegungen. Sie unterhielten Putzkolonnen, die Tag und Nacht im Einsatz waren. Was von diesen übrig geblieben ist, lebt weiter. In Teilen des Kulturbetriebes, der sich zu einer Art Volksgericht entwickelt hat, da Urteile verkündet, noch bevor die Anklage zu Ende verlesen wurde.” (Henryk M. Broder in der Welt)
“Ich reagiere immer ein bisschen allergisch, wenn ich solchen zweifelsfreien Menschen begegne, das hat vermutlich mit meiner Jugend in der DDR zu tun, die ja auch von Leuten regiert wurde, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnten.” (Maxim Leo in der Berliner Zeitung vom 14./15. März)
“Schriftsteller versuchen ernsthaft, die Veröffentlichung eines Buches zu verhindern. Finde ich prima, dann brauchen wir für so was gar keine Nazis und Scheiterhaufen mehr…” (Udo Vetter auf Twitter)
“Den Begriff ‘entartete Kunst’ hat bisher noch keiner gebraucht, aber warten wir‘s ab. Der Reichsfilmkammer hätte Allens Oeuvre jedenfalls bestimmt nicht gefallen.” (Eva C. Schweitzer im Cicero)
“Man kann sich gegen Thilo Sarrazin die Finger wund schreiben, aber er muss seine Bücher veröffentlichen dürfen, ebenso, wie er seine Thesen öffentlich vertreten können soll.” (Eva Menasse, FAZ)
“Das entscheidende Wort in diesem Kontext ist überzeugend, und was überzeugend ist, das entscheidet eine Jury aus 15 Laienscharfrichtern, die gerne und mit großem Engagement für Rowohlt schreiben, was sie offenbar auch dazu befähigt, Urteile zu fällen, denen keine Verhandlung vorausgegangen ist.” (Henryk M. Broder, achgut.de)
“Moralische Selbstjustiz” (Gregor Dotzauer im Tagesspiegel)
“In der MeToo-Debatte ist sie [die Unschuldsvermutung] ohne Federlesens, auf empörend ruchlose Art außer Kraft gesetzt worden: Der Prozess gegen den Schauspieler Kevin Spacey wegen sexueller Übergriffe wurde zum Beispiel eingestellt; der Mann hat damit als unschuldig zu gelten, aber sein Ruf ist ruiniert.” (Edo Reents, FAZ)
“Mit der #Metoo-Bewegung, die Ronan Farrow mit losgetreten hat, der Sohn von Mia Farrow und Allen (oder vielleicht auch der von Frank Sinatra, von Farrow hört man da Widersprüchliches), der im New Yorkerüber Harvey Weinsteins Eskapaden schrieb, geriet auch Allen unter Beschuss.“ (Eva C. Schweitzer im Cicero)
Über Ronan Farrow: “Der Jurist und Journalist hat aus seinen Weinstein-Enthüllungen ein Geschäftsmodell gemacht, in dem er sich als “Me Too”-Posterboy verkauft.” (David Steinitz in der SZ)
“Ich war nie ein Anhänger des Klischees, dass böse Menschen große Kunst schaffen, ich glaube vielmehr, dass sich die Persönlichkeit eines Künstlers in seinem Werk ausdrückt – und gerade in dieser Hinsicht ist es nicht egal, dass Woody Allens Lebenswerk den tiefsten und wahrhaftigsten Humanismus ausdrückt. Und weil ich nun einmal den Eindruck habe, dass es nicht das Werk eines Mannes ist, der Kinder vergewaltigt, möchte ich wissen, was er selbst über sein Leben und über die Vorwürfe zu sagen hat; […]” (Daniel Kehlmann in der Zeit)
“…schrieb der Philosoph Walter Benjamin.”
“Der Soziologe Niklas Luhmann schreibt…”
“Von Friedrich Nietzsche stammt der Satz…”
(Florian Schröder auf spiegel.de)
Es ist nicht leicht, sich Olivia Wenzels Prosa-Debüt 1000 serpentinen angst zu nähern, obwohl es sich um einen Roman handelt, den man trotz seiner knapp 350 Seiten schnell gelesen hat. So weit gespannt ist das Netz aus Themen, das die Autorin knüpft, dass man beim Sprechen darüber nie genau weiß, wo man mit seinen Betrachtungen anfangen soll, weil man fürchtet einem wichtigen Punkt nicht gerecht zu werden. Gleichzeitig spürt man, dass dieser Roman Leser*innen herausfordern will, weil Wenzel Bereiche miteinander in Verbindung bringt, die zwar alle in der deutschen Gegenwartsliteratur präsent sind, jedoch nicht vereint in einer Figur. Das führt dazu, dass die Themenfülle beinahe kognitive Dissonanz auslöst.
Wie komplex die Perspektive ist, aus der hier vor dem Hintergrund von Diskriminierung und derzeitigen Identitätsdiskursen erzählt wird, zeigt sich etwa in dem Moment, als die namenlose Protagonistin angesichts ihres sexuellen Begehrens für eine andere Frau, realisiert, dass sie dadurch in „die nächste marginalisierte Randgruppe“ fallen würde. Sie wurde als eines von
zwei Zwillingskindern einer weißen Frau aus der DDR und eines schwarzen Mannes aus Angola in den zerfallenden Sozialismus der 80er Jahre hineingeboren und wuchs mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrem Bruder in die turbulenten Wendejahre hinein, erlebte Rassismus und Hass, aber auch die Kämpfe der eigenen Mutter mit dem Staat, der Erziehung und sich selbst. Jetzt, nach dem Suizid ihres Bruders auf einem Bahnsteig, leidet die Protagonistin unter einer Angststörung und muss sich in ihrem Leben neu zurechtfinden. Da erscheint die Aussicht, sexuelle Lust für eine Frau zu entwickeln, der Protagonistin wie eine zusätzliche Möglichkeit wegen ihrer Identität Ausgrenzung und Diskriminierung zu erfahren. Durch biografische Zufälle gerät die Protagonistin in ein Cluster aus Identitätsfragen, die jeweils mit verschiedenen Formen von Diskriminierung in Verbindung stehen.
Das Problem mit der Banane
Wenzel, die wie ihre Protagonistin als Tochter einer weißen Frau und eines schwarzen Mannes in der DDR geboren wurde, betont, ihre namenlose Figur sei nicht sie selbst, sondern eine düstere Variante von ihr, die ähnliche Dinge erlebt habe. Autofiktional sei das Buch aber dennoch. Letztlich ist nicht von Belang, ob man den Roman autobiografisch, autofiktional oder rein fiktional liest. Die Autorin erzählt differenziert und reflektiert von einem Leben, das sich in seiner ganzen Komplexität in Diskurse der Gegenwart einschreibt, über subjektive Erfahrungen hinausweist und dabei doch individuell bleibt. Dabei zeigt sich exemplarisch, wie komplex die mehrfache Diskrimierungserfahrung der Protagonistin in der deutschen Gegenwartsgesellschaft ist, als sie erklärt, was für sie das dreifache Problem mit dem Essen einer Banane ist: Sie als schwarze Frau aus der ehemaligen DDR kann nicht einfach eine Banane essen, ohne, dass sie in ein assoziatives Gefüge aus Rassismus, Sexismus und sogenannten Ossi-Witzen gerät. Diskriminierung ist intersektionell und dies wird an dem Bild mit der Banane auf drastische Art deutlich.
Im Zentrum dieses Netzes aus zugewiesenen und tatsächlichen Identitäten steht das Schwarzsein. Hier zeigt sich die ganze Stärke der Erzählstimme, die großen Teilen des deutschen Literaturbetriebs wiederholt die eigene normierte Perspektive aufzeigt. Das geschieht schon durch die selbstverständliche Markierung von Personen als weiß – so simpel und für die deutschsprachige Literatur so ungewöhnlich ist das, dass es jedes Mal auffällt. Immer wieder kehrt Wenzels Protagonistin gewohnte Blickrichtungen um, verdreht Verhältnisse, indem sie Bilder entwirft, die vorurteilsbehafteten Vorstellungen widersprechen:
Zwei blonde Frauen schneiden Dönerfleisch vom Spieß und backen Fladenbrot auf; hinter der transparenten Plastiktheke warten vier Kundinnen mit Kopftuch auf ihr Essen. Drei blasse, rotblonde Deutsche kommen nach Dienstschluss in eine Anwaltskanzlei, um zu putzen; alle deutsch-senegalesischen Angestellten sind bereits weg.
