Autor: Berit Glanz

Berit Glanz macht als Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin viele Dinge mit Texten.

Splitterstücke

von Berit Glanz

[CN Stille Geburt]

Die Bilder erscheinen und ich schaue mit angehaltenem Atem nach den kleinen bewegten Punkten in der schwarz-weißen Flimmerfläche – Herzschläge. Mein Freund drückt mir die Hand, als er die beiden Herzen auf dem überdimensionierten Bildschirm klopfen sieht und ich atme aus. Den Zwillingen geht es gut. Ihre kleinen Herzen schlagen gleichmäßig und es fühlt sich an, als würden sie mir einen Code senden, eine Nachricht, dass das Leben stärker ist als die Angst.

Der Herzschlag ist immer da, bis er eines Tages fort ist. Dann setzt die Ohnmacht binnen weniger Sekunden ein. Ob die Reanimation gelingt, hängt von vielen Faktoren ab. Bei großer Kälte braucht der Körper weniger Sauerstoff, man kann länger ohne Gehirnschäden wieder zurückgeholt werden. Vielleicht muss man im Sommer mehr Angst haben, dass das Herz stehen bleibt.

Das autonome Nervensystem des menschlichen Körpers zeichnet sich dadurch aus, dass man es nicht bemerkt. Der Herzschlag, die Atmung, die Verdauung – unbewusst ablaufende Vorgänge, vom Körper selbst gesteuert. Die Verlässlichkeit dieses Nervensystems habe ich jahrelang nicht hinterfragt. Es war da, wie eine leise gleichmäßige Uhr in meinem Alltag, mal schnell, Sport, Aufregung oder Vorfreude, mal langsam, kurz vor dem Einschlafen. Und nun plötzlich wie ein unregelmäßiger Motor, ein Auto, das stottert, hüpft und stehen bleibt. Todesangst. Sofort. Der Puls rast. Der Kopf wird kalt und heiß gleichzeitig und ein Band aus Metall zieht sich um den Brustkorb fest.

Deswegen hocke ich auf dem Rastplatz, am Rand der halb verdorrten Rasenfläche, und würge Galle. Eine Hummel schwirrt neben der Kotzpfütze um eine Hundeblume. Im Hintergrund rauscht die Autobahn lauter als das Blut in meinen Ohren. Aus meinem Augenwinkel sehe ich einen Lastwagenfahrer in seinem Fahrerhaus sitzen. Er beißt mit leerem Blick in ein belegtes Brötchen. An all dies erinnere ich mich mit sekundengenauer Präzision, weil man im Moment seines Todes die Zeit anders wahrnimmt.

In Filmen wird für solche Moment gerne die Zeitlupe eingesetzt, mit einer kurz darauf folgenden rasch geschnittenen Erinnerungssequenz, wenn das eigene Leben angeblich vor dem inneren Auge abläuft. Ich halte meinen Oberkörper umschlungen und wiege mich hin und her, während mir Erbrochenes, Tränen und Rotze das Gesicht herunterlaufen. Mein Freund schaut sonderbar ruhig, dafür dass ich gerade sterbe. Wahrscheinlich hat er sich mittlerweile an die Panikattacken gewöhnt, daran dass ich das Vertrauen in meinen Herzschlag verliere.

Als die Frauenärztin am Ende des ersten Trimesters eine Kollegin zur Beratung hinzuholt, wissen wir direkt, dass etwas nicht stimmt. Ich fixiere die zwei pulsierenden Punkte und halte mich daran fest, dass meine beiden Kinder noch leben. Unser Sohn entwickelt sich zeitgerecht, doch unsere Tochter bleibt klein und fällt nun Woche für Woche hinter ihren Bruder zurück. Der Grund dafür ist für die Ärztinnen, die uns in den folgenden Monaten betreuen, noch nicht ersichtlich. Es heißt nun abwarten und hoffen und abwarten. 

Besonders beim Thema Schwangerschaft und Kinderwunsch wird unser Bedürfnis nach einer Kontrolle des eigenen Körpers sichtbar. Der Schock ist groß, wenn der Körper sich unserer Steuerung entzieht, seinen eigenen Regeln folgt und die eigene Kreatürlichkeit in einer Welle aus Kontrollverlust alles mitreißt. Wir wollen wissen, testen, planen, Sicherheit verspüren in einem Bereich, der sich diesem Bedürfnis fundamental verweigert. Verliert man die Kontrolle, können die Gefühle einen Strudel bilden, der einen mitreißt, zermalmt und verändert wieder auswirft.

Als ich das erste Mal in meinem Leben auf einen Schwangerschaftstest pinkelte, panisch auf der Universitätstoilette auf das ersehnte Resultat wartete, die sich in die Ewigkeit ausdehnende Zeit mit meinem Handy stoppte, wusste ich noch nicht, dass diese Gefühlskaskade nur ein Vorgeschmack war.

Der aufgeregt beobachtete Schwangerschaftstest, die blauen Striche, die Emotionen, wenn das Resultat sichtbar wird – Freude, Schock, Enttäuschung, Trauer. Diese Bilder werden oft in Film, Fernsehen und Werbung aufgegriffen, sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses. Dabei gibt es den heute bekannten Schwangerschaftstest für Zuhause erst seit den frühen 1980er Jahren. Die Ungewissheit über den Zustand des eigenen Körpers, mehrwöchige Schwebezustände zwischen Angst und Hoffnung, das hilflose Deuten von Symptomen, all das wurde durch bessere Testverfahren verkürzt.

Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte eine Schwangerschaft nachgewiesen werden, indem eine Urinprobe in einen männlichen Afrikanischen Krallenfrosch injiziert wurde, der unter Einfluss des Schwangerschaftshormons hCG binnen weniger Stunden begann Spermien zu produzieren, die sich unter dem Mikroskop nachweisen ließen. In den fortschrittsoptimistischen 50er und 60er Jahren wurde Schwangeren auch das Hormonpräparat Duogynon verordnet. Blieb nach der Einnahme eine Blutung aus,  war die Schwangerschaft nachgewiesen. Erst sehr viel später erkannte man, dass die Einnahme dieser Hormone in der Frühschwangerschaft Fehlbildungen auslösen kann, die Gewissheit einen hohen Preis hatte.

Das Bedürfnis nach genauem Wissen, nach messbarer Kontrolle über den eigenen Körper und damit die eigene Zukunft ist so groß und so menschlich, dass der Urintest zur Feststellung der Schwangerschaft sich seit den den 80er Jahren rasant ausbreitete.

Bei jeder der Ultraschalluntersuchungen, die nun ständig erfolgen, suche ich zuerst die Herzschläge. Am Morgen vor den Untersuchungen ist mir übel, ich bekomme Herzrasen, sobald ich das Krankenhaus sehe und muss mich jedes Mal wieder mit weichen Beinen auf die Liege zwingen, das Zittern unterdrücken, wenn das kühle Ultraschallgel auf meinem Bauch verteilt wird. Ich freue mich über jede Untersuchung bei der meine Kinder lebendig in ihren Fruchtblasen zappeln und weiß doch, dass jede Woche, die vergeht, eine schwierige Entscheidung näher bringt, die uns mit ruhiger Stimme angekündigt wurde: Zu einem späteren Schwangerschaftszeitpunkt könnten wir beide Kinder holen und damit die Überlebenschance für unsere wahrscheinlich kranke Tochter erhöhen. Wir können aber auch die Schwangerschaft weiterlaufen lassen und das bestmögliche Ergebnis für unseren gesunden Sohn anstreben.

Es ist ein unerträglicher Schmerz ein schlagendes Herz auf dem Bildschirm des Ultraschalls zu suchen und nicht zu finden. Das Vertrauen in den eigenen Körper verlieren, die Zuversicht aufgeben, dass eine Schwangerschaft in der Ungerührtheit und Unvermeidlichkeit abläuft, die man sich immer vorgestellt hat. Plötzlich findet man sich in einer schweigenden Gemeinschaft von Trauernden wieder, als hätte man die falsche Tür gewählt und müsse sich nun in einem unwirtlichen Raum neu einrichten. Von erfolgreich verlaufener Schwangerschaft wird viel erzählt, aber Fehlgeburt, Totgeburt oder unerfüllter Kinderwunsch bleiben ein Tabu. Es ist schwer sich mit dem Tod zu befassen, mit dem Ende der Hoffnung, dem Scheitern, dem fehlbaren Körper, der nicht wie ein Uhrwerk seine Funktion erfüllt.

Unsere Tochter ist krank, den genauen Grund können uns die Ärztinnen ohne Fruchtwasserpunktion nicht sagen. Doch mit jeder Untersuchung werden neue Hinweise gefunden, die den Verdacht auf eine schwere Behinderung erhöhen. Wir surfen im Internet, lesen über das Leben mit kranken Kindern und wissen nicht, welche Entscheidung wir treffen sollen, ob wir überhaupt eine Entscheidung fällen können. Sollen wir das Leben unseres gesunden Sohnes höher bewerten als das Leben unserer kranken Tochter? Wie können wir Entscheidungen treffen, mit denen wir (über)leben können?

Mit dem Gefühl dem eigenen Körper nicht vertrauen zu können, kommen die Angstattacken. Wer einmal in der Gruppe der Unwahrscheinlichkeit war, in der Gruppe, für die nicht alles gut geworden ist, in der Gruppe der statistisch vernachlässigbaren Einzelfälle, für den verliert die tröstliche Erzählung vom glücklichen Ende ihre beruhigende Kraft.

Der Körper und seine Reaktionen, die Schweißausbrüche, das Herzklopfen, die Übelkeit fangen an den Alltag zu bestimmen. Das Bewusstsein kreist um mögliche Vorzeichen: Was bedeutet diese Schmierblutung? Warum spannen meine Brüste? Sollte mir Abends schlecht sein?

Wir wachsen auf und lernen unsere Körper zu lesen, finden eine Gewissheit in der spezifischen Sprache unseres ganz individuellen Leibes und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, entziehen sich uns die Zeichen. Verloren stolpern wird durch ein Gewirr aus unentzifferbaren Signalen, finden uns in der Fremde wieder, in der die Dinge keinen Sinn mehr ergeben. Wie kann mein Körper, der jahrelang ein vertrauter und verlässlicher Begleiter war, mich so enttäuschen?

Am Ende der 28. Schwangerschaftswoche findet die Ärztin nur noch einen Herzschlag auf dem Ultraschall. Sie verlässt das Untersuchungszimmer, schließt leise die Tür, um uns Raum zu geben. Ich rolle mich auf die Seite, auf meinem Bauch ist noch der Glibber von der Untersuchung. Wie komisch, dass ich mich genau daran so genau erinnere. Nach ihrer Rückkehr klärt uns die Ärztin darüber auf, dass es nun das Ziel sei, die Schwangerschaft so lange wie möglich fortzusetzen, damit unser Sohn den besten Start ins Leben bekommt. Jede weitere Woche ist ein Geschenk, idealerweise schaffen wir es bis zum errechneten Stichtag. Die normalen letzten Monate einer Schwangerschaft, bloß mit einem toten und einem lebendigen Baby im Bauch.

Der schwangere Bauch ist per se ein Zeichen für Körperlichkeit – traditionell konnten sich Spermium und Eizelle ohne Körperkontakt nicht in der Gebärmutter vereinen, den Bauch anwachsen lassen. Auch wenn sich diese Voraussetzungen durch den medizinischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte verändert haben, ist der sich rundende Bauch immer noch ein Verweis auf die elementare Körpergebundenheit des menschlichen Daseins und damit implizit auch auf den Kreislauf aus Entstehung und Vergänglichkeit, der unser Leben bestimmt.