Beim Lesen von 1000 serpentinen angst wird in diesen Momenten schmerzhaft bewusst, wie einseitig die Perspektive großer Teile deutscher Gegenwartsliteratur ist. Wie stark ausgeprägt diese Einseitigkeit ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Olivia Wenzel selbst erst erkennen musste, wie tief eingefressen diese Normierungen ins literarische Bewusstsein der deutschen Schreibenden und Lesenden sind. Auch Wenzel hat jahrelang nach eigener Aussage in ihre Theaterstücke nur weiße Figuren geschrieben, bevor ihr dieser blinde Fleck in ihrem eigenen Schreiben bewusst wurde. Dadurch, dass die Hauptfigur des Romans wiederholt eigene Verstrickungen in Dynamiken von Privilegien, normierten Perspektiven und Identitätsdiskursen erkennt und reflektiert, wird der Text auch zu mehr als einer Anklage gegen eine weiße Mehrheitsgesellschaft.
Anders privilegiert
Denn die nicht-weiße Erzählerin erkennt, dass auch sie im Verhältnis zu anderen privilegiert ist und etwa reisen kann, im Gegensatz zu den Frauen ihrer Familie nur dreißig Jahre zuvor. Genauso wird ihr bewusst, dass sie in den USA das Gefühl einer starken und stolzen Black Community nur deshalb genießen kann, weil die Entwicklung einer solchen Gemeinschaft nötig und möglich war, weil sie einen gewissen Schutz vor Diskriminierung und rassistischer Gewalt bot:
Und plötzlich begreifst du: Diese warme Community schwarzer Menschen, hier in den USA, ist nur möglich, weil sie jahrhundertelang zum Überleben nötig war. […] Du kannst dankbar sein, dass du willkommener Gast in dieser Gemeinschaft bist, eine Touristin dieser auf Schmerz gewachsenen Blackness.
Dadurch dass an dieser Stelle implizit unterschiedliche Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen gegenübergestellt werden, wird hervorgehoben, dass es sich bei schwarzen Menschen natürlich nicht um die homogene Gruppe handelt, als die sie von weißen Menschen oft dargestellt wird.
Dass Olivia Wenzel diese Fülle an Themen und Perspektiven inhaltlich zusammen halten kann, liegt auch daran, dass im Zentrum all dessen ein erzählendes Individuum steht, das durch eine ganz persönliche Geschichte dem Diskursfeuerwerk des Romans ein festes Zentrum verschafft. Im Kern ist der Roman der Kampf einer jungen Frau, die mit dem Selbstmord ihres Bruders und dem gestörten Verhältnis zu ihrer ebenfalls mehrfach traumatisierten Mutter zurechtkommen muss. Im Ringen mit den eigenen und familiären Traumata gewinnt die Figur Konturen, die über ihre Zugehörigkeit zu gesellschaftlich diskriminierten Gruppen hinausreichen. Die Leitfrage, der sich dieses Individuum immer wieder stellen muss, ist „WO BIST DU JETZT?“ Das ist sowohl räumlich als auch psychologisch gemeint: Wo stehst du als Person, wo befindest Du Dich in Deiner Suche nach Halt im Sturm aus Traumata, Identitätsfragen und Beziehungen zu anderen Menschen.
Fragmente und offene Enden
Während der Versuch einer individuellen Verortung der Protagonistin dem Roman einen inhaltlichen Halt gibt, ist es dieses Frage-Antwort-Spiel, das den formalen Rahmen dafür schafft, dass der Autorin diese Themenfülle nicht strukturell entgleitet. Olivia Wenzel, die bisher vor allem für das Theater geschrieben hat, hat nun einen Roman vorgelegt, der sich beinahe ideal für eine Bühnenadaption eignet, da sie große Teile ihres Debüts als Dialog der Protagonistin mit einer übergeordneten Instanz strukturiert hat, die beobachtet, Fragen stellt und Hinweise gibt. Wer diese Stimme ist, die mit der Protagonistin im Gespräch steht und teilweise auch selbst auf deren Fragen reagiert, wird nicht klar. Vielleicht stecken in ihr Bestandteile der Protagonistin, ihres verstorbenen Bruders, ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Freundin Kim; oder es ist ein undefiniertes gesellschaftliches Außen, das sich im Kopf der Figur im Gespräch manifestiert. Neben diesem (Zwie)Gespräch mit einer übergeordneten Instanz, ist der Roman durchzogen von kürzeren und längeren Text- und Dialogfragmenten, die sich erst langsam und im Verlauf des Lesens in das chronologische und personelle Gefüge des Gesamttextes einordnen. In dieser dialogischen und chronologischen Zersplitterung ist der Roman auch formal ein Abbild seiner Protagonistin, deren Identität und Persönlichkeit aus ebenso vielen Fragmenten und offenen Enden besteht und gleichzeitig ein individuelles Zentrum besitzt.
Vor einigen Tagen lobte Julia Encke in der FAZ die literarischen Debüts von Christian Baron, Paula Irmschler und Cihan Acar als drei Romane, die „so etwas wie Bestandsaufnahmen jenes Landes, in dem wir leben, aus völlig unterschiedlichen Außenseiterperspektiven“ seien. Sie handelten „von jungen Menschen, die zu etwas dazugehören wollen, aber nicht so genau wissen, zu was oder wie sie es anstellen sollen. Drei Deutschland-Romane, die für unsere Selbstverständigung ein Glücksfall sind.“ Olivia Wenzels Roman muss in genau dieser Reihe wichtiger Debüts des literarischen Frühjahrs auch genannt werden, denn ihr Perspektivenreichtum und ihr Mut, erzählerische Formen ebenso aufzubrechen wie normierte Lesegewohnheiten, erzählen mindestens genauso viel über unser Land und die Fragen, mit denen sich die deutsche Gesellschaft auseinandersetzen muss, wie die genannten Romane. Wenn nicht mehr.
Verärgert. Gelangweilt. Fassungslos. So fühle ich mich in den letzten Jahren oft, wenn ich Artikel lese oder Interviews höre, in denen ich ohne begründeten Anlass vor angeblicher Zensur, dem Ende der Meinungsfreiheit, durch Political Correctness entfesselten “Moralismus” bis hin zur dräuenden Diktatur (hier beliebte Vergleiche wie etwa die Reichsschrifttumskammer einsetzen) gewarnt werde. Es ist immer gleich das ganz große Geschütz. Lieblingsbeispiele für das Geraune vom Untergang der Freiheit und angeblicher Zensur sind Vorschläge und Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache, Kritik an rassistischem Sprachgebrauch (“Verbotskultur”) –, #metoo und die Kritik an sexualisierter Gewalt (“darf man überhaupt noch flirten?”). Und nun, man staunt, steht der jüngste Offene Brief von Autor*innen an den Rowohlt Verlag in dieser Reihe. Das ist immer aufs Neue ärgerlich und gleichzeitig langweilig. Schaut man sich die Mechanismen an, lässt sich eine kurze Anleitung zur “kritischen Meinung” erstellen, die hier zur Verfügung gestellt werden soll, damit mahnende Texte dieser Art in Zukunft noch weniger Mühe machen:
1. Verdrehe den Sachverhalt durch alarmierende Begriffe
Nenne jeden Verzicht ein Verbot. Nenne jede Aufforderung, über einen Verzicht nachzudenken, Zensur. Wenn es um berühmte Personen geht, tue so, als ob diese Personen Opfer von Verboten und/oder skandalöser Verfolgungen seien, obwohl sie tatsächlich weiterhin Handlungsmacht besitzen und große Aufmerksamkeit genießen.
2. Subsumiere den Sachverhalt unter falschen Kategorien und letzten Fragen
Behaupte, dass Verantwortung keine relevante Kategorie sei, wenn es um moralische Fragen gehe. Es zählen Gerichtsurteile! Tue so, als ob in diesem einzelnen Fall, den du skandalisierst, das große Ganze in Gefahr wäre. Es muss um “die Freiheit” gehen, drunter machst du es nicht! Wenn du Alarm schlägst, muss es schließlich wichtig sein, also erkläre, dass genau in diesem einzelnen Fall eine grundlegende Bedrohung zu erkennen sei. Suche dafür knackige Begriffe wie “Weltpolizei”, die die Dimension der vermeintlichen Zensur-Gefahr veranschaulichen.
3. Erfinde eine machtvolle Gruppe, die du zu Gegner*innen erklärst
Behaupte, dass Menschen, die auf eigenes berufliches Risiko handeln, weil sie Verantwortung für mehr als für sich selbst übernehmen wollen, tatsächlich machtvolle Positionen, mindestens aber Einfluss hätten und raune, dass ihr Handeln unheilvoll für alle sei. Tue so, als ob es sich um eine einheitliche, geschlossene Gruppe handele und lasse keinesfalls erkennen, dass Menschen sich situationsbedingt in Gruppen zusammenfinden, weil das Interesse für dieses eine Thema sie zu einer gemeinsamen Aktion veranlasst hat. Behaupte, es gebe ein “Milieu”, das von einer bestimmten “Gesinnung” getragen sei und greife einzelne Personen als prototypische Vertreter*innen heraus.