Die Faszination für den schwangeren Körper als Neuanfang, als Beleg für die schaffende Kraft des menschlichen Körpers, führt dazu, dass die Person der Schwangeren zu oft in den Hintergrund tritt. Mit der sichtbar gewordenen Schwangerschaft wird das Individuum von der Körperlichkeit verdrängt. Vielleicht berichten deswegen so viele Schwangere davon, dass wildfremde Menschen ihren Bauch berühren, sie sich als eigenständige Menschen unsichtbar fühlen.

In einer bestimmten Lebensphase beginnt die Gebärfähigkeit immer mehr ins Zentrum zu rücken. Hast du schon Kinder? Willst du Kinder haben? Wieso hast du keinen Kinderwunsch? Die Fragen sind aufdringlich und intim, ignorieren die vielfältige Komplexität menschlicher Existenz und reduzieren Menschen auf das Funktionieren ihres Uterus.

Auf der einen Seite steht diese Reduktion auf das rein Körperliche und auf der anderen Seite der Versuch dieses Körperliche der menschlichen Kontrolle zu unterwerfen. Schwangerschaften exakt zu planen, das Ungeborene auf alle Eventualitäten zu testen, die unappetitliche Körperlichkeit einzuhegen. Die Schwangerschaft wird als leuchtende Lebensphase inszeniert und dabei die vielen unangenehmen körperlichen Realitäten ausgeblendet, die geschwollenen Füße, die Übelkeit, die Rückenschmerzen. Körper, die sich der Reproduktion verweigern, Krankheit und Tod von Schwangeren und Ungeborenen werden als Möglichkeit tabuisiert. Aus diesem Tabu kann eine große Einsamkeit resultieren.

Mein Sohn strampelt in meinem Bauch. Ich ziehe mich zurück, rede mit meiner toten Tochter und meinem lebendigen Sohn. Ich mag nicht mehr unter Leuten sein, denke, dass alle mich und meine beiden Kinder in meinem Bauch anstarren – das Leben und den Tod. Ich fühle mich wie ein lebendes Paradox und möchte mich nur noch verkriechen. Andere Schwangere hören Mozart, um ihr Kind im Bauch zu prägen, ich habe Angst, was die Trauer mit meinem kleinen Sohn macht, der in meinem Bauch so vielen Gefühlen ausgesetzt ist. Ich fürchte mich vor der Geburt, die der endgültige Abschied von meiner Tochter sein wird.

Manche Schwangere klagen über eine Symphisenlockerung, die entsteht, wenn das Wachstum des Ungeborenen die Beckenknochen so auseinanderdehnt, dass sich die Knorpel lockern. Dadurch fühlt es sich bei jedem Schritt so an, als würde jemand mit der Stricknadel von unten in das Becken stechen. Freude über das entstehende Leben zu empfinden, während jede Bewegung schmerzt. Sich nicht beschweren, dankbar lächeln, Leid kommentarlos ertragen, eine Vorbereitung auf die Geburt und das Wochenbett. Schwangerschaft und Geburt bringen den menschlichen Körper in Grenzgebiete, zwingen zu einer Auseinandersetzung mit unseren fehlbaren Körpern.

In den Monaten nach dem Tod meiner Tochter und der wenige Wochen später erfolgenden Geburt, habe ich oft auf dem Bett gesessen, ihr Zwillingsbruder schon schlafend im Bett neben mir, in seinem beige-braun geringelten Schlafsack, die Faust gegen die Stirn gepresst und die Nacht am Nordatlantik war keine Nacht, sondern Tag. Aus dem Fenster konnte ich das Meer sehen, das ein graueres Blau hatte, als der Himmel der Polarnacht – mit dieser eigentümlichen Helligkeit. Mir liefen dann die Tränen das Gesicht hinab. Ich habe wenig geschluchzt und irgendwann nicht mal mehr das Gesicht verzogen. Es war ein Ritual, sobald das Baby schlief, als würde ich einen Wasserhahn anstellen. In mir ein großes Loch, das sich nur nachts mit Wasser füllte. An guten Tagen konnte ich am Horizont die Schneekappe des Gletschers in der Ferne sehen. Wenn ich lange genug auf das Meer gestarrt hatte, die Atemzüge meines Babys schwappten wie leise Wellen durch den Raum, dann war es, als ob ich mich in Salz selbst aufgelöst hätte.

Ich funktioniere, bis ich irgendwann nicht mehr kann und die Angstattacken immer regelmäßiger kommen. Das Vertrauen in meinen Körper, das Leben selbst, ist nachhaltig erschüttert. Ich kann nicht begreifen, dass meine Kinder lebendig sein dürfen, gesund bleiben werden, dass nicht an jeder Ecke die Katastrophe und der Tod lauert.

In der Therapie balanciere ich auf einem wackelnden Balken. Ich soll an einem Punkt stehen bleiben, an dem ich mich wohlfühle. Aber die Anspannung bei dem Versuch das Gleichgewicht zu halten, lässt den Balken immer stärker wackeln. Ich falle herunter.

Die Entscheidung den eigenen Kinderwunsch umzusetzen, ist der Beginn einer langen Reise. Eine Reise, die in der Öffentlichkeit mit großer Leichtigkeit erzählt wird: der Kinderwunsch, das Glück des positiven Schwangerschaftstests, die Phase der Schwangerschaft, mit leichten Anstrengungen aber erträglich, die Geburt, der Schrei, die erschöpft lächelnde Gebärende, das glückliche Wochenbett. Die Realität dieser Reise ist eine andere. Sie kann in die Ziellosigkeit führen oder an Orte, von deren Existenz wir nie geahnt haben. Sie kann über Umwege an einen Ort führen, an den man immer wollte, aber der einem nun fremd und unwirtlich vorkommt. In jeder Reise ist ein Risiko verborgen, nicht jede Reise muss gut ausgehen und doch reisen wir. Es braucht lange, bis ich akzeptieren kann, dass es keine Gewissheit gibt, kein Anrecht auf einen positiven Ausgang der eigenen Erzählung. Mit der Akzeptanz verschwinden die Panikattacken. Ich werde ruhiger.

Ich möchte einen Text über meine tote Tochter schreiben, über meine Angst, über die Panikattacken, über die Trauer. Ich möchte die Dinge in eine Erzählung zwingen, einen Faden durch die Splitter ziehen, das unerträgliche Chaos auffädeln, das diese Zeit kennzeichnet. Aber die fragmentierte Erinnerung an meine Reise lässt sich nicht logisch an kluge Gedanken knüpfen, das Loch fügt sich nicht in ein erzähltes Leben, der Schmerz ergibt keinen Sinn. Es gibt kein glückliches Ende für diese Geschichte, bei dem mit der Erkenntnis alle Bruchstücke an einen Platz fallen, die Ordnung wiederhergestellt wird. Es ist ein Leben mit einem Loch und es ist ein gutes Leben.

 

Dieser Text wird im Januar 2021 in einer von Barbara Peveling und Nikola Richter herausgegebenen Anthologie mit dem Titel Kinderkriegen: Reproduktion reloaded in der Edition Nautilus erscheinen. Das Buch kann bereits vorbestellt werden. ISBN: 3960542534

 

Photo by Jilbert Ebrahimi

Tröstende Fiktionen – ‘Der Boden ist Lava’ in Zeiten der Pandemie

Im Wohnzimmer auf der Couch stehen und ohne den Boden zu berühren zum Sofatisch hüpfen; von dort auf einen Stuhl und dann auf die umgekippte Spielzeugkiste; von dort zum Teppich vor der Tür und dann in Sicherheit. Eine Spielidee, die wohl die meisten in irgendeiner Form aus ihrer Kindheit kennen und die auf Englisch “The Floor is Lava” heißt. Eine Netflix-Show nimmt jetzt die Prämisse dieses Kinderspiels auf und lässt in einer speziell dekorierten Halle jeweils drei Teams mit je drei Personen gegeneinander antreten. In den Medien fallen in der Beschreibung von Der Boden ist Lava oft Begriffe wie “hirnlos” oder “Trash-TV”, bei den Zuschauenden ist die Show jedoch ein großer Erfolg, mit ausgesprochen umfangreicher Resonanz in den sozialen Medien. Warum ist dieses absurd anmutende Konzept gerade jetzt so erfolgreich und hat diese Show wirklich die Stimmung im Lockdown gerettet, wie ein Guardian-Autor behauptet (“Floor Is Lava is great. It has saved lockdown.”) und wenn ja, warum?

Im deutschsprachigen Raum hat nur GQ der Show eine ausführlichere Kritik gewidmet, die vor allem auf den hohen Produktionswert der Show eingeht. Denn für die knapp 30-Minuten langen Folgen wird der Spielraum jedes Mal neu und aufwändig gestaltet und die zu bekletternden Gegenstände zwischen dem orange-roten Schleim, der als Lava den Boden bedeckt, sind thematisch aufeinander abgestimmt. Die Spielfläche in Der Boden ist Lava ist jeweils an ein spezielles Zimmer in einem Haus angelehnt, vom Büro bis zum Schlafzimmer – sogar ein Planetarium gibt es. Passend zu dem grundsätzlich komplett überdrehten Design findet sich im Keller eine Alien-Mumie im Sarkophag mit aufgespießten Insektenrahmen an den Wänden und in der Küche spielt ein großer Pizzaofen eine entscheidende Rolle für die Teilnehmenden. Zudem gibt es in jeder Folge verborgene Anspielungen und lustige Details zu entdecken: von den Rothko-inspirierten Wandgemälden in Folge 2 zu einem Buch mit dem Titel Pompeji in Folge 5.

Das ganze Setdesign spielt mit visuellen Tropen und erinnert, genau wie von der Produktion angepeilt, mal an Indiana Jones oder an den Film Nachts im Museum. Diese kindlichen Vorstellungswelten, aufgepumpt mit genau der richtigen Menge an Größenwahn und Humor, funktionieren weitestgehend sehr gut, bloß in der Gestaltung des Arbeitszimmers, das teilweise unangenehm an den Raum eines reichen Großwildjägers erinnert, hätte man sich etwas mehr Feingefühl gewünscht. Teilweise sind die Klettergegenstände einen Tick zu groß (manchmal auch zu klein), was dem ganzen Set eine leicht surrealen Eindruck verleiht und auch das passt zu dem Grundkonzept eine Spielsituation aus der Kindheit als Gameshow neu zu beleben.

Durch einen Produktionstrick wird der sonst in der kindlichen Imagination stattfindende Nervenkitzel ines möglichen Todes in der Lava für die Zuschauenden potenziert: Wenn die Spielenden abrutschen, schneidet die Kamera direkt im Anschluss auf die Lavaoberfläche, für die Zuschauenden sind sie tatsächlich in der Lava verschwunden und ihr Fall wird von ihren Mitspielenden dramatisch kommentiert. Damit keine zuschauenden Kinderseelen durch diesen zugegebenerweise etwas drastischen Effekt geschädigt werden, tauchen aber alle Teammitglieder am Ende der Runde zu einem kurzen Interview nochmal auf. Dennoch ist der daraus resultierende Spannungsaufbau für kleinere Kinder vielleicht etwas zu anstrengend. Eher nervig sind auch die bemühten Moderationskommentare, die in der deutschen Übersetzung  unfreiwillig komisch sind und oft Klischees bedienen, denen sich die Serie sonst entzieht.