4. Erlaube dir alles und erkläre anderen, was Anstand ist
Grobe Klötze sind wichtig, spare nicht mit Ausdrücken! Sei dabei großzügig gegenüber deinen eigenen Widersprüchen: Erlaube dir unflätige Begriffe zu benutzen und einzelne Personen zu beschimpfen und fordere dabei gleichzeitig mehr Anstand, mehr Moral und mehr Respekt ein. Die anderen sind ein Problem für die Debattenkultur, du bist deren Hüter*in! Die “gute Sache”, die du vertrittst, verdient die verzerrende Dramatisierung!
5. Überrasche durch nicht naheliegende Vergleiche
Verteidige Menschen und Haltungen, die nach Maßstäben des gesunden Menschenverstandes dafür eher nicht in Frage kommen. Kümmere dich nicht darum, ob der Vergleichsmaßstab gerechtfertigt erscheint. Auch vollständig unpassende Fälle können mit etwas gutem Willen passend gemacht werden! Du erscheinst dann als jemand, der souverän über den Dingen steht. Behaupte, dass es um die Verteidigung von “Pluralismus” ginge, wenn jemand konsequentes moralisches Handeln einfordert und auf Widersprüche hinweist. Verkünde: Nur wer alles zulassen könne, sei wahrhaft tolerant und für Meinungsfreiheit. Verteidige ruhig gerade das vollständig Abseitige und behaupte, dies sei sowohl Ausweis größtmöglicher Toleranz wie auch – wenn es um Kunst geht – ästhetischer Kennerschaft.
6. Bezeichne Stärke als Schwäche
Tue so, als ob Positionen unveränderlich seien. Bezeichnen jemanden, der einmal getroffene Entscheidungen mit guten Gründen revidiert, als schwach und als eine Person oder Institution “ohne Rückgrat”. Könnten – voraussichtlich oder auch nur möglicherweise – öffentliche Appelle zu Veränderungen von Positionen führen, sprich von Stimmungsmache, der man nicht nachgeben dürfe. Wo kämen wir hin, wenn Argumente im Einzelfall zählten!
7. Sei konsequent und wiedererkennbar in deinem Alarmismus, aber auch kreativ
Achte stets auf dein Vokabular, damit sich keine Differenzierungen einschleichen (s. Verzicht = Zensur). Sei wiedererkennbar und konsequent in der Denunziation: Appellieren = verbieten, zensieren. Ein Bonus sind kreative Neologismen, die deine geneigten Leser*innen etwas schmunzeln lassen. Für “Fragen stellen” kannst du nicht nur “reinreden” oder “etwas vorschreiben” verwenden, sondern zum Beispiel “moraltrompeten” sagen! Zur Zeit kommen natürlich auch Ansteckungsmetaphern ganz gut.
8. Geh aufs Ganze und bleibe dort
Wenn du sagst, dass die Freiheit stets die Freiheit der “Andersdenkenden” meint, mach klar, dass du entscheidest, für wen dies gilt. Diejenigen, die du zu Gegner*innen erklärst, sind hier keinesfalls mitgemeint!
5.
Es war ein goldener Ohrring mit einem kleinen Brillanten, der irgendwo im Erdgeschoss in der Mensa sein musste, ich schrieb Anzeigen, klebte sie auf Pinnwände, schrieb in einem studentischen Forum, ging zur Information, ob jemand vielleicht einen goldenen Ohrring, den Brillanten sparte ich aus, abgegeben, die Frau wunderte sich und lächelte und ich schämte mich. Und einmal ein Ring, mit einem kleinen, ungemein teuren Rubin (ich hab schon immer gesagt, kauf nichts bei den deutschen Juwelieren, bestell bitte aus dem russischen Katalog, hier, und jetzt hast du es), er wurde mir zu groß und glitt einfach vom Finger, irgendwo zwischen dem 3 und dem 4 Gleis des Ostbahnhofs, in der Nähe des Getränkeautomaten, dort, wo abends Mäuse herausgelaufen kommen, nach Krümeln, vielleicht auch Ringen suchen, und sie in ihren Vorratskammern unterhalb des Getränkeautomaten verstecken.
22.
Einsame, liebevolle und wunderbare russische Damen zum Heiraten und Lieben. Unsere bildhübschen russischen Single Frauen auf der Partnersuche suchen einen ehrlichen und treuen Lebenspartner und Mann, um eine glückliche Lebenspartnerschaft und Familie zu gründen für eine gemeinsame, glückliche Zukunft.
Die meisten russischen Frauen lehnen den westlichen Feminismus ab, und versuchen eher, Erfolg und Charme zugleich zu leben.
Die russischen Frauen lieben ihr Land, sie fühlen sich als Bürgerinnen des größten Staates der Welt und sind stolz darauf.
Die russischen Frauen sind wesentlich toleranter und geduldiger als westliche Frauen, das liegt daran, dass in Russland gegenseitige Hilfe und Abhängigkeit innerhalb der Familie ganz großgeschrieben wird.
Es ist sehr wichtig für russische Frauen, die im Ausland leben, sich nützlich zu fühlen. Die russischen Frauen mögen es nicht, ohne Aktivitäten zu sein, sie arbeiten gerne.
Rechnen Sie mit einer Wartezeit von etwa einem Jahr, bevor Sie mit ihr Kinder haben werden.
Wenn Sie Ihre Brieffreundin etwas fragen wollen, fragen Sie direkt, ohne Umwege, aber sehr höflich.
Versuchen Sie, die slawische Seele zu verstehen. Das ist entscheidend in der Korrespondenz mit einer russischen Frau.
Lächeln Sie auf allen Fotos.
Hüten Sie sich vor ukrainischen oder russischen Anzeigenseiten, die gratis angeboten werden.
Schicken Sie den Damen, mit denen Sie in Kontakt treten, niemals Geld.
Treten Sie in Kontakt mit mehreren Damen ein. Eine russische Frau hat es lieber, wenn der Mann sie unter mehreren Damen nach längerem Briefwechsel ausgesucht hat.
Falls auch Ihre zweite Email ohne Antwort bleibt, schicken Sie einen Brief auf dem Postweg, vielleicht hat sie ein Problem mit ihrem Computer.
Die meisten russischen Frauen sprechen weder Englisch noch Deutsch.
Wenn Sie auf Englisch schreiben, benutzen Sie einfache Wörter, um sicher zu gehen, dass sie Sie verstehen wird.
Benutzen Sie nicht den Google-Übersetzer.
Schicken Sie niemals Geld.
Nehmen Sie zum ersten Treffen einen Dolmetscher mit, falls Ihre Russisch-Kenntnisse nicht ausreichen.
Sobald sie verheiratet sind, schreiben Sie Ihre Liebste in einen Deutschkurs ein (russische Frauen sind begabt für Fremdsprachen), und sie wird wesentlich weniger Heimweh haben.
Sie können jederzeit auf einen Dolmetscher zurückgreifen, wenn Ihre Frau noch nicht gut Deutsch spricht.
23.
In unserer Stadt gab es zwei kleine russische Geschäfte, in denen man slawische ‒ meist in Deutschland hergestellte ‒ Lebensmittel kaufen konnte, Käse, Quark, Pelmeni, Schokoladenpralinen, Limonade, Getreideflocken, Konserven, aber auch Spielzeug aus China, selbstgebrannte DVD-Filme, und man konnte dort Pakete abgeben, die man in sein Heimatland schicken wollte. Für viele unsere Bekannte waren diese Läden überlebenswichtig, auch wenn es eine offizielle Deutsche Post und gewöhnliche Discounter mit russischen Lebensmitteln gab. Sie trugen seltsame Namen, 5+ PLUS zum Beispiel, das Plus als Zeichen und Wort nebeneinander wies auf die ausgezeichneten Qualitäten des Ladens hin, während im deutschen Schulsystem die Fünf nur für mangelhaft stand. Das andere Geschäft hieß Rasputin, ähnlich düster schaute der stämmige Besitzer an der Kasse, er sollte zusammen mit seinen drei erwachsenen Söhnen vor Kurzem ein eigenes Haus im benachbarten Dorf gebaut haben, und unser Bekannter erfuhr von einem anderen Bekannten, dass es zweieinhalb Stockwerke hatte. Seine Frau stand an der Frischwarentheke, schnitt und wog Käserollen ab, angelte gesalzenen Hering aus einer Holztonne. 5+ PLUS war zu zentral gelegen und schnell bankrott, wir wechselten zu Rasputin. Dort war es eng und staubig, die Kunden kannten einander, es gab Sympathien, verborgene Feindschaften gegenüber dem Ladenbesitzer und seiner Frau, wir wussten über ihre Einkommensverhältnisse Bescheid, achteten nicht auf ein abgelaufenes Haltbarkeitsdatum und diskutierten an der Kasse, warum hier alles so teuer sei.
38.
Wenn ich unsterblich wäre, würde ich mir Fehler zugestehen können, so aber läuft die Zeit davon, zerrinnt zwischen den Fingern, und bald schon werde ich nicht schön sein und werde meinen immer fauler werdenden Körper durch einwandfreie teure Kleidung, durch Botoxinjektionen, Bleaching regelmäßig, aufrecht erhalten müssen, und wer weiß, ob ich das Geld dazu haben werde, ob ich noch einen Mann haben werde, mit gutem Verdienst und oder Eigentum, ob ich das alles alleine bezahlen kann, ob meine Einsparungen, bislang hundertdreißig Euro auf dem Extra-Konto und hundertfünfzehn im weißen Briefumschlag, zwischen Benn und „Einführung in die Mediävistik“ eingeklemmt, für all das reichen werden.
110.
Unser Wochenende verbrachten wir zuhause, im Discounter, im Tierpark, auf einem Spielplatz, am Meer, am See, in der Eisdiele, meist verbrachten wir es zusammen, zu dritt, und an jedem Sonntagabend freute ich mich auf Montag. Ich hatte sie gern, meine Männer, den Großen, den Kleinen, und doch nervten mich unsere gemeinsamen Wochenenden ungemein, sodass ich ihnen beiden gegenüber am Sonntagabend massive Antipathie verspürte, den Kleinen so früh wie möglich ins Bett brachte, ein sinnloses, nie gelungenes Vorhaben, den Großen ignorierte, anzischte, auf irgendeine Weise zu demütigen versuchte in Form von Befehlen und Ekelbekundungen (wäscht du jetzt endlich das Geschirr ab, willst du dich nicht mal duschen), ja ihn manchmal bespucken, verprügeln wollte und dann vor dem Einschlafen, mit fester Zuversicht auf den Montag, den Tag der Arbeit, ihn wieder um Vergebung bat. Auch dem Kleinen gegenüber war ich oft unbeherrscht und grob, sein unverhältnismäßiges Schreien bei jeder Kleinigkeit brachte mich immer wieder aus der Fassung, mein junges Leben erschien mir umsonst vergeudet, die Weiterentwicklung meiner Talente gegen eintönige, unausgeschlafene Heimexistenz eingetauscht, ich hatte keine Freude daran, Sachen zu erklären, die ich schon kannte, und zweifelte daran, ob ich die geeignete Beziehungsperson für mein Kind, überhaupt für ein Kind wäre. Auch wusste ich nicht, ob ich in meiner Arbeit es zu etwas bringen würde, ob ich klug und energisch genug wäre, und litt einerseits an den zwecklosen, deckungsgleichen Wochenenden, empfand sie wiederum auch als Strafe für mein Versagen während der vorangegangenen fünf Tage. Was wir dem Kind gaben, wurde von ihm nicht geschätzt, kein einziges Mal sagte es aus eigenem Wunsch heraus Danke, und das Komplizierteste daran war, dass wir kein Recht hatten, einen Dank zu erwarten, uns bewusst auf eine jahrelange einseitige parasitäre Beziehung eingelassen hatten. Glaubt er mir, dass ich ihn geboren habe, fragte ich mich abends, wenn sein zartes Gesicht einschlief, habe ich ihn überhaupt geboren, woher sollte ich es wissen, meinem Körper waren keine Spuren mehr davon anzusehen, keine Beweise, ich habe keine Nabelschnur gesehen, keine Geburt. Wie kann mein Mann glauben, dass ich ein Kind von ihm geboren habe, sein Leben von diesem Glauben bestimmen lassen, wenn nicht mal ich daran ganz glaube, und doch fungierte er als Zeuge dessen, was ich selbst nicht gesehen habe. Unser Zusammenleben basierte auf einem gegenseitigen, mal erstarkenden, mal abfallenden Glauben an unsere körperliche Verbundenheit, und ich war das Mittelglied zwischen dem Großen und dem Kleinen, von anderem Geschlecht zwar, vielleicht deshalb aber trotz aller Unbeherrschtheit akzeptiert, der Große war das Bindeglied zwischen mir und dem Kleinen und umgekehrt, drei hoch drei gerechnet, neun unterschiedliche Stränge, die uns verbanden. Ich putze das Waschbecken von Resten roter Kinderzahnpasta frei, sortierte Socken nach Formen und Farben, und erlangte nicht den Status einer Guten Mutter in den Augen anderer Frauen, Freundinnen, Kolleginnen, Bekannten, unserer Vermieterin, Kindergartenleiterin, Kinderärztin, meiner Mutter, alles, was ich tat, war ein obligatorisches Minimum, von Guter Mutter weit entfernt. Einmal die Woche kam eine Putzfrau, wischte das Treppenhaus und ich litt aus weiblicher Solidarität, wenn ich an ihr vorbeiging, vielleicht wäre es meine Aufgabe gewesen, die Treppen zu wischen, immer waren es Frauen, die Treppen wischten, warum sollte ich besser sein als sie. Was soll das denn sein, fragte er, weibliche Solidarität, und wir küssten uns, prallten mit den Mündern aufeinander, warm, weich, und wenn mich das andere, kleine, zarte Gesicht küsste, sah ich ein, dass ich auch daran zu glauben lernen musste, dass mein Kind mich mag, nicht für immer vielleicht, aber dass ich nichts zu verlieren hatte, außer als mich zu irren, und dass ich nicht alles bis ins Unendliche beweisen konnte.
118.
Zwei Arten von Leuten gab es, die einen fragten, wann wir ein zweites Kind bekommen, da uns das erste schon so gut gelungen, da wir ja gut miteinander auskamen und ein zweites sicher guttun würde, ein Verzicht auf ein zweites, ohne nachvollziehbaren Grund, war absurd und verdächtig, dass wir wohl doch nicht so gut auskamen miteinander. Und die anderen, die ignorierten auch das eine Kind, stellten es sich als eine Art zusätzliches Projekt vor, in das man je nach Möglichkeit Zeit investierte, eine kleine Beeinträchtigung, die mit genug Babysittern zu überspielen war, eine konservative Geste, Geschlechtsverkehr mit Kinderzeugung zu verbinden. Aufenthaltsstipendien etwa waren für freie Persönlichkeiten gedacht, die für fünf Monate nach Rijeka gingen, für zwei Monate nach Ahrenshoop, für ein Jahr in die Villa Massimo, einen dichten Lebenslauf erstellten, ohne jeden Abend Hausaufgaben zu kontrollieren, an Schulferien, Krankheiten, Wachstumsschübe gebunden zu sein. Zur Elite deutscher Künstler, wie in einer Ausschreibung bezeichnet, gehörten keine Künstler mit Kindern, oder keine mit kleinen Kindern, oder keine Frauen mit Kindern, das war klar und irgendwie seltsam, das hat mir keiner gesagt bisher, dass ich mich selbst wieder ausgeschlossen habe aus einem Kollektiv, zu dem ich gehören wollte, da half kein Migrationshintergrund, kein gutes Porträtfoto, obwohl ich nichts geändert hätte, wenn ich es könnte, nur, es musste einen Weg geben, das zu werden, was ich wollte, die Angst zu verlieren vor Abweisungen, mich weniger zu ärgern, oder einfach abzuwarten.
129.
Wenn wir abends, wenn das Kind schläft und wir uns gegenüber in der Küche sitzen, jeder an seinem Notebook, verspüren, dass wir uns gleichgültig geworden sind, zu vertraut und fremd zugleich, dass wir uns gegenübersitzen, weil wir ein gemeinsames Konto und ein gemeinsames Kind haben, die Grundmerkmale einer ehelichen Gemeinschaft, dass wir nie mehr, zumindest die nächsten zehn Jahre, zu zweit ins Theater oder ins Kino gehen und immer, jeden Abend, von Jahr zu Jahr, in der Küche sitzen werden, jeder an seinem Notebook, wenn wir das verspüren, wenn dieser Gedanke in dem Raum zwischen uns entsteht, immer größer, fester, prophetischer wird, werde ich wütend, klappe mein Notebook zu und fordere ihn zum Sprechen auf, er erschrickt, verteidigt sich, zieht den Kabel aus der Steckdose, überlegt, wir reden, dann steht er auf, küsst mich und schlägt vor, ins Wohnzimmer zu gehen.