Die Frage nach dem großen Erfolg der Serie wird oft mit einem Verweis auf die Sehnsucht nach “Fun” oder richtig guter, simpler Unterhaltung beantwortet und was könnte unschuldiger (und auch unpolitischer) sein, als auf den Spaß aus Kindheitstagen Bezug zu nehmen und daraus eine absurd aufgekratzte Gameshow zu fabrizieren, auf die sich auch große Familien gut einigen können. Die gut gecasteten Teams fügen den Episoden einen eigenen Humor hinzu, der sich auch noch perfekt für Internet-Memes eignet, wie die Drillinge aus der ersten Folge, die versuchten den Parcours in Muskelshirts mit dem Muster der amerikanischen Flagge zu bewältigen. Das Serienformat spielt außerdem mit einer nostalgischen Sehnsucht nach Samstagabendgameshows, die von der ganzen Familie im Fernsehen geschaut werden konnten und die Kindheit der Eltern von heute prägten. Also beste Unterhaltung für die ganze Familie, die im Zweifel aufgrund der Pandemie sowieso mehr Stunden als gewöhnlich miteinander verbringen muss und mit dieser Show nicht nur einen weitestgehend konfliktfreien Unterhaltungsrahmen gefunden hat, sondern auch noch Anregungen für weitere Spielstunden mit den Kindern. Das Geheimrezept aus Spaß, Unterhaltung, Überdrehtheit und Nostalgie ist eine deutliches Argument für den Erfolg der Serie. Aber bei genauerem Hinsehen dürften noch einige andere Faktoren erklären, warum genau diese Showidee so erfolgreich für den Sommer 2020 ist.

Da wäre zuerst, dass die Ausgangssituation der Show mit dem Überschreiten von Regeln arbeitet. Spielende Kinder dürfen nämlich für gewöhnlich nicht den Kronleuchter in das Spiel einbeziehen oder auf den elterlichen Schreibtisch springen. Das immer am Spielanfang betonte “Everything is part of the game!” vermittelt so den Zuschauenden auch das Gefühl absoluter Freiheit. Das gemeinsame Spiel ist entscheidend. Dieser gemeinschaftliche Anspruch verstärkt sich nur dadurch, dass die Teams nacheinander antreten und sich deswegen nicht in direkter Konkurrenz befinden. Stattdessen sieht man Freunde, Familien oder Arbeitskollegen dabei zu, wie sie sich gegenseitig anfeuern, teilweise auf rührende Art und Weise unterstützen und gemeinsam versuchen einen sicheren Weg durch den Raum zu finden, ein erstaunlich von Gemeinschaftsgeist geprägter Ansatz für ein Spiel, in dem Menschen in Lava versinken.

Die Spielsituation selbst ist ein weiterer Verweis auf mögliche Gründe für den Erfolg der Show, denn die gesamte Ausgangssituation basiert darauf, dass die Spielenden einen fiktionalen Pakt miteinander und mit den Zuschauenden schließen, der durch das mehr oder weniger laut gebrüllte “Der Boden ist … Lava” betont wird. Das Spiel lebt davon, dass alle Teilnehmenden und auch die Zuschauenden sich darüber einig sind, dass der orangene Schleim als gefährliche Lava behandelt wird. Ein einfaches “Ich habe keine Angst vor dem Schleim, das ist ja gar keine Lava” würde diese geteilte Fiktion zerstören. Diese Form des Spielens ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Wir können uns miteinander auf einen Fiktionspakt einigen und darauf aufbauend ein Spiel spielen oder uns auf fiktive Welten einlassen. Menschen, die diesen Fiktionspakt in Frage stellen, verderben uns dann das Spiel.

Der Boden ist Lava lebt von der Prämisse gemeinsam an einem Spiel teilzunehmen, sich kollektiv auf eine Fiktion einzulassen, die den Teilnehmenden deutlich bewusst ist, wie die übertrieben expressiven Reaktionen auf das Versinken der Spielenden in der Lava zeigen. Hier wissen alle, dass gespielt wird, niemand hat Interesse die fiktive Welt des Spiels zu durchbrechen. Deswegen können wir für die Zeit des Spiels sonstige Differenzen, Sorgen und Probleme in den Hintergrund treten lassen. Aus genau diesem Grund hat das Spielen, neben vielen anderen Aspekten, immer auch eine Entlastungsfunktion für die Teilnehmenden. Während des gemeinsamen Spielens genau wie bei der Immersion in eine fiktive Welt kann der enge Rahmen der Realität überschritten oder vergessen werden. Eine Gruppe aus Erwachsenen kann gemeinsam beschließen, sich enthusiastisch auf die Fiktion einzulassen, dass der zähe Schleim in der Produktionshalle eines ehemaligen Ikea-Marktes gefährlich spritzende Lava sei. Und vielleicht liegt genau darin das Geheimnis von Der Boden ist Lava: In einer Zeit, in der wir uns nicht mehr auf gemeinsame Fakten verständigen können, einigen wir uns zumindest auf eine miteinander geteilte Fiktion, so absurd sie auch sein mag.

Photo by Ben Klea

Regeln für Blut – Körperlichkeiten in Film und Fernsehen

Trigger-Warnung: In diesem Text wird über die Darstellung von Vergewaltigungen in Film und Fernsehen gesprochen.

Blut ist thixotrop – wenn die Fließgeschwindigkeit abnimmt, verfestigt es sich. Wie Blut sind auch unsere kulturellen Erzählmuster thixotrop, je weniger sie durch Innovation in Bewegung sind, desto statischer und damit auch langweiliger werden sie. Die Darstellung von Menstruation in Filmen und Fernsehserien beispielsweise unterliegt einem so großen kulturellen Tabu, dass die erzählerischen Möglichkeiten sich mit Regelblut auseinanderzusetzen zu einem Klumpen aus Klischees geronnen sind. Zu diesen eingefahrenen Erzählmustern im Umgang mit Blut, das aus der Vagina kommt, gehören vor allem visuelle Tropen, beispielsweise der Blutfleck auf dem Laken nach einer Entjungferung oder dem Einsetzen der ersten Periode.

Literatur und Film verwenden verschiedene erzählerische Mittel, weil die ihnen zugrunde liegenden Zeichensysteme unterschiedlich sind. Besonders deutlich wird dieser Unterschied bei der Frage nach Körperflüssigkeiten. Die sprachliche Schilderung von beispielsweise Sperma oder Durchfall ist nicht dasselbe wie die bildhafte Umsetzung. Bild und Text funktionieren nicht gleich und haben deswegen auch unterschiedliche Auswirkungen auf die Rezeption – ein Thema mit dem sich die Kulturwissenschaft nicht erst seit der ikonischen Wende intensiv beschäftigt. Bilder und Bildsequenzen haben ein größeres Schockpotenzial, da die Reaktion auf Bilder unvermittelter stattfindet und keine Übersetzung ins Zeichensystem der Sprache vorliegt, die wir beim Lesen erst wieder ins imaginäre Visuelle rückübersetzen müssen. Vielleicht ist der Ekelreflex deswegen größer, wenn wir die Fotografie einer benutzten Binde sehen, als wenn uns Menstruation in Literatur sprachlich geschildert wird – nicht umsonst ist die Blutersatzflüssigkeit in der Werbung für Monatshygieneprodukte blau eingefärbt.

Die Darstellung  von aus der Gebärmutter kommendem Blut ist  mit einem großen visuellen Tabu belegt und erheblich stereotypisiert. Das erscheint kaum überraschend, denn die Zeichnung weiblicher Figuren in Filmen und Fernsehen ist ebenfalls oft stereotyp und holzschnittartig, viele der dargestellten Frauenfiguren unterliegen bekanntermaßen einem stark männlich geprägten Blickregime, für das von der Filmtheoretikerin Laura Mulvey bereits 1975 der Begriff des male gaze geprägt wurde. Bei diesem Konzept geht es um die Frage, wer Objekt und wer Subjekt sein darf, wer beobachtet und wer beobachtet wird. Das Konzept des male gaze verweist darauf, dass Frauenfiguren oft als sexuelle Objekte dargestellt werden. Objekte die dem Trieb der männlichen Figuren und implizit dem Blick des männlichen Zuschauers untergeordnet werden. Zu diesen visuellen Machtverhältnissen, die dann erzählerisch gespiegelt werden, gehört es auch, dass weibliche Figuren oft über eine Vergewaltigung charakterisiert werden, ihre Charakterentwicklung also aus einem Gewaltakt heraus motiviert wird.

Stellen wir uns vor: Auf der einen Seite ist ein ehrgeiziger junger Adliger, der trotz jungenhafter Schönheit als autoritärer Aufsteiger und menschlich korrupte Figur inszeniert werden soll, auf der anderen Seite ist die schöne Tochter der Königs. Aus strategischen Gründen soll sie mit eben diesem jungen Adligen verheiratet werden. Wie zeigt man nun den bedingungslosen Aufopferungswillen der Tochter für die Machtambitionen des Vaters? Die erste Antwort, die der Mehrheit der Drehbuch-Schreibenden und auch den Machern der Serie Last Kingdom, aus deren zweiter Staffel diese Szene stammt, auf eine solche Frage einzufallen scheint, ist die Vergewaltigung der weiblichen Figur durch die männliche Figur. Dieser Übergriff wird dann in der späteren filmischen Umsetzung gerne ausgesprochen graphisch umgesetzt. Die psychischen Wunden der Protagonistin bieten die Grundlage für die weitere Entwicklung der Figur – als könnten weibliche Figuren nicht auch anders motiviert werden, beispielsweise durch bedingungslosen Machtwillen, Neid, Rachelust, Arroganz oder eine große humanistische Vision, eben durch die ganze Bandbreite an menschlichen Handlungsantrieben. Stattdessen findet sich immer und immer wieder die zentral gesetzte Vergewaltigung als Fokuspunkt der Figurenzeichnung.

Mittlerweile empfinde ich vor allem Wut, wenn dieser langweilige erzählerische Trick eingesetzt wird, der in Filmen und Fernsehserien unter dem Deckmantel einer Sensibilisierung immer auch die voyeuristischen Impulse des Publikums befriedigen soll. Dabei geht es mir nicht darum, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen nicht abgebildet werden sollte; sie ist leider so allgegenwärtig für die Realität von Frauen, dass sie natürlich auch in Fiktionen auftauchen muss. Die Frage, die sich mir vielmehr stellt, ist, warum ihrer graphischen Darstellung besonders in Fernsehserien und Filmen so viel Raum geboten wird und warum sie oft zum wesentlichen Antrieb und Charakterisierungselement weiblicher Figuren gerät. Je gewaltvoller die Ausgangsrealität der Serie, desto mehr Fokus richtet sich auf Frauen als Opfer von Vergewaltigungen. Keine Wikingerserie ohne vergewaltigende Horden, die über Dörfer herfallen, kein historischer Machtkonflikt mit politisch motivierten Eheschließungen ohne anschließenden Missbrauch in den königlichen Gemächern. Die Antwort auf die Frage nach der erzählerischen Notwendigkeit ist dann oft ein Verweis auf die realistischen Ansprüche der Darstellung.

Sexualisierte Gewalt ist ein trauriger Erfahrungsbestandteil im Leben vieler Frauen. Es scheint jedoch eine auffällige Unwucht bei der realitätsnahen Darstellung des Lebens von Frauen zu geben. Interessant ist nämlich, dass diesem Aspekt weiblicher Realität so viel Aufmerksamkeit zukommt, während ein anderer völlig ignoriert, ja sogar tabuisiert wird: die Menstruation. Hier muss natürlich der Hinweis erfolgen, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer menstruieren können und außerdem bei weitem nicht alle Frauen menstruieren. Im Kontext filmischer Darstellung von sexualisierter Gewalt werden jedoch überwiegend  cis Frauen vor der Menopause abgebildet, also Frauen, von denen die meisten bei einer realistischen Figurenzeichnung einen monatlichen Blutungszyklus haben müssten. Auf Twitter merkt Heike Lindhold im Kontext einer Diskussion zu diesem Thema ironisch an: “Realismus muss auch Grenzen haben und die heißen nunmal: Regelblutung und Achselhaare.” Präziser und pointierter kann man diesen blinden Fleck kaum ausdrücken.

Nun kommen die Regelblutung und die daraus erwachsenden Probleme für menstruierende Figuren durchaus in historischen Romanen und anderen Literaturgattungen vor, aber in filmischen Umsetzungen ähnlicher Stoffe oder in Adaptionen werden diese Aspekte geflissentlich ignoriert. Aus der Vagina kommendes Blut am Körper von Frauen resultiert, wenn es denn überhaupt gezeigt wird, aus Vergewaltigungen oder einer Entjungferung. Regelblut wird maximal als beim Aufwachen gefundener Blutfleck auf dem (idealerweise weißen) Laken gezeigt.Die eigentlich zwangsläufig dazugehörige durchgeblutete Nachtbekleidung wird vermieden, das Blut erscheint quasi per Zauberhand auf dem Bett. Diese erstaunliche Abwesenheit visueller Darstellung aber auch erzählerische Thematisierung der Menstruation ist so drastisch, dass in dem Wiki TV Tropes unter der Überschrift “No Periods, Period” gesammelt wird, in welchen Serien diese eigentlich sehr dringende Fragestellung völlig ausgelassen wird. Hat beispielsweise der Doctor in Doctor Who für seine Begleiterinnen Tampons in der Tardis?

Vielleicht lohnt sich der Blick auf die kommerziell ausgesprochen erfolgreiche Serie Game of Thrones, um dieses Problem deutlicher zu illustrieren. Als wesentliches Plotelement kommt lediglich die Periode von Sansa Stark vor. Sie fürchtet das Einsetzen der Regelblutung, weil diese den Beginn ihrer körperlichen Reife impliziert und damit die Möglichkeit Kinder des brutalen Joffrey auszutragen. Die Periode wird also exakt dann relevant, wenn es um eine mögliche körperliche Verfügbarkeit der Figur geht. Vergewaltigung und versuchte Vergewaltigung werden im Gegensatz dazu in den Episoden von Game of Thrones insgesamt siebzehn Mal gezeigt – die dargestellten Opfer sind ausnahmslos weiblich.

Immer wieder wird bei Problematisierungen und Kritik an dieser Häufung von Vergewaltigungsdarstellungen geantwortet, dass dies eben realistisch für die extreme Lebensrealität der dargestellten weiblichen Figuren sei.  Ich schlage deswegen vor, Filme und Serien in Zukunft an einem Quotienten von dargestellter Menstruation zu dargestellter Vergewaltigung zu messen. Wenn die volle Bandbreite körperlicher Realität realistisch abgebildet werden soll, warum ist dann Regelblut so merkwürdig abwesend von den Bildschirmen, besonders in Serien und Filmen, die sich ansonsten bei der Darstellung von Blut und Splatter beileibe nicht zurückhalten? Ein solcher Quotient würde dann vielleicht darauf hinweisen, wobei es in der gehäuften Darstellung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen wahrscheinlich mehr geht, als um den Realismus der dargestellten Fiktion: um die Präsentation von Frauen als konsumierbare Objekten für männliche Figuren. Ein sich wiederholender männlicher Blick, der sich an die implizit männlichen Zuschauer wendet.

Photo by Cassi Josh

“Die abgeschnittene Person” – Autofiktion in den sozialen Medien

(Dieser Text ist in leicht abgänderter Form als Nachwort für Sarah Bergers bitte öffnet den Vorhang: @milch_honig 2019–2009 verfasst worden)

Arbeitstitel des Romans, von dem ich behaupte, ich würde ihn schreiben, den ich aber nicht schreiben kann, weil mich langes Erzählen langweilt: Die abgeschnittene Person.“ So schreibt Sarah Berger in Textfragment 503 von bitte öffnet den Vorhang. Das Label “Roman” wird mit langem erzählerischen Atem assoziiert, es ist in dieser Textstelle aber nur noch eine vorgeschobene Behauptung, unzeitgemäß und langweilig. Dieser kurze Ausschnitt verdeutlicht den erheblichen Wandel, dem der Literaturbetrieb gerade unterliegt – eine turbulente Situation, die sich nicht nur durch die verstärkte Medienkonkurrenz erklären lässt, in der literarischer Texte gegenwärtig stehen. Viele dieser Veränderungen stehen in enger Verbindung mit dem drastischen Wandel unseres Lese- und Schreibverhaltens aufgrund der Digitalisierung. Auch wenn es mittlerweile ein Allgemeinplatz ist, lohnt es sich immer wieder zu betonen, dass Menschen nicht weniger als früher lesen, sondern nur anders und an anderen Orten. Aber wie verändert sich das Schreiben oder – noch spezifischer – das Erzählen in Zeiten sozialer Medien? Wie nehmen Schreib- und Lesegewohnheiten im Internet Einfluss auf die Literatur und das Erzählen selbst?

Menschen lesen in unserer digitalisierten Gesellschaft weiterhin, auch wenn sie insgesamt weniger Bücher kaufen, in denen ihnen von imaginierten Welten berichtet wird. Wir erzählen unablässig, ob es der kurze Bericht über den lustigen Hund in der Bäckerei ist, eine berührende Kindheitserinnerung oder eine nachdenkliche Geschichte, die unsere Einstellung zu einem bestimmten Thema verdeutlichen soll. Dieses Erzählbedürfnis lässt sich auch in unserem Onlineverhalten wiederfinden. Die sozialen Medien werden mit ständigen Narrativierungen des Selbst bespielt – Selbstvergewisserung der eigenen Individualität durch Statusmeldungen. Mediales Kennzeichen dieser erzählerischen Verfahren ist oft eine Rückbindung des Erzählten an die Person des Erzählenden, deren Person eng mit dem Text verknüpft wird. Hierbei entsteht ein Rezeptionsmodus, der nicht mehr klar zwischen Text und Autorin einerseits und Fakt und Fiktion andererseits trennt – eine im Internet eingeübte Art und Weise mit Texten umzugehen, die wiederum direkten Einfluss auf die Literatur hat. Gegenwärtig befinden wir uns also mitten in den Wirren eines gravierenden epistemologischen Wandels, der unser Verhältnis zu den Kategorien Fakt und Fiktion betrifft.

Sarah Berger, Autorin bei Frohmann Verlag und Sukultur

Der große Erfolg autofiktionaler Texte der letzten Jahre kann so auch als Konsequenz der Tendenz verstanden werden, Schreibende und Werk immer enger miteinander zu verknüpfen. Das Kofferwort ‚Autofiktion‘ setzt sich aus Autobiographie und Fiktion zusammen und zeigt so bereits auf der Wortebene, dass faktual erzählte Autobiographie mit erdachten Elementen verwoben wird, bis es für die Lesenden unmöglich ist zu unterscheiden, wo Fiktion anfängt und Fakt aufhört. Ob uns nun Karl Ove Knausgård mit detaillierten Schilderungen seines Stuhlgangs im Wald erfreut oder Édouard Louis uns am Sexleben seiner Eltern teilhaben lässt – der literarische Blick seziert intimste Details und schreckt auch vor der Bloßstellung engster Angehöriger nicht zurück. Das faktual Belegbare liegt im Trend, wie es Sarah Berger in einer Anekdote präzise formuliert:

„Immer wieder nehme ich an Lesungen teil, bei denen die Autor_innen damit prahlen, dass das, was sie gleich vorlesen werden, genau so passiert sei. Sie prahlen, sich die Geschichte nicht ausgedacht zu haben. Sie betonen die Faktizität als eine besondere Qualität des Textes. Ein_e Autor_in entschuldigt sich sogar, dass die Texte fiktional seien und nicht auf wahren Begebenheiten beruhen.“ (Textfragment 429)

Wenn nun aber die Autofiktion als Erzählverfahren den Rezeptionsmodi der sozialen Medien besonders gut entspricht, ist dann das Internet nicht ein besonders passender Ort für autofiktionale Literaturexperimente? Tatsächlich bespielt die Autorin Sarah Berger bereits seit vielen Jahren verschiedene sozialmediale Formate mit ihren autofiktionalen Fragmenten. Aus diesen zunächst im Internet  veröffentlichten Texten entstand das 2017 im Frohmann Verlag veröffentlichte Buch Match Deleted: Tinder Shorts, das unter anderem aus kurzen Chatpassagen in Dating Apps besteht, die zwischen tragikomischer Absurdität und philosophischer Tiefenbohrung changieren. Bereits in ihrem ersten Buch verwendet Sarah Berger also die digitalen Formate der Selbsterzählung, in diesem Falle die narrative Erschaffung einer attraktiven Persönlichkeit beim Online-Dating, und führt diese ad absurdum, wenn die Chats immer wieder aus dem Ruder laufen oder die Kommunikation krachend scheitert. Damit eignet sie sich einerseits ein marktorientiertes Erzählverfahren der Selbstanpreisung an und unterläuft es andererseits, indem sie immer wieder den Freiheitsraum ausmisst, den sich das Individuum im digitalen Erzählraum erkämpfen kann.

In Sarah Bergers zweitem Buch versammeln sich nun erneut autofiktionale Textfragmente der letzten Jahre, die ebenfalls Erzählmodi der sozialen Medien aufgreifen und so immer wieder vor Augen führen, wie sozialmediales Erzählen mittlerweile unsere Wahrnehmung prägt. In den kurzen Texten geht es um sexuelle Grenzerfahrungen, Drogenkonsum, Freundschaft und Einsamkeit und immer wieder wird das Erzählen selbst zum Reflexionsgegenstand. Interessanterweise widmet sich die Autorin in vielen ihrer Fragmente der vermeintlich letzten Bastion von Authentizität: dem Körper. Die schonungslos offenen Texte entwickeln ihre radikale Widerstandskraft, gerade weil sie sich so fundamental gegen die idealisierende Ästhetik vieler sozialer Medien richten, gegen die Zurichtung des eigenen Körpers als Werbungsvehikel.

Was können unsere Körper in Zeiten sozialmedialer Selbstnarrativierung erzählen? Sarah Berger zieht sich hierbei nicht auf einen Authentizitätseffekt des Körperlichen zurück, wie es beispielsweise Knausgård immer wieder tut, etwa wenn Körperausscheidungen detailliert thematisiert werden. Stattdessen entzieht sie dieser idealisierten Vorstellung des Körpers als letzter Bastion des Realen den Boden. Denn obwohl sie in Fragment 470 schreibt, dass ihr Körper alles für sie entscheidet, können wir der autofiktionalen Erzählinstanz doch kein Vertrauen schenken, müssen beim Lesen des Buches und der Betrachtung der im Buch enthaltenen Fotografien akzeptieren, dass besonders der weiblich gelesene Körper im Patriarchat verschiedensten Projektionen unterliegt.

Gerade die bewusste performative Selbstinszenierung ermöglicht dem Individuum Freiheitsräume. So zeigt Sarah Berger mit ihren Erzählverfahren, die an das fragmentarische Selbstnarrativieren in den sozialen Medien angelehnt sind, dass Authentizität immer nur ein Spiel mit Authentizitätseffekten ist, die wie Instagramfilter über das Erzählte gelegt werden können.