(Foto: Mike Lange)
Slata Roschal – *1992, Studium von Slawistik, Germanistik, Komparatistik in Greifswald, z.Z. Promotion in Slawistischer Literaturwissenschaft an der LMU München, Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien, Textwerkstätten (u.a. Edenkoben), 2019: Debütband Wir verzichten auf das gelobte Land bei Reinecke & Voß Leipzig. Diese Texte sind Auszüge aus einem laufenden Romanprojekt, 148 Formen des Nichtseins, das u.a. durch ein Arbeitsstipendium der Stiftung „Zurückgeben. Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft“ gefördert wurde.
„Ein schwimmender Sarg. Und keiner darf von Bord. Im Hamburger Hafen läuft das Kreuzfahrtschiff ‚Große Freiheit‘ ein. An Bord: Ein toter Passagier – verstorben an einem geheimnisvollen Virus. Bald herrscht Panik in der Stadt. Kriminalkommissar Adam Danowski, der eigentlich am liebsten am Schreibtisch ermittelt, wird an den Schauplatz beordert. Er kommt einem Verbrechen auf die Spur, das noch unzählige Tote zu fordern droht. Doch das unter Quarantäne gestellte ‚Pestschiff‘ darf keiner verlassen, selbst Kommissare nicht, und Danowskis Gegner sorgen mit aller Macht dafür, dass dies so bleibt…“(Klappentext: Treibland von Till Raether, 2014)
Man mag von Klappentexten halten, was man will. Gerade ihre oft lose Beziehung zum Inhalt des beworbenen Buchs ist für kulturwissenschaftliche Analysen der Beziehung von Fakt und Fiktion aufschlussreich. Virus, Panik, (zukünftige) unzählige Tote, (unsichtbare) Gegner und drei vielsagende Punkte – all das sind Signale, die nicht nur auf den Text gemünzt sind, den sie beschreiben sollen, sondern auch darauf, möglichst viele Anknüpfungspunkte zur (Lese-)Erfahrung der angesprochenen Leser*innen zu bieten. Darin könnte angesichts der Angst vor Covid-19 auch ein Problem liegen, denn die gleichen Reizworte dominieren nun einen Diskurs, der aus den Fugen zu geraten scheint.
Till Raethers Kriminalroman Treibland, der erste Fall des Hamburger Kommissars Adam Danowski, bietet auch jenseits des Klappentextes zahlreiche Anknüpfungspunkte. Ein Kreuzfahrtschiff unter Quarantäne hat im Februar auch im Kontext der Angst vor dem sogenannten Corona-Virus Schlagzeilen gemacht. Die Schutzmaßnahmen, denen Danowski und seine Kolleg*innen genügen müssen, ebenso wie die Kommunikations- und Informationswege erscheinen vertraut. Nicht zuletzt der Unwille des Protagonisten, sich allzu intensiv mit dem Virus und allem, was damit zusammenhängt, zu beschäftigen, erinnert wahrscheinlich die meisten Menschen an sich selbst.
Es wäre allzu einfach, zu zeigen, dass und wie die Diskrepanzen zwischen Klappen- und Romantext ersteren als konventionellen Werbetext und letzteren als ausgesprochen geschickte Variante des klassischen locked room mystery auszeichnen. Als Literaturwissenschaftlerin könnte ich etwa meine Expertise bereitstellen, um Reibungspunkte aufzuzeigen und nachzuweisen, dass das alles „nur“ Fiktion ist und sich in diese oder jene Tradition einreiht. Doch genau diese Diskrepanzen zwischen Text und Paratext werden gerade wieder einmal zum produktiven Kern einer Gegenüberstellung von Fakt und Fiktion. Eine Gegenüberstellung, die alles andere als harmlos ist, denn sie stellt Berechtigung und Kompetenz der Fiktion, von Wirklichem zu sprechen, in Frage. Virennarrative müssen sich einmal mehr den Vorwurf gefallen lassen, Panik zu schüren, Ängste und Ressentiments zu verstärken. Sie werden auf höchst problematische Weise zu Akteuren einer Parallelwirklichkeit, in der der Weltuntergang hinter jeder Ecke lauert.
Ist es also fahrlässig, es sich gerade jetzt mit einem Buch gemütlich zu machen, das von einem tödlichen Virus handelt? Zum Lesen eignet sich die aktuelle Situation zweifellos, denn wie ließe sich Ansteckung besser vermeiden als allein auf dem Sofa? Aber darf man sich ausgerechnet jetzt, da so viele Menschen krank sind und noch viel mehr unter der Angst vor der Infektion leiden, gerade an so einem Szenario weiden? Sind es nicht genau solche Texte, die Panik schüren, weil sie falsche Erwartungen wecken und unangebrachte Vorstellungen über den Umgang mit hochansteckenden Krankheiten verbreiten?
Natürlich darf man lesen, was man will und wann man will. Aber die Frage in welchem Verhältnis Leseverhalten oder Fiktionskonsum (es gäbe ja auch den ein oder anderen Pandemiefilm, von Zombie-Serien ganz zu schweigen) und Angstreaktion stehen, gewinnt in diesem Moment wieder an Bedeutung. Was also, fragt etwa Johannes Franzen, „wenn es wie jetzt zum realen Ernstfall kommt: Ist unser Blick aufs tatsächliche Geschehen möglicherweise getrübt durch Bilder und Stimmungen aus all diesen Erzählungen?“ Spielt es eine Rolle, dass die Bilder der akuten Situation „scheinbar vertraute Ausnahmesituationen“ erzeugen?
Die Fragen nach der Rolle des Erzählens von Erfundenem reichen weit in die Kulturgeschichte zurück. Platons angebliche Verdammung der Dichter – sie lügen! – klingt heute (als einflussreiche kulturgeschichtliche Figur) wieder in der Kritik an mangelnder wissenschaftlicher Akkuratesse literarischer Texte an. Oscar Wildes Diktum „life imitates art“ (und nicht andersherum) stellt nur eines unter vielen selbstbewussten Statements dar, mit dem sich Literat*innen und Künstler*innen gegen das Gebot der Mimesis, der Nachahmung der Natur, zur Wehr setzen. Romantik, Realismus, Avantgarden – gerade die moderne Literatur lässt sich als eine Kette von Verhandlungen über die Rolle der Kunst lesen und (auch das wird gerade offensichtlich) diese Fragen sind noch keinesfalls beantwortet. Gefragt wird nach dem Zweck der Literatur: Soll sie „nur“ unterhalten, soll sie lehren, soll sie gar qua Katharsis für eine emotionale Grundreinigung sorgen? Oder ist sie autonom und nur für sich selbst da? Gefragt wird nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion, das immer dann zum Problem wird, wenn nicht (mehr) klar ist, wer die Deutungshoheit über bestimmte Phänomene oder Ereignisse beanspruchen kann. Man könnte ganze Forscher*innenkarrieren mit diesen Fragen zubringen… Kann also die Beschäftigung damit überhaupt in einer konkreten Situation weiterhelfen?
Diesen Grundsatzfragen wird man nicht sinnvoll begegnen, indem man – ob von natur- oder literaturwissenschaftlicher Seite – einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit Lesekompetenzen oder Unwissenheit unterstellt. Vielmehr wird hier möglich, wovon Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen sonst kaum zu träumen wagen: Vielleicht lässt sich beobachten, dass und wie Fiktionen tatsächlich Wirklichkeit beeinflussen. Das ist, darauf weist Franzen zurecht hin, auch ein unheimlicher Gedanke: Er weckt „die Angst davor, Jugendliche könnten durch die fiktiven Taten zu realen Verbrechen verführt werden. Oder die Befürchtung, Menschen könnten abstumpfen, gegenüber tatsächlichem menschlichen Leid.“
Übrigens steckt darin auch die Angst, das junge Frauen ein Dasein als „damsel in distress“ ebenso für normal halten könnten, wie junge Männer sich ausschließlich als Helden oder Bösewichte verstehen könnten. In der Möglichkeit, dass Fiktion Wirklichkeit beeinflusst, steckt aber auch Potenzial. Es wird auch (wieder) denkbar, dass Fiktionen Haltungen auf eine positive Weise beeinflussen – eine Hoffnung die gerade in ökologisch orientierten Erzählungen eine besondere Rolle spielt – und dass Fiktionen Diskussion darüber auslösen, in welchem Verhältnis all die Diskurse und Institutionen stehen, die an der Produktion von Wirklichkeit teilhaben.