„Du findest doch Authentizität so geil. So verdammt geil. So ein echter Mensch ist so geil, geil, geil. WTF! Ich habe noch nie einen echten Menschen gesehen; schon gar nicht hier in Unbenannt 3 OpenOffice.org Writer. Wo ist denn dieser echte Mensch? Die Sarah schreibt schon wieder einen Text. Die echte Sarah schreibt schon wieder einen Text. Bist du echt? Echt!“ (Textfragment 434)

#Leseköpfe – Was passiert in unseren Köpfen, wenn wir lesen?

Vor einigen Tagen machte ein Artikel auf Twitter die Runde, in dem es darum ging, wie sich die Gedanken bei verschiedenen Menschen darstellen. Offenbar haben nicht alle Menschen einen inneren Monolog, der ihre Gedanken verbalisiert. Davon inspiriert, begannen wir darüber zu sprechen, was in unsere Köpfen passiert, wenn wir lesen. Wie bilden sich die Geschichten ab? Laufen filmische Sequenzen vor unserem inneren Auge? Stellen wir uns das Äußere von Figuren vor? Lesen wir uns den Text mit einer inneren Stimme vor?

In einem Google-Doc haben wir versucht unsere individuellen Leseeindrücke zu verbalisieren. Das Google Doc ist offen und wir laden alle Interessierten herzlich ein, dort einen eigenen kleinen Text zu ihren inneren Leseerlebnissen zu schreiben. Zum Mitmachen bitte auf diesen Link klicken, dort das individuelle Leseerlebnis schildern und mit Namen oder Twitter-Handle unterzeichnen. Ihr könnt euer individuelles Leseerlebnis auch unter dem Hashtag #Leseköpfe teilen. Wir sind gespannt!

Hier die ersten fünf Antworten auf die Frage:

“Ich habe schon immer ein Problem damit, mir die Figuren in einem Text so vorzustellen, wie der Text das vorgibt. Irgendwo zu Beginn des ersten Bandes der Harry-Potter-Reihe wird beschrieben, dass das Haar des Ekelpakets Draco Malfoy blond ist. Das musste meinem 14-jährigen Ich aber in seiner nackten Weiterlesegier entgangen sein, denn in meinem Kopf hatte Malfoy immer schwarze Haare. Die störrische Imagination muss dann die restlichen Male, die von den blonden Haaren Malfoys die Rede war, überlesen haben. Jedenfalls bin ich aus allen Wolken gefallen, als die Filme kamen und Malfoy blond war: #notmymalfoy! Genaue visuelle Beschreibungen aller Art konkurrieren in meinem Kopf mit der Casting-Politik meiner Imagination, die sehr schnell entscheidet, wie etwas auszusehen hat. Meistens werden dafür Eindrücke aus meinem realen Erleben verwendet. Ich habe z.B. ein und dasselbe reale Haus für einige verschiedene Interieurs in Romanen. Da kann dann noch so viel über Damastvorhänge und samtene Fauteuilles geschrieben werde (Thomas Mann ist in dieser Hinsicht besonders penibel); mein Kopf hat diese Räume schon anderweitig möbliert. Das gilt wiederum auch und besonders für Figuren: In Jonathan Franzens Roman Freedom gibt es eine Figur, die immer wieder vom Aussehen her mit Muammar al-Gaddafi verglichen wird. Ich hatte für diese Figur aber von Anfang an (vollkommen unwillkürlich) einen entfernten Bekannten im Kopf. Jedes Mal, wenn Gaddafi erwähnt wurde, war das eine Irritation: Aber so sieht Richard doch gar nicht aus!”
(Johannes, @Johannes42

“Beim Lesen höre ich eigentlich immer meine eigene Stimme in meinem Kopf, die mir den Text vorliest. Dabei spielt sich allerdings kein Film vor meinem inneren Auge ab, Figuren stelle ich mir – wenn überhaupt – nur sehr verschwommen vor. Bei langen, ausführlichen Beschreibungen der Umgebung steige ich sehr schnell aus, weil ich es mir nicht richtig vorstellen kann, deshalb lese ich beispielsweise auch nur ungern Nature Writing. Eigentlich sehe ich während der Lektüre nur vereinzelte Schnappschüsse vor mir, wenn im Text etwas vorkommt, was ich schon mit eigenen Augen gesehen oder selbst erlebt habe. Kürzlich las ich zum Beispiel einen Text, in dem eine Frau eine Uferpromenade entlang geht. Erst als im Text explizit erwähnt wurde, dass es sich dabei um den Abschnitt des Themseufers kurz vor der St Paul’s Cathedral handelt, den ich selbst schon mehrmals entlanggelaufen bin, hatte ich für einen kurzen Moment ein Bild im Kopf. Im Alltag, also unabhängig vom Lesen, habe ich allerdings keine Probleme, abwesende Dinge, Orte und Personen zu visualisieren.”
(Magda, @Magdarine)

 

“Beim Lesen sehe ich sofort Räume oder Landschaften, ab dem ersten Satz, und passe die dann, je mehr ich darüber erfahre, laufend und problemlos an. Bei den Personen dauert das mit dem Sehen etwas länger, und sie bleiben dann eher schattenhaft und haben keine Gesichter. Hände stelle ich mir sehr bildlich vor, sofern sie beschrieben werden (z.B. so ein bisschen eine Marotte von Min Jin Lee, „Pachinko“, „Ein einfaches Leben“, das ich gerade lese). Ein Buch hat für mich eine Farbe, die wie so ein Filter (wie das Sepia in Til-Schweiger-Komödien) über allem liegt. Früher hat sich diese Farbe leider oft nach dem Umschlagmotiv oder dem Einband gerichtet, darum bin ich sehr froh über die Reizarmut des eReaders und lese viel lieber darauf. Obwohl die Figuren unscharf sind (was ich nicht als Mangel empfinde), sehe ich Szenen beim Lesen vor mir, was mich manchmal von der Sprache ablenkt. Wenn die Sprache sehr schlecht ist, wirkt sich das allerdings auf dieses Filmische aus: Dan Browns „Da Vinci Code“ konnte ich nicht weiterlesen, weil es vor meinem Leseauge ablief wie eine völlig bizarre Slapstick-Komödie in grellen Primärfarben. Wenn ich eine Verfilmung sehe, existiert mein innerer Film unabhängig davon weiter und wird nicht überschrieben, und bei der Verfilmung stören mich keine Abweichungen von meiner Erwartung, es ist für mich völlig getrennt von meinem Leseerleben.”
(Till, @TillRaether)

“Die 3 Hexen. Sehe eine rauhe, felsige Landschaft, braun grün grau. Heide. Gewitter. Hexen-Talk.
In der Ferne taucht der Kopf eines Mannes auf, der einen albernen Blechhut trägt. Dschinghis Khan-Auftritt im Fernsehen der 80er. Die Hexen. Warum stelle ich mir Hexen immer entweder alt, hässlich, krummnasig und warzig oder aber jung und schön vor. Ha, ja warum wohl. Hurlyburly schönes Wort. Überhaupt viele schöne Wörter, grosse Liebe für S.  Höre unter den Hexen immer die Stimme von Ted Hughes, wie er „double double toil and trouble“ sagt. Diese Vorliebe von Konsonanten, möglichst rollen und grollend vorgetragen bei ihm, das ist sehr eindrucksvoll und dramatisch, aber Vokale sind mein jam. Etwa Joe Henry am Ende von Sign, „who trailed a strand of braided hair across the back rail of her chair“. Immer das Scheiss-Musending. Jetzt ein kahler Seminarraum mit einem Literaturdozenten, der mit dem Zeigefinger wackelt und „Kitsch“ murmelt. Ist eigentlich alles, was Gefühle auslöst, Kitsch. Weg mit dem.
Welles wirklich Fehlbesetzung für mich. Sogar Kinski wäre besser. Uff hasse den so. Aber der Film sonst sehr eindrucksvoll, obwohl die Kulissen so cheap wirken. Macbeth auch immer verknüpft in meinem Kopf mit Faust. Nur Goethe leider Shakespeare für Arme. Hot take lol. Shakespeare-Übersetzungen. Die Kommilitonin, die damals im Seminar eine eigene Sonett-Übersetzung vorgelesen hat, so wunderschön, alle haben ganz atemlos gelauscht. Wünschte, ich könnte das auch, aber gar kein Reimtalent alas. In dem ganzen verdammten Stück sind eigentlich nur die Frauen interessant. Vielleicht sollte ich mal wieder Marias lesen. Dieser Hexenkessel in offener Landschaft, das ist doch unrealistisch oder. Überhaupt diese ganze Kesselnummer, sehr langer Bart. Könnte 1 vielleicht mal entstauben. Diese 3 sehen jedenfalls alt und verlumpt aus. Macbeth nicht grad ein Schlaukopf oder. Puh.”
(Maike, @mai17lad)

“Ich sehe beim Lesen einen Film vor dem inneren Augen, der manchmal auch durch Snapshots unterbrochen wird. Dabei ist dieser Film tatsächlich mit cineastischen Mitteln gestaltet: Farbfilter, Stimmung, Kameraperspektive (nahezu unmöglich zu recherchieren, aber wie spannend wäre es, das mit Leseerlebnissen von vor 100 Jahren zu vergleichen). Es ist aber grundsätzlich ein stummer Film. Menschen sehe ich sehr genau vor, bis auf das Gesicht, das ist meistens verschwommen. Statur, Kleidung, Haarfarbe etc. sind aber detailliert. Die Umgebung setzt sich sofort zusammen, sobald ich anfange zu lesen. Selbst wenn die späteren Beschreibungen meiner ersten Vorstellung widersprechen, ändert sich meine Vorstellung kaum noch. Ich glaube am deutlichsten erlebe ich Stimmungen und Atmosphären, die sind wirklich von Text zu Text ganz unterschiedlich und ich frage mich oft, was genau eine Stimmung eigentlich erzeugt. Beispiel: Ich habe letztes Jahr Essays von Joan Didion gelesen, die meistens in Kalifornien angesiedelt sind, die Atmosphäre ist schwer, dunstig, die Hitze, die Stadt L.A., das Meer, das aber irgendwie keine Abkühlung bietet, alles ist überhitzt und warm. Gleichzeitig ein Hauch von Horror. Genauso lese ich jetzt gerade Saskia Vogels “Permission”, das auch in L.A. spielt und ich habe den unguten Verdacht der Grund, dass ich vorher irgendwo den Namen Joan Didion mit ihr in Verbindung gelesen habe.”
(Simon, @SamsonsHirne

Beitragsbild von Siora Photography über Unsplash

Blickpolitik: Flaneur rempelt Phoneur

Zombies, unheimliche Wiedergänger ohne Persönlichkeit oder Seele, treffen auf Smartphones und heraus kommt das Kofferwort „Smombies“, das nun unbeaufsichtigt durch den Diskurs geistern darf. Der Begriff für Menschen, die sich in ihrem Smartphone versenken und ihre Umwelt gar nicht oder kaum noch wahrnehmen, machte eine rasche Karriere und wurde 2015 sogar mit dem Titel des „Jugendworts des Jahres” gekrönt, und das, obwohl es kaum Nachweise über eine tatsächliche Verwendung des Wortes gab. Aber wer kann schon einem smarten Jugendwort widerstehen, das so schön die (eigene) Technikskepsis zusammenfasst.

In ihr Telefon vertiefte Menschen werden seit einiger Zeit  als Ärgernis wahrgenommen; davon zeugen die ironischerweise regelmäßig in den sozialen Medien verbreiteten Posts von Gastronomiebetrieben, die Smartphoneverbote aussprechen oder stolz verkünden kein W-Lan zur Verfügung zu stellen. Und selbstverständlich findet sich diese Form von Kritik, die  schnell in einen Schwanengesang auf das Echte, Reale und Authentische, die zwischenmenschliche Interaktion und die gute alte Zeit ausarten kann, auch in den etablierten Medien.

Ein aktuelles Beispiel liefert ein Kommentar des Medien- und Literaturwissenschaftlers Roberto Simanowski im DLF Kultur, dort schreibt er: „Also stört uns die Ignoranz des Smartphone-Zombies – oder kurz: Smombies – nicht nur uns, sondern auch dem Raum gegenüber. Und mit dem Raum entwerten sie zugleich dessen Geschichte und Gegenwart, die präsent ist in der Häuserstruktur, den abgetretenen Treppenstufen, dem Denkmal im Park. Das alles geht ebenso verloren wie die Menschen vor Ort. Kein Blick für die Jugendlichen an der Ecke und die Trinker im Park. Kein Blick für die alte Frau mit dem Baguette oder das kleine Mädchen mit dem großen Hund. Aber damit nicht genug. Das Smartphone lenkt nicht nur ab vom Raum, es ändert auch den Blick auf diesen.“

Natürlich möchte man direkt zurückfragen, ob Herr Simanowski schon mal eine halbe Stunde auf Instagram verbracht hat, wo Bilder der von ihm beschriebenen spezifischen Form von Lokalkolorit, Perspektiven auf interessanten Ecken im öffentlichen Raum und eine beinahe fetischisierte Verfallsästhetik zahlreiche der geposteten Bilder prägen – fotografiert von den vielfach kritisierten Smombies, die angeblich ihre Umwelt nicht mehr wahrnehmen.

Simanowski vertritt in seinem Text, wie auch in einem sehr ähnlichen Vorläufertext in der NZZ von 2017 (Kulturkritik kann man eben auch drei Jahre später noch aus dem Gefrierfach nehmen), eine Flanierästhetik alter Schule, die allzu oft andere Menschen im öffentlichen Raum zur Kulisse reduziert. Der Flaneur ist historisch betrachtet eine männliche Figur, und  es ist daher auch durchaus bezeichnend, wer in Simanowskis Text angeschaut wird: Jugendliche, Trinker, Kinder und Frauen.

Wem gehört der öffentliche Raum? Wer fühlt sich dort sicher und willkommen? Für wen werden öffentliche Plätze und Straßen geplant und wer ist ein öffentliches Ärgernis? All diese Fragen treiben nicht nur Stadtplaner*innen und Geograph*innen um, sondern werden auf immer wieder neue Art und Weise auch in der Literatur verhandelt. Der Blick auf die räumlichen Verhältnisse in literarischen Texten, auf Raumkonzepte als zentralen Vorstellungsbildern von Kulturen und auch auf die Machtdimensionen, die unseren Vorstellungen von Raum immer eingeschrieben sind, ist mittlerweile zu einem Kernthema der Kultur- und Literaturwissenschaften geworden und auch in der Literaturkritik angekommen.

Raum in literarischen Texten kann eine Bühne für die Figur sein, kann Heimat und Geborgenheit oder Abenteuer und Eroberung bedeuten, kann distanziert beobachtet oder halsbrecherisch durchdrungen werden. Figuren können von Machtverhältnissen, die sich räumlich abbilden unterdrückt oder ermächtigt werden, aber zu dem Raum, in dem sie erzählt werden, müssen sich die Figuren immer irgendwie verhalten. Literatur steht immer in einem Verhältnis zur Gegenwart der Schreibenden, unterläuft Wahrnehmungsmuster und soziale Ordnungen oder affirmiert diese. So setzen sich beispielsweise zahlreiche Texte der Anthologie FLEXEN. Flaneusen* schreiben Städte, die 2019 im Verbrecher Verlag erschienen ist, mit dem öffentlichen Raum auseinander, eignen sich die traditionell Männern vorbehaltene Sozialfigur des Flaneurs an und erobern den Raum aus einer eigenen Perspektive. Dabei wird ein kulturell etabliertes Blickregime unterlaufen, das dem männlichen Flaneur die Rolle des betrachtenden Subjekts zuweist, der mit seinem Blick anderen Personen im öffentlichen Raum zu Objekten machen kann. Flanieren als feministische Praktik setzt also diesem männlichen Blickregime einen eigenen Blick entgegen, versucht Unsichtbares sichtbar zu machen und den eigenen Status in etablierten Blickregimes zu reflektieren.

In Zeiten der Digitalisierung aber hat sich die Rolle der Flaneure im öffentlichen Raum grundsätzlich verändert. Einerseits gibt es Theorien, die das Flanieren selbst in die Virtualität verlegen, also beispielsweise zielloses Surfen im Internet oder das Wandern in Computerspielen als neue Form des Flanierens bezeichnen, andererseits entstehen aus der allgegenwärtigen Verzahnung von virtuellem und realem Raum neue Fragen und Herausforderungen. Welche Rolle spielen Flaneure und Flaneusen in der Gegenwart zwischen Pokémon Go und Schrittzähler-Armbändern?

Robert Luke formuliert 2005 erstmalig den Begriff des Phoneurs für die flanierenden Menschen in sich überlappenden virtuellen und realen Räumen. Corinna Pape schreibt: „‘Strolling‘ lautet der englische Begriff für die Praxis des Flaneurs – ‘scrolling‘ nennen wir heute das Lesen auf digitalen Geräten. Ausgehend von der Annahme, das sich mobile Medientechnologien zunehmend in den urbanen Raum einschreiben, stellt sich die Frage: Wird der Flaneur heute zum ‘scrollenden‘ Spaziergänger, zum Phoneur, der sich ausgestattet mit mobiler Technologie ebenfalls in einer Zwischenwelt innerhalb des Stadtraums bewegt?“[1]

Der sich aktiv im realen Raum bewegende Phoneur, der diesen durch Verknüpfung mit dem sozialen Gefüge des virtuellen Raums mitgestaltet, steht im klaren Gegensatz zu dem von Simanowski kritisierten hirnlosen Smombie. Der öffentliche Raum gehört den Menschen, die sich dort aufhalten, ob sie mit gesteigerter Sensibilität nach Bildern für ihren Instagramfeed suchen, alltagsbeobachtend im Kopf Tweets formulieren, versuchen ihre 10000 täglichen Schritte zu erreichen, das ein oder andere Pokemon fangen, oder eben andere bei ihrem fluiden Wechsel zwischen Virtualität und Realität bewerten und beobachten.

Das Gerede von Smombies, die in ihr Smartphone starrend die Sinnlichkeit des öffentlichen Raums verpassen, ist eine reaktionäre Argumentationsfigur, die auch dem Zorn darüber zu verdanken ist, dass sich viele Menschen nicht mehr den etablierten Blickregimes unterwerfen, den Blick zurück verweigern und sich stattdessen teilweise in den virtuellen Raum zurückziehen. Damit werden etablierte Machtverhältnisse im öffentlichen Raum nicht mehr bestätigt, sondern ständig in Frage gestellt und das macht wütend. Simanowskis formuliert es in der NZZ vielleicht selbst am besten: „Ärgerlich ist, dass wir nicht infrage kommen, dass wir keine Rolle spielen, dass wir ignoriert werden.“ Seine Antwort auf diese Zumutung des Blickentzugs scheint übrigens zu sein, sich den Phoneuren mutig in den Weg zu stellen: „Diese Smartphone-Zombies sind keine Überbleibsel einer unbegrabenen Vergangenheit, sondern Vorboten einer Zukunft, der wir nicht entgehen können. Ihr Anblick gemahnt uns, dass wir die technische Entwicklung nicht aufhalten können. Wer wollte da nicht wenigstens den Boten dieser Entwicklung sich wacker in den Weg stellen?“ Hier rempelt dann der Flaneur alter Schule die Phoneure zurück in das alte Blickregime – zumindest für einen Augenblick.

[1] Corinna Pape: „Lernen findet Stadt. Der urbane Raum als transmedialer Spielplatz.“ In: Gerhard Chr. Buckow et. Al. (Hg.): Raum, Zeit, Medienbildung. Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit. Wiesbaden, 2012. S. 155-172

 

Kanon-Wrestling bei den 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur #tddlKanon

Aktuell findet in Klagenfurt wieder der Bachmannpreis statt, dessen Lesungen in den sozialen Medien eifrig begleitet werden. Es ist interessant zu beobachten, welche Namen und Werke in den Jury-Diskussionen genannt werden, da sich eben diese Nennungen im Kontext von Diskussionen und Gesprächen über Literatur als performative Kanonisierungspraxis beschreiben lassen. Welche Namen und Werke werden als bekannt vorausgesetzt oder durch eine Nennung indirekt empfohlen? Beziehen sich die Empfehlungen eher auf Filme und Serien oder auf literarische Texte?

Ein Kanon bezieht sich auf einen Korpus von Texten, die als gemeinsame Gesprächsgrundlage vorausgesetzt oder als wichtig für die kollektive Identität befunden werden. Waren früher die Kanones oft verschriftlicht, beispielsweise in Leselisten mit Texten, die jede*r Studierende der Germanistik kennen sollte, so sind die Kanones mittlerweile deutlich offener und werden eher implizit vermittelt. Aus expliziten und impliziten Kanones lässt sich ableiten, welche Texte für eine Gesellschaft oder eine Gruppe wichtig sind. Die Veränderung von Kanones wird unter dem Begriff der Kanondynamik gefasst.

Als Ensemble von Texten, die von einer sozialen Gruppe für wertvoll gehalten werden (vgl. Worthmann 1998, 14), dient Kanon der Absicherung und Stabilisierung von Werten, Normen und kollektiven Vorstellungsbildern, zugleich auch der Abgrenzung nach außen. Ein literarischer Kanon umfasst in diesem Sinne Texte, die den Absicherungs- und Abgrenzungsbedürfnissen einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt entsprechen und für diese spezifische Bedürfnisstruktur spezifische Antworten liefern. Wandeln sich diese Bedürfnisstrukturen, so wandelt sich auch der Kanon als Gruppe jener Texte, die auf diese Bedürfnisse reagieren.

(Gerhard Kaiser u.a.: Vom literarischen Kanon zur Kanonpluralität. In: Gabriele Rippl / Simone Winko (Hgg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart, 2013. 85-119. Hier: S. 103)

Inspiriert davon schrieb ich auf Twitter, dass mich die gesammelten Referenzen in Bezug auf Kanonisierung und Medienwandel interessieren würden. Daraufhin antwortete Nikola Richter mit dem Vorschlag gemeinsam unter dem Hashtag #tddlKanon zu sammeln:

 

Folgend nun die Auflistung von Referenzen aus den Moderationen und Jury-Diskussionen des ersten Tages. Obwohl sich einige Menschen beteiligt haben, kann es durchaus sein, dass etwas vergessen oder überhört wurde. Bei Titeln, die sich sowohl auf ein Buch als auch auf einen Film bzw. eine Serie beziehen können, wurde aus dem Kontext abgeleitet, was gemeint war. Hinweise auf Korrekturen und Ergänzungen können gerne kommentiert werden, auch unter dem Hashtag #tddlKanon.