Die oft zunächst implizite Behauptung, Romane, Filme und Spiele trügen dazu bei, dass Menschen sich von potenziell vernunftbegabten Individuen in eine unkontrollierbare, weil panische Masse verwandelten, wird immer öfter zum expliziten Vorwurf, je näher eine (empfundene) Bedrohung rückt. Das betrifft nicht nur das Thema der Pandemie, sondern ein ganzes Cluster an (Zukunfts-)Szenarien, deren ‚Management‘ in der Wirklichkeit allzu katastrophische Darstellungen im Weg stünden. Dazu ließe sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive einiges sagen. Wie vielfältig die gegenwärtige Katastrophenlust in der Forschung bearbeitet wird, lässt sich in Stefan Willers Forschungsbericht nachlesen.
Mich interessieren vor allem der gegenseitige Inkompetenzvorwurf der ‚zwei Kulturen‘ und seine möglichen Konsequenzen für die Kommunikation wissenschaftlicher und kultureller Tatsachen oder vielmehr, der Zusammenbruch der Unterscheidung. Der Vorwurf besteht banalerweise darin, dass Fiktionen nichts von den wissenschaftlichen Fakten und Wissenschaftler*innen nichts von Fiktion verstehen. Mehr ist es nicht. Damit behaupten jedoch beide Seiten eine so grundsätzliche Inkompetenz der anderen, dass fraglich bleibt, wie überhaupt über die gemeinsamen Gegenstände, Narrative und vielleicht sogar gemeinsame Ziele gesprochen werden soll. In den grenzüberschreitenden Fiktionen sehe ich also nicht zuletzt einen Anlass, über die anscheinende Unvereinbarkeit dieser Perspektiven nachzudenken und eine Chance, sie zu überwinden.
„Die zwei Kulturen“ ist der Titel einer Rede des Chemikers und Schriftstellers C.P Snow. In der Rede beklagt Snow die tiefe Kluft zwischen ‚scientists‘ und ‚literary intellectuals‘. Man beschwere sich zwar übereinander – die einen beherrschten ihren Shakespeare nicht, die anderen könnten nicht einmal das zweite Gesetz der Thermodynamik erklären –, aber ein Reden über die Notwendigkeit, die Kluft zu überwinden, gäbe es nicht. Tatsächlich sei Verständigung überhaupt nicht mehr denkbar. Das war 1959. Die Kluft ist seitdem trotz allerlei Bekenntnissen zu Interdisziplinarität und Austausch nicht kleiner geworden. Einig sind sich Geistes- und Naturwissenschaften nur in der Behauptung eines allgemeinen Niedergangs der Allgemeinbildung. Selbstredend ist das grob vereinfacht und ungenau (z.B. lassen sich die ‚zwei Kulturen‘ nicht einfach vom britischen in andere Wissenschaftssysteme übertragen. Gerade in Deutschland lassen sich Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft nicht unbedingt in einer ‚Kultur‘ zusammenfassen).
Vielleicht ist die Gegenüberstellung aber auch gerade deshalb so einflussreich und beständig. Sie führt dazu, dass wir übersehen, wie produktives Wissen und anschlussfähige Narrative nicht nur auf der einen oder anderen Seite, sondern mitten in der Kluft zwischen den Kulturen entstehen. Es ist also nicht getan mit mehr wissenschaftlichen Kenntnissen – im Sinne von „get your facts straight“ – oder größerer Fiktionskompetenz im Sinne einer umfangreichen literarischen Bildung. Auch wenn solche Kompetenzen sicherlich nicht schaden, bleiben sie weitgehend wirkungslos ohne eine Aufmerksamkeit für die ‚Mitte‘, in der sich Wissen formiert, das nicht so einfach zu sortieren ist.
Es ist ein hybrides Wissen, dass im Austausch der Kulturen entsteht, ob diese den Austausch nun wollen oder nicht. Science Fiction ist aus dieser Perspektive nicht in erster Linie ein Genre, sondern ein Modus, dessen Erkenntnisinteresse über professionalisierte Diskurse und Methoden hinaus reicht. Man könnte auch von einer Haltung sprechen, die nicht verlangt, aus Fiktionen praktisches Wissen zu gewinnen oder, umgekehrt, Wissenschaft als Erzählung zu entlarven. Vielmehr macht diese Haltung es möglich, unabhängig von der Darstellungsform gemeinsame Fragen zu erkennen.
Virus-Szenarien sind in diesem Sinne beinahe immer im Modus der Science Fiction verfasst. Sie stellen das Verhältnis von Fakt und Fiktion, von Wissenschaft und Erzählung auf besonders intensive Weise auf die Probe. Georg Seeßlens Behauptung, die Krankheit sei „das Wirklichste, was einem Menschen wiederfahren kann“ gewinnt in der Fiktion einen prekären Status. Einerseits generieren Viruserzählungen aus genau diesem Umstand (Infektion ist nicht diskutabel, krank ist krank) Energie und suspense, andererseits bleibt die Krankheit fiktiv.
Obwohl niemand – so meine Hoffnung – Dan Browns Inferno (2014) oder Michael Crichtons The Andromeda Strain (1969) liest, um sich über typische Verläufe viraler Infektionen zu informieren, so besteht der besondere Reiz des Virus-Szenarios darin, dass die Ansteckung selbst, unabhängig vom Plot, eine wirkliche Möglichkeit ist. Sie konfrontiert das betroffene Subjekt mit der eigenen Anfälligkeit für eben dieses Szenario und verleiht damit auch einem noch so absurden Plot einen Anker in der Wirklichkeit. Indem die Viruserzählung einen Akteur einführt, der scheinbar zielstrebig, aber absichtslos „handelt“, ruft sie eine fundamentale Unsicherheit auf. Diese betrifft auch die Wissenschaften, denn, so zeigt die sich ausbreitende Krankheit Covid-19 überdeutlich: Es ist eine Illusion zu glauben, ein Virus ließe sich ohne weiteres kontrollieren. Die „Jagd“ nach dem „unsichtbaren Gegner“ erzeugt Angstlust, weil sie die Erinnerung daran weckt, dass mikroskopisch kleine Wesen seit jeher eine allen Armeen überlegene Gefahr für die Menschen darstellen. Ein Virus, für das es noch kein Gegenmittel gibt, ist eine Herausforderung für eine Bandbreite an Kulturtechniken – auch für das Erzählen.
Fiktionskompetenz kann hier also nicht bedeuten, zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Darstellungen zu unterscheiden, sondern die Bedingungen einer Erzählung zu erkennen – ihre Struktur; die Traditionen, in die sie sich implizit und explizit einreiht; sowie die textinternen und –externen Strategien der Plausibilisierung des Erzählten. Umgekehrt wird so die narrative Bedingtheit nicht-fiktionaler Texte sichtbar. Das heißt, ein an Fiktionen geschulter Blick erlaubt es, z.B. Zeitungsartikel wie „Das unheimliche Rätsel um das Corona-Virus“ nicht nur auf ihren „Informationsgehalt“ hin zu lesen, sondern auch die Narrative zu erkennen, an denen sie sich orientieren. Wie beim oben zitierten Klappentext sind Überschriften, Bildunterschriften und Bilder nie nur einem „Haupttext“ untergeordnet, sie ermöglichen vielmehr Verbindungen, die im Text weder angelegt sein müssen noch notwendig von der Autor*in eines Textes gewollt wurden.
Interessant wird es also besonders dort, wo verschiedene Interessen aufeinandertreffen. Im Literaturbetrieb sind das oft geteilte Interessen unterschiedlicher Akteure. Im konkreten Fall des Kriminalromans Treibland bedeutet das, die paratextuellen Elemente Cover, Klappentext und Reihenvermarktung des Romans sind ebenso aussagekräftig für die Frage nach der „Macht der Fiktion“ wie der literarische Text selbst. Treibland ist also nicht nur ein ergiebiges Beispiel, weil die Handlung thematisch beinahe unheimlich aktuell ist. Der Roman wurde in unterschiedlichen Kontexten vermarktet, die für die hier gestellten Fragen relevant sind. Der Autor, Till Raether hat sich außerdem bereit erklärt, mir einige Fragen zur Konzeption des Romans und den Abläufen seiner Veröffentlichung zu beantworten. Damit steht mir ein weiterer (Vergleichs-)Text zur Verfügung, der die Analyse bereichert.
Zu diesen zählt auch die Genrebezeichnung: Treibland ist ein Kriminalroman. Diese Zuordnung strukturiert Erwartungen und ermöglicht und limitiert also das, was plausibel erzählt werden kann. ‚Plausibel‘ ist an dieser Stelle das entscheidende Kriterium, nicht ‚wissenschaftlich‘ oder ‚realistisch‘. Und was plausibel ist, wird aus einem Dialog zwischen Einzeltext und Genre-Konvention ausgehandelt. Das gilt auch für Stoff und Erzählhaltung. Der Kriminalroman ist ein analytisches Genre, das letztlich meistens auf die Aufklärung eines Verbrechens hinausläuft – was aber aufgeklärt, erkundet und zergliedert wird, das hängt vor allem von den Fähigkeiten und Interessen der ermittelnden Figuren ab.