Tag 1 – 27. Juni 2019:

Filme & Serien:

Star Wars, Annihilation, Avatar, Avengers, Star Trek, Chihiros Reise ins Zauberland, Coco – Lebendiger als das Leben, Handmaid’s Tale, Solaris (Buch von Stanislaw Lem, Insa Wilke bezieht sich jedoch in der Diskussion explizit auf den Film von Andrei Tarkowski)

Literarische Quellen:

1984 (George Orwell), Simplicissimus (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen), Roman eines Schicksalslosen (Imre Kertész), Stella (Takis Würger), Augsburger Kreidekreis (Bertolt Brecht), Die Liebe im Ernstfall (Daniela Krien)

Autor*innen literarischer Werke:

Ursula K. LeGuin, Sibylle Lewitscharoff, Elfriede Jelinek

Ernst Jünger, Gerd Gaiser, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Stephen King, Andreas Maier, Michael Kumpfmüller, Daniel Kehlmann, Franz Kafka, Michael Köhlmeier

Nicht literarische Werke:

Schiffbruch mit Zuschauer (Hans Blumenberg)

In der Diskussion zum Text von Silvia Tschui spielte Hildegard Keller auf Rousseaus “Émile” an, Autor oder Werk wurden jedoch nicht explizit genannt.

Sonstiges:

Märchen, Sage, Kain und Abel (Bibel)

Tag 2 – 28. Juni 2019:

Filme & Serien:
Taxi Driver

Regisseur*innen:
Alfred Hitchcock, Woody Allen

Literarische Quellen:
Faserland (Christian Kracht), Rohstoff (Jörg Fauser), Malina (Ingeborg Bachmann)

Autor*innen literarischer Werke:

Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann

Peter Weiss, Peter Handke, Franz Kafka, Samuel Beckett, Carlos Castaneda, J.G. Ballard, Raymond Chandler, Richard Ford, Cormac McCarthy

Nicht literarische Werke:
Masse und Macht (Elias Canetti), Engel der Geschichte (unklar ob Bezug auf Paul Klee oder auf den Essay von Walter Benjamin), Kunst aufräumen (Ursus Wehrli)

Sonstiges:
Elegie, Reportage, Familienreportage, Carolin Emcke, Theodor Adorno, Musikvideo „Close To Me“ von The Cure, Lucky Luke, Lassiter Hefte,

Tag 3 – 29. Juni 2019:

Filme & Serien:
The Big Lebowski, Aus der Mitte entspringt ein Fluss (Verweis auf Brad Pitt, nicht auf den Autor Norman Maclean der Romanvorlage), The Life Aquatic, Arielle

Literarische Quellen:

Die Klosterschule (Barbara Frischmuth),

Mutter Courage (Bertolt Brecht), Brief an den Vater (Franz Kafka),
Überm Rauschen (Norbert Scheuer), “Eine Geschichte vom Fliegenfischen”(Paulus Hochgatterer), Doktor Faustus (Thomas Mann),

Autor*innen literarischer Werke:
Ingeborg Bachmann

Thomas Brasch, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Ernest Hemingway, Adalbert Stifter,

Nicht literarische Werke:
Die Banalität des Bösen (Hannah Arendt)

Sonstiges:
Gleichnis, „Mein Freund der Baum“ Lied von Alexandra (fälschlicherweise Nicole zugeordnet),

Ein Juror erzählte den Wettstreit der Maler Zeuxis und Parrhasios, der in Plinius’ Naturgeschichte überliefert ist.

An Tag 3 kommt es außerdem zu einem weiteren interessanten Phänomen:

Lesekreise werden den Buchmarkt auch nicht retten. Wir starten trotzdem einen!

2018 wurde weithin als ein Katerjahr für den deutschen Literaturbetrieb wahrgenommen, abnehmende Leserzahlen verursachen Bauchweh und Sorgenfalten in der Vermarktungskette. Doch wo eine Krise ist, ist auch die Hoffnung nicht weit: Der aktuellste Rettungsring des Buchmarktes, den Eindruck gewinnt man zumindest angesichts der Berichterstattung der letzten Monate, sind Lesekreise. Die Verlage springen begeistert auf diesen gar nicht mal so neuen, aber neuerdings ausgesprochen schick glänzenden Zug auf und gründen Portale für Lesekreise, von denen sie sich Kundenbindung und Förderung der Lesebegeisterung versprechen. Mit dieser Entwicklung haben sie wahrscheinlich nicht ganz unrecht, sind doch die Mitglieder von Lesekreisen oft fleißige Buchkäufer und Literaturkommunikatoren in ihrem sozialen Umfeld. Kennzeichen dieser von den Verlagen aufgelegten Angebote, die sich unter anderem an Buchhandlungen richten, die in ihren Räumlichkeiten diese Leseevents (mit passendem Weinangebot) veranstalten sollen, ist eine Betonung der Unmittelbarkeit, des persönlichen Gesprächs miteinander. Eine Art analoge Lesenische, die alle Sinne anspricht und auf die Diskussions- und Kommunikationsfreudigkeit der Mitglieder setzt.

Dabei ist es zum gemeinsamen Lesen wirklich keine unbedingte Notwendigkeit, in einem realen Raum beieinander zu sitzen. Auch im virtuellen Raum gab und gibt es Lesekreise, neben den Lesegruppen bei Lovelybooks und Goodreads gibt es auch bei Twitter Lesekreise und kollektive Lesepraktiken wie den #Lesemittwoch. Aus den gemeinsamen Gesprächen über Sachbücher und theoretische Texte bei Twitter entstand beispielsweise im Februar 2018 die #TwitLektüre. Gemeinsam wurden im Jahr 2018 acht Bücher gelesen, von Zygmunt Bauman bis Mary Beard. Die Gespräche über die gelesenen Texte wurden mit jeweils eigenen Hashtags verschlagwortet und zahlreiche Interessierte fanden sich zum Lesen, zum Nachdenken über die Texte und zum anschließenden Gespräch zusammen. Dabei kam auch immer wieder die Idee auf, dass man nicht nur gemeinsam Sachbücher und kulturtheoretische Texte lesen könne, sondern auch Belletristik. Deswegen haben wir von 54Books beschlossen, dass wir im neuen Jahr 2019 den Versuch unternehmen wollen, einen gemeinsamen virtuellen Lesekreis zu starten.

Dieser #54Reads Lesekreis soll folgenderweise ablaufen:

  1. Wir legen für einige Monate im Voraus Bücher fest, die wir dann gemeinsam lesen werden. Jeweils ein Mitglied von 54Books zeigt sich verantwortlich für den Monat und das ausgewählte Buch.
  2. Beim Lesen oder im Anschluss können alle Mitlesenden ihre Gedanken, Frage, Inspirationen oder weiterführende Hinweise in den sozialen Medien teilen. Dafür benutzen wir den Hashtag #54Reads und einen speziell für das jeweilige Buch gewählten Hashtag.
  3. Der eigens für den 54Books-Lesekreis gegründete Twitter-Account @54Reads wird alle auf Twitter geteilten Beiträge retweeten. Für den Account ist der-/diejenige verantwortlich, der/die den jeweiligen Monat übernommen hat. 
  4. Alle Mitlesenden sind herzlich willkommen, alle Beiträge sind willkommen. Es gibt kein richtiges oder falsches Lesen, nur unseren Enthusiasmus einfach zu schauen, ob und wie sich Dialoge um ein Buch herum entwickeln.
  5. Am Ende des Monats schreibt der/ die Lesekreisleitende von 54Books einen Blogpost zum Buch. Je nach Neigung, Zeit und Lust derjenigen/desjenigen kann das eine Rezension sein, weiterführende Gedanken oder eine knappe Zusammenfassung der auf Twitter gelaufenen Diskussionen.

So sehen die nächsten 54Reads-Lesekreismonate aus:

Januar: Tilman mit Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt

Februar: Berit mit Karin Boye: Kallocain

März: Simon mit Emmanuel Carrère: Der Widersacher

April: Katharina mit Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel

Wir freuen uns drauf!

 

 

 

Flauberts Jaulen oder das Lesen der Zukunft

Als Flaubert 1864 einen Brief an einen Freund schreibt, klagt er über seine Reise mit der Bahn: „Ich langweile mich derart in der Eisenbahn, dass ich nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu heulen beginne. Die Mitreisenden denken, es handle sich um einen verlorenen Hund; durchaus nicht, es handelt sich um Herrn Flaubert, der da stöhnt.“ Dieses Zitat leitet der großartige Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch „Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert“ nach einigen Vorüberlegungen zur Veränderung der Raumwahrnehmung durch die Eisenbahn mit einer scharfen Diagnose ein: „Die Unfähigkeit, eine dem technischen Stand adäquate Sehweise zu entwickeln, erstreckt sich unabhängig von politischer, ideologischer und ästhetischer Disposition auf die verschiedensten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts.“ Wenn ich nun heute Elegien darüber lese, dass sich die Leute keine Schmuckbände großer Autoren mehr ins Bücherregal stellen wollen oder Wehklagen über fehlende Bücher im neuen Ikea-Katalog erklingen, fühle ich mich unweigerlich an das Jaulen Flauberts erinnert.

Wir befinden uns in einer interessanten Phase der digitalen Revolution, an der ein sich exponentiell beschleunigender technischer Wandel anfängt zunehmend auch an den Fundamenten ehemals für unumstößlich gehaltener kultureller Gebäude zu nagen. Die Folgen dieses umfassenden medialen Wandels, dessen Auswirkungen Einfluss auf die sozialen und politischen Verhältnisse nehmen, und sogar unsere sensorische Wahrnehmung der Welt selbst verändern, treffen selbstverständlich auch den Literaturbetrieb.

Ein Teil dieses Betriebes ist gerade zusammengebrochen, als der traditionsreiche Stroemfeld-Verlag Insolvenz angemeldet hat. Das ist nicht nur traurig, weil die Geschichte des kleinen Verlags so spannend ist, immerhin entstammt er der linksautonomen Szene Frankfurts in den 1970er Jahren, sondern auch weil sich anhand der Profilbildung und Programmentwicklung dieses Verlages sehr gut nachzeichnen lässt, wie sich kulturelle Sensibilitäten und Wertungen in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Zunächst ließ bereits die frühe Hinwendung eines linken Verlages zur Hölderlin-Herausgabe inklusive detaillierter Faksimiles vermuten, dass es mit dem Umstürzen bürgerlicher Ideale durch die 68er gar nicht so besonders weit her war. Das radikale dieser Generation Linker widerspiegelte sich scheinbar nicht in einer Aufhebung des Kanons oder der Verabschiedung bürgerlicher Statussymbole, stattdessen waren wohl die büchergefüllten Schrankwände, als Teil eines gebildeten Habitus, auch für linke Umstürzler ein entscheidender Bestandteil der Mentalität. Gleichzeitig wurden diese repräsentativen Ausgaben in einem Programm mit den radikal innovativen kulturtheoretischen Überlegungen von Klaus Theweleit herausgegeben, das Verlagsprogramm der frühen Jahre ist also ein recht gutes Beispiel für die inneren Widersprüche und komplexen intellektuellen Verhältnisse des politischen Umfeldes der Gründungszeit des Verlages. Ein Programm, das sich vor Allem von der Neigung zu anspruchsvollen Texten leiten ließ und nicht von politisch motivierter Kanonöffnung und -erweiterung. Nicht nur aufgrund der komplexen Geschichte des Verlages in linker Subkultur ist die Insolvenz zu beklagen, sondern auch weil das Verlagsprogramm mit seinen liebevoll ausgestatteten historisch-kritischen Ausgaben, ambitionierter Kulturtheorie und ästhetisch anspruchsvoller Literatur eine Lücke in der deutschen Literaturlandschaft hinterlassen wird.

Nun wurde der Verlag also von der oben beschriebenen Welle eines umfassenden Medien- und Kulturwandels erfasst und in Folge dessen wird auf die Umwälzungen, vor denen lange bewusst oder unbewusst die Augen verschlossen wurden, wahlweise mit kulturpessimistischem Alarmismus oder einer trotzigen Wagenburgmentalität reagiert. „Einst, als wir lasen“ titelte die FAZ, als ob wir uns momentan in einer Zeit befänden, in der nicht mehr gelesen wird. So wird nicht nur die Kundenschwundstudie “Buchkäufer – quo vadis?” des Börsensvereins, die den Buchmarkt aufrüttelt, das Erscheinen eines Ikea-Katalogs, der  2018 in den Produktfotos von Bücherregalen kaum noch Bücher zeigt und auch die Insolvenz des Stroemfeld-Verlags zum Anlass anschwellender Kulturverlustklagen in den sozialen und gedruckten Medien. Nun sind wir also angekommen, in der vielfach befürchteten digitalisierten Welt, in der nicht mehr gelesen wird, Epigonen der Hochkultur zu Staub zerbröseln und kulturlose Horden ihre Unterhaltung aus Internet und Netflix beziehen – quelle horreur!

Würden die Hohepriester des Kulturverfalls einen Moment innehalten und sich besinnen auf das, was ihnen vorgeblich so wichtig ist, nämlich den Wissensschatz in den eleganten Hardcovern in ihren Schrankwänden, dann würden sie vielleicht eine andere Tonart anschlagen. Unter B oder E beispielsweise, denn traditionell wurden die Bücher in den Regalen noch nach dem Alphabet sortiert und nicht nach Farbe der Buchrücken oder sonstigen fotogenen Sperenzchen, finden sich beispielsweise Pierre Bourdieu und Norbert Elias, bei denen man einiges zum Habitus und seiner symbolischen Präsentation nachlesen kann. Die Wichtigkeit des Bücherregals für die performative Identitätsbildung des gebildeten Europäers war über viele Jahrzehnte unhintergehbare Gegebenheit. Dass die Bücherwand jedoch in den letzten Jahren als Bildungsmarkierung und Hinweis auf Weltgewandtheit ausgedient hat, findet schon ein aufmerksamer Beobachter aktueller Autorenportraits heraus, denn dort zeigen sich nur noch selten Schreibende unter 50 vor ihrer Bücherwand, stattdessen wird vor Mauern oder in Hauseingängen gestanden, in Cafés oder auf Steintreppen gesessen – passende Symbole für ein urbanes Weltbürgertum, das sich nicht auf die eigene Wohnung beschränken und von 2345 Kilo Papier beschweren lässt. Wer braucht heute noch historisch-kritische Ausgaben und Schmuckbände im Privatbesitz, wenn befristete Verträge und schwierige Arbeitsmarktsituationen den regelmäßigen Umzug nicht nur notwendig machen sondern zum Lifestyle einer ganzen Generation werden lassen. Könnte man dann jedoch nicht gerade das Festhalten an schweren Bücherkisten als Anker im Umzugswirrwarr zu einer antikapitalistischen Protestgeste stilisieren? Doch die Trennung von der Büchersammlung ist nicht nur pragmatisch begründet, auch die Hinwendung zu minimalistischer Ästhetik des expeditiven Milieus führt zu einem Abschied von vollgestopften Regalen. Nun ist die Tatsache, dass die gutgefüllte und weit ausdifferenzierte Privatbibliothek als Symbol für die Bildung des Besitzers ausgedient zu haben scheint, an und für sich noch kein Grund das Ende des Abendlandes heraufzubeschwören.

Natürlich wird weiterhin gelesen, es wird bloß anders gelesen und vielleicht wird nicht mehr zwischen Buchdeckeln gelesen werden, aber diesen Wandel zum Ende der Kultur hochzujazzen ist nicht nur verfehlt, es ist auch ein wenig lächerlich. Medienwandel schmerzt, das ist keine Frage, er schmerzt jedoch vor Allem die Gruppen, die von der Existenz, Dominanz und Statuszuweisung eines langsam verschwindenden Mediums profitiert haben. Diese Trauer ob des empfundenen kulturellen Bedeutungsverlustes können historisch interessierte Menschen – also diejenigen die gerne in Büchern, Quellen und Texten wühlen – ohne weiteres nachweisen. In Phasen des Medienwandels sind dystopische Prognosen, ausführlich verbalisierte Ängste vor Auswirkungen neuer Medien und Schwarzmalerei der von Technik geprägten zukünftigen Gesellschaften schon immer ein beliebtes Genre gewesen. Eine gewisse Nostalgie angesichts des raschen Medienwandels ergreift scheinbar übrigens auch diejenige, die den digitalen Wandel mit offenen Armen empfangen, nicht zufällig gibt es Retrofilter in Instagram, zahllose Accounts die in den sozialen Netzwerken obskure, lustige oder skurrile Fotos der Vergangenheit teilen und einen Serienerfolg in historischem Milieu nach dem nächsten, mit Settings, die sich besonders durch hingebungsvolle Nachstellung vergangener Umstände auszeichnen.

Schon 1933 schrieb der US-amerikanische Soziologe und Technikdeterminist W.F. Ogburn:

„Will the machines of the future be our masters or our servants? They are strange creatures with which modern man has chosen to live, stranger than the ox and the dog which ancient man domesticated, and stranger even than the wild beasts which he did not domesticate. Machines have indeed created a new environment.“

In einem anderen Band von 1922 mit dem vielsagenden Titel Social change with respect to culture and original nature schreibt Ogburn über den Umgang von Gesellschaften mit neuer Technologie und entwickelt ein Vierphasenmodell, mit dem er die Verbreitung von neuen technischen Entwicklungen in Gesellschaften untersucht. Nach Erfindung, Akkumulation von Technologie, Austausch und Ausbreitung neuer Techniken und daraus resultierenden neuen Erfindungen, kommt es zu einer Phase der Anpassung, bei der die Gesellschaft auch in den nicht direkt von der Technologie betroffenen, das heißt die nicht-materiellen Bereiche auf die materiellen Innovation reagieren muss. Kommt es hier zu Verzögerungen entsteht etwas, das Ogburn als „cultural lag“ bezeichnet, Probleme und Konflikte entstehen aus dieser verzögerten Anpassung der Gesellschaft an die technischen Neuerungen.

In eben dieser Reibungszone befindet sich der Buch- und Medienmarkt, und das Konfliktpotential wird durch die Geschwindigkeit der Digitalisierung bestärkt, alte Medien und Wahrnehmungsdispositive werden mit neuen technischen Entwicklungen konfrontiert und ehemals für stabil gehaltene kulturelle Kernkompetenzen verlieren ihre Wirkmacht. Dabei ist es leicht zu vergessen, dass der Buchmarkt, ja selbst die Literaturformen, wie wir sie heute kennen ein relativ junges Phänomen sind, die selbst als Reaktion auf gravierende technische Neuerungen im 18. und 19. Jahrhundert entstanden sind. Noch im Barock krähte kein Hahn nach den Autoren literarischer Texte und die private Ansammlung von Büchern zum Studium und zur Ausstellung der eigenen Gelehrtheit ist ein Phänomen der Aufklärung. Den Massenzugang zur Literatur verdankte die breite Masse der Bevölkerung übrigens den Arbeiterliteraturvereinen, das emanzipative Potential von Büchern und die Versuche diese allgemeiner zugänglich zu machen war im 19. Jahrhundert entscheidender Teil des Klassenkampfes.

Durch den Medienwandel erfolgen Verschiebungen in der Käuferschicht und es ist daher letztlich eine kulturpolitische Frage, ob bestimmte verlegerische und editorische Aufgaben nicht in Zukunft einer staatlichen Unterstützung bedürfen. Wir brauchen weiterhin Ausgaben von Gesamtwerken, die in editorischer Feinarbeit geschliffen und poliert sind, jedoch ist die Frage, ob diese Aufgaben den Wirren eines spätkapitalistischen Medien- und Unterhaltungsmarktes unterworfen werden sollten oder ob der Schutz von Bibliodiversität nicht eine staatliche Aufgabe ist. Die kleinen und unabhängigen Verlage forderten daher bereits 2017 mit der Düsseldorfer Erklärung eine staatliche Unterstützung ihres Einsatzes für die Kulturlandschaft, eine Unterstützung die in anderen europäischen Ländern übrigens schon zum Standard gehört und auch als politisches Instrument genutzt werden könnte, um eine breitere Zugänglichkeit von Literatur für die Öffentlichkeit zu gewährleisten.

Hier lohnt es sich nochmal auf die Stroemfeld-Insolvenz zurückzukommen: Studierende konnten sich eine Subskription der Kafka-Ausgaben sowieso nie leisten, wer also hier den Käuferschwund beklagt, sollte sich vielleicht auch auf seine linken Ideale besinnen und über die zunehmend auseinanderklaffende Einkommensschere der deutschen Gesellschaft nachdenken und sich fragen, inwieweit diese ausgesprochen separaten Vermögensverhältnisse Einfluss auf den Zugang zur Bildung – wenn sie denn in Form von Schmuckausgaben und Editionen einhergehen soll – haben. Genau aus dieser Perspektive ist es doch befremdlich, dass gerade zentrale Figuren aus dem Umkreis des Stroemfeld-Verlags und der Verlag selbst in der Vergangenheit so eifrig gegen Open Access, also die digitale Zugänglichmachung von Literatur für eine Allgemeinheit verschiedenster Einkommensgruppen, vorgegangen sind und sich auch ansonsten den sich abzeichnenden Möglichkeiten und Folgen technischer Innovation versperrt haben.

In Norwegen wird beispielsweise zur Unterstützung der Verlagslandschaft eine Mindestabnahme von Büchern durch den Staat mit anschließender Verteilung an die Bibliotheken des Landes garantiert, dazu gehören auch feste Abnahmegarantien für eBook-Lizenzen und ehrgeizige Digitalisierungsprogramme der Nationalbibliothek. Wir brauchen jedoch keine Bibliotheken fördern, die keine Leser haben, in denen die Bücher nur in Regalen aufbewahrt werden. Zu einer vernünftigen Förderung der Literaturlandschaft gehört daher unbedingt auch eine weiträumige Lese- und Bibliotheksförderung und eine nachhaltige Finanzierung von Modernisierungs- und Digitalisierungsvorhaben der Bibliotheken. Die Rezeption von anspruchsvoller, oftmals nicht direkt zugänglicher oder zur Immersion anregender Literatur ist eine Form der Lesekompetenz, eine Fähigkeit, die man sich erwerben kann, analog beispielsweise zu den Sehkompetenzen für zeitgenössische Kunst oder den Hörkompetenzen für die Rezeption klassischer Musik. Hier wird in Zukunft die Rolle der öffentlichen Bibliotheken angesiedelt sein, als Informationszentren und Austauschstellen zwischen digitalem und analogem Raum, als Begegnungsort für alle Einkommensschichten, an dem Angebote zur Schulung von Lesekompetenz gemacht werden, kollektiv in Lesekreisen gelesen und über Literatur gesprochen wird.

Auf Medienwandel sollte der Buchbetrieb und die deutsche Kulturlandschaft nicht mit Angst reagieren, nicht wie Flaubert jaulend im Zugabteil sitzen, sondern offen auf Veränderungen zugehen, Stellschrauben da drehen wo es notwendig ist, Strukturen die erhaltenswert sind erhalten, aber nicht bloß aus einem reinen Selbstzweck oder zur Besänftigung von Statusängsten oder jaulenden Kulturpessimisten. Wir lesen, und wir werden weiterhin lesen. Was das für die Literatur bedeuten wird, wie die spezifischen Möglichkeiten und Kommunikationsformen literarischer Ästhetik sich verändern werden, das wird sich herausstellen, spannend wird es allemal! Dabei