Um das Spektrum der Fähigkeiten und Interessen zu erweitern, steht der Protagonist in Treibland, der Kommissar Adam Danowski, nicht allein da mit seinem Viren-Fall. Die Rechtsmedizinerin Kristina Ehlers und Tülin Schelzing, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tropeninstitut, vermitteln dem Kommissar das Wissen, das er braucht, um sich im Fall zu orientieren – und damit nicht nur ihm, sondern auch den Leser*innen. Und genau darum geht es: Orientierungswissen. Niemand benötigt Spezialkenntnisse, um zu verstehen, worum es geht. Gleichzeitig sind die entscheidenden Punkte so weit an tatsächlichen Abläufen orientiert, dass auch jemand mit Spezialkenntnissen, dem Plot ohne Störung folgen kann.
Es besteht zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel daran, dass der Kommissar im Vergleich zu den beiden Frauen keine Ahnung hat. Nachvollziehbarerweise will er mit allem möglichst wenig zu tun haben, was ihm – das ist schließlich ein Kriminalroman – allerdings nicht gelingt. Ehlers und Schelzig könnten unterschiedlicher kaum sein. Schelzig als pedantische Hüterin der Verhaltensregeln steht Ehlers gegenüber, die nicht weniger pedantisch alle Regeln bricht (nicht ohne sich auf ihre eigene fachliche Autorität zu berufen). Dass dabei nur der Virus gewinnen kann, macht der Tod der fahrlässigen Rechtsmedizinerin ein für alle Mal klar. Wer sich absichtlich über Expertenwissen hinwegsetzt, krepiert jämmerlich. Aber auch Schelzig behält keine weiße Weste. Sie verbirgt Informationen, damit ihre eigene Arbeit nicht unter Verdacht gerät. Aus ihrem Handeln spricht die Wissenschaftlerin, die in einem prekären System gelernt hat, wie sehr auch ihre Autorität (und Anstellung) am makellosen Ruf der Institution hängt.
Der Virus gerät schon in dieser kurzen Analyse ins Hintertreffen, Raether bezeichnet ihn als „reines Vehikel“: „Mich haben damals zwei Dinge interessiert: die Situation des Eingesperrtseins, der Fremdbestimmtheit an einem eher absurden Ort, in dem das aber schon angelegt ist; also die Quarantäne als Parodie der Kreuzfahrt. Zum zweiten die Krise als Anlass für Menschen, sich gewissermaßen ‚auszurichten‘.“ Der Virus auf dem Schiff ermöglicht und plausibilisiert bestimmte Maßnahmen und Umstände, was für den Autor ebenso bedeutsam ist wie für die Verschwörer*innen im Roman.
Indem er die „Quarantäne als Parodie der Kreuzfahrt“ in Szene setzt, entwirft Raether also eher eine Whodunnit-Version von David Foster Wallaces Essay A Supposedly Fun Thing I’ll Never do Again oder eine Kreuzfahrt-Adaption von Agatha Christies Roman Murder on the Orient Express. Wie in den Vergleichstexten ist der Anspruch des Romans nicht, die Aufklärung über richtiges Verhalten im Quarantänefall, sondern Plausibilität von Figuren und Plot (auch wenn einige Regeln so lustvoll aufgestellt und gebrochen, dass man sicher etwas lernen kann, wenn man denn unbedingt will). Das ist kein geringer Anspruch, ganz im Gegenteil. Gegenüber ausufernden und sich selbst überschlagenden „Wissenschaftsthrillern“ á la Frank Schätzing zeichnet sich Treibland durch eine konzentrierte Struktur aus. Doch während sich der Roman explizit auf die „Lebenswirklichkeit“ des Autors bezieht, fordert das Stichwort „Virus“ offenbar Größeres.
Hier kommt erneut die Vermarktung ins Spiel: Die Beziehung von Text und „Wissenschaft“ wird in einem anderen Kontext ausgestellt: Treibland wurde in erweiterter Ausgabe als Teil eines Schubers mit „Wissenschaftskrimis“ veröffentlicht, der genau diese Beziehung in den Vordergrund stellt. Die ZEIT-Edition „Wissenschaftskrimis“ will „spannende Themen mit intelligenter Unterhaltung“ verbinden und verleiht den ausgewählten Texten „als besonderes Extra“ ein Nachwort, „in dem ein ZEIT-Autor den Krimi analysiert und erklärt, welche Aspekte der wissenschaftlichen Realität entsprechen und welche der Fantasie des Autors (sic!) entstammen.“
Hübscher kann man einen Text gemäß der Zwei-Kulturen-These nicht aufräumen – Phantasie in die eine Kiste, Realität in die andere. Genau durch diese Trennung droht aber eine solche Vermarktung problematisch zu werden. Nicht nur, weil die Unterscheidung nicht funktioniert und sicherheitshalber keine Expert*innen für Erzähltexte eingeladen werden mit zu „erklären“, sondern auch, weil Reihe und Schuber Zusammenhang signalisieren, wo Differenzierung sinnvoll wäre. Denn ein locked room mystery, wie Treibland verhandelt wissenschaftliche Tatsachen auf andere Weise als ein „Wissenschaftsthriller“. Das Interesse richtet sich – hier bestätigt die Analyse Raethers Auskunft – auf das Verhalten der Figuren in einem Ausnahmezustand, der den ‚Regeln‘ des Genres gemäß begrenzt ist.
Ein Thriller hingegen zeichnet sich gerade durch eine Offenheit aus, die den Anspruch impliziert (nur selten aber ausdrücklich macht), Aussagen über die dargestellte Wirklichkeit hinaus zu treffen. So erschien beispielsweise 2009 in der ersten Ausgabe der ZEIT-Edition (damals noch und jetzt wieder „Wissenschaftsthriller“) Michael Crichtons Roman State of Fear/Welt in Angst (2004/2005), dessen nur dünn durch Ironie maskiertes Bekenntnis zur Klimawandelleugnung im Nachwort den Text in der Tat zu einem fragwürdigen Hybrid zwischen Science-Fiction und Verschwörungstheorie macht. Appendizes und Nachworte, Bibliographien und Zusatzpublikationen (z.B. Frank Schätzing: Nachrichten aus einem unbekannten Universum: Eine Zeitreise durch die Meere, 2009) oder die aus journalistischer oder wissenschaftlicher Arbeit gewonnene Verdopplung von Autorität (z.B. Richard Prestons „non-fiction Thriller“: The Hot Zone: The Chilling True Story of an Ebola Outbreak, 1995) verwischen die Grenzen zusätzlich.
Es ist dann völlig unerheblich, wie ‚hoch’ der wissenschaftliche ‚Gehalt‘ eines Textes ist, denn er weicht den Pakt mit den Leser*innen eines fiktionalen Textes auf. Das heißt, er beansprucht nicht nur im Medium der Fiktion, sondern geradezu universell Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Im ‚schlimmsten‘ Fall wird der Text ex post zu einem ‚wirklicheren‘ Wissen erklärt – wirklicher als das, auf das er sich selbst (qua Literaturliste, Expertenrat und -legitimation) stützt. Solche Texte haben das Potenzial, die Methoden zur Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion zu unterlaufen.
Das bedeutet, je ‚wissenschaftlicher‘ Fiktion daherkommt, desto skeptischer muss sie gelesen werden, denn sie verpflichtet sich damit Prinzipien einer anderen Kultur. Selbstredend wird es an dieser Stelle aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ziemlich spannend und es kann sich ein enormes subversives Potential entwickeln, das durchaus wünschenswerte gesellschaftliche Transformationen anstoßen kann. Aber spätestens hier sollte klar werden, dass, um dieses zu entfalten, eine Haltung (beider Kulturen!) nötig ist, die ‚den Leuten‘ eine weitaus höhere Fiktionskompetenz zutraut, als das oft der Fall ist. Die allermeisten wissen sehr wohl, ob sie gerade Outbreak schauen oder Tagesschau, oder dass Empfehlungen vom Robert-Koch-Institut einen anderen Stellenwert haben, als Vermutungen von Mulder und Scully. Wo aber ‚Literatur‘ und ‚Fiktion‘ bloß den Kopf hinhalten müssen, weil Kommunikation scheitert, kann ihr Potenzial „Welten zu machen“ (Nelson Goodman) nur versanden. Dabei ließe sich aus dem lustvollen Schauder über das ekelhafte Dahinsiechen einer Figur durchaus nicht nur Niesetikette, sondern auch ein gewisser Respekt für das Wissen der anderen erlernen.
Bislang sind mit dem Claim „Lebensleistung verdient Respekt“ nur Bürger gemeint, die über 33 Jahre hinweg mindestens 30 Prozent des bundesweiten Durchschnittseinkommens erwirtschaftet haben. Der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) fordert hingegen ein Anrecht auf Grundrente für alle, die 10 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient haben.Es reicht also nicht aus, dass der Staat seit Jahrzehnten den Sozialbetrug kultureller Institutionen sponsert: Die Künstlersozialkasse (KSK)etwa, immerhin zu 20 Prozent aus Bundesmitteln finanziert, hat über Jahrzehnte Scheinselbstständigkeiten im Journalismus aufgefangen; promovierte Volontäre stocken mit Hartz IV auf, um sich Vollzeittätigkeit plus Überstunden in Verlagen, Museen etc. leisten zu können. Der Staat soll nun also auch dafür geradestehen, dass sich privilegierte Menschen – denn nur jene mit herausragenden Studienabschlüssen sowie Zeit und Ressourcen für unbezahlte Praktika bekommen im Kulturbetrieb überhaupt die „Chance“ auf zynisch honorierte Jobs – ein Berufsleben lang für Arbeitgeber entschieden haben, die sie systematisch ausbeuten.
Viele Menschen stecken aufgrund fehlender Privilegien und/oder Krankheit und Behinderung dauerhaft im Niedriglohn- und Teilzeitsektor fest. Diese sehr reale Ungerechtigkeit betrifft die gut und lange ausgebildeten Menschen im Kulturbetrieb, die im Laufe ihres Berufslebens viele Überstunden anhäufen, im Allgemeinen nicht. Ist aus der freien Entscheidung, sich ausnutzen zu lassen, eine finanzielle Verantwortung des Staates ableitbar?
Natürlich haben wir alle ein Recht auf menschenwürdiges Leben. Natürlich ist – kurzfristig – eine Anpassung der Bedingungen für Grundrente wichtig. Langfristig aber sollte sich jeder, der im Kulturbetrieb arbeitet, fragen, warum er nur vom Staat Solidarität erwartet und nicht von seinen Auftraggebern.
Im Kulturbetrieb zu arbeiten, erinnert manchmal an das Leben in einer missbräuchlichen Beziehung: Honeymoon-Phasen müssen mit bedingungsloser Selbstaufgabe erkauft werden; unbegrenzte Zeit, Aufmerksamkeit und Geduld sind erforderlich. Das Setzen von Grenzen, die Frage nach Geld oder Perspektive “zerstört” das intensive Wir-Gefühl. Das Gegenüber singt mit Hundeblick das Klagelied der Krise und schon hat man Schuldgefühle: Wie konnte man den Partner nur mit seinen eigenen, egoistischen Bedürfnissen belasten? Man wusste doch von Anfang an, worauf man sich einlässt!
Ähnlich wie im toxischen Beziehungsleben zählen auch in der Kulturbranche eher Frauen zu den Geschädigten, vor allem in finanzieller Hinsicht: Der Gender Pay Gap beträgt satte 24 Prozent. Im Kulturbetrieb existieren zwar keine Hollywood’schen Hotelzimmerszenarien mit grapschendem Entscheider im Bademantel; dafür gibt es den festangestellten Redakteur, der die neue Freelancerin privat treffen will statt in der Redaktion. Der sich im Café ganz eng neben sie setzt und raunt, dass für eine regelmäßige Auftragsvergabe „ein gutes Verhältnis“ zentral sei. Der behauptet, das Budget sei für alle gleich, aber unterschlägt, dass er männlichen Freelancern fünfzig Euro mehr pro Text anbietet. Und der, sobald sein Verhalten auffliegt, der Freelancerin nur mitzuteilen hat, dass sie ohnehin nie eine Chance auf eine feste Stelle hatte.
Es gibt den Verleger, der die Absage des Volontariats nicht versteht; es sei doch „eine Ehre, für unser Haus zu arbeiten“ – eine Ehre, die einen Kredit erfordert hätte, weil man mit unter 1000 Euro in einer Metropole vielleicht die Miete bezahlen, aber nicht essen kann. Ein Kredit also für ein Jahr Vollzeitarbeit plus Überstunden, ohne jede Perspektive auf Weiterbeschäftigung?
Es gibt den Lektor, der behauptet, dass niemand nach einem Volontariat eine Festanstellung erwarten könne: Die Marktsituation etc. Darauf hingewiesen, dass er selbst nach einem Volontariat fest übernommen wurde, sagt der Lektor: „Bei mir war das was anderes.“ (Stimmt: Er geht regelmäßig mit dem Chef Bier trinken. Und muss dabei nicht befürchten, dass dieser sich eng an ihn kuschelt und über gute zwischenmenschliche Verhältnisse philosophiert.)
Es gibt den hochrangigen Agenturmitarbeiter, der sich auf dem Chesterfield-Sofa im zentral gelegenen Office ausstreckt und verkündet, man wolle Praktikanten einfach nicht bezahlen. Es gibt Geschichten aus dieser Agentur, die davon erzählen, dass Praktikanten aus eigener Kasse Porto und Klopapier finanzieren und spätere Bestseller zum Gutteil allein ghostwriten. Alles drin im Null-Euro-pro-Monat-Paket, das sich im Zweifelsfall nur Arztsöhne und Richterstöchter leisten können.
Es wird gern von kleinen Indie-Verlagen und Online-Magazinen geredet, die monatlich um ihre Existenz bangen und ihren Mitarbeitern nun mal nichts bezahlen können. Leider wird vergleichsweise selten namentlich von den großen Verlagen, Redaktionen, Filmstandorten, Theatern, Agenturen und anderen Playern gesprochen, deren Geschäftsmodell unter anderem darauf basiert, reguläre Stellen durch Praktikanten, Volontäre und Freelancer zu ersetzen, um im großen Stil Sozialabgaben, sagen wir: zu sparen.
Seit dem Jahr 2014 zeigt die Umsatzentwicklung in der deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft respektable Zuwachsraten. Die Bruttowertschöpfung hat sich – ausgehend von 71,8 Milliarden Euro im Jahr 2009 – um fast 29 Milliarden, also um vierzig Prozent, erhöht. Der Umsatz in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland lag im Jahr 2018 bei 168,3 Milliarden Euro. Allein Random House erwirtschaftete 2018 rund 293 Millionen Euro. Warum nehmen wir das seit Jahrzehnten gesungene Klagelied der Krise überhaupt noch ernst? Warum fragen wir den fest angestellten Verleger, Redakteur oder Regisseur, der uns mit Hundeblick berichtet, dass leider kein Geld da sei, nicht, wie viel er am eigenen Gehalt spart? Warum akzeptieren wir, dass große, solide durchfinanzierte Auftraggeber über die 30-Tage-Schmerzgrenze hinaus Honorare nicht bezahlen? Warum schweigen wir über Ausbeutung im Glauben, wir könnten andernfalls unsere Karriere beschädigen? Was für eine Karriere soll das überhaupt sein, die jenseits aller finanziellen Messbarkeit und in der permanenten Angst vor Transparenz stattfindet? Wo in alledem hat unsere Selbstachtung Platz?
Der Kulturbetrieb ist mindestens genauso sexistisch, intolerant und ausbeuterisch wie jeder andere Betrieb unserer Volkswirtschaft; wahrscheinlich eher mehr als der Durchschnitt, wenn man sich den Gender Pay Gap von 24 Prozent und die Dimension der Altersarmut unter Kulturschaffenden vergegenwärtigt. Der BBK-Appell hat binnen eines Monats 41.000 Mitzeichner gefunden. Wenn sich jeder Mitzeichner ein Arbeitsleben lang geweigert hätte, unbezahlte Praktika zu absolvieren oder absurd niedrige Honorare für freie Aufträge zu akzeptieren, wäre diese Petition überhaupt erforderlich geworden? Ist dieser Appell mehr als ein Aufschrei von Privilegierten, der in die falsche Richtung schallt?
Solange es keine Solidarität unter Betroffenen gibt, so lange die Täter, um im Bild der missbräuchlichen Beziehung zu bleiben, in Schutz genommen werden, sei es durch bewusstes Verschweigen der Missstände, sei es durch aktiven Selbstbetrug, so lange wird systematische Ausbeutung fortbestehen, und so lange werden wir uns schuldig machen, sowohl an uns selbst als auch an allen, die nach uns kommen.
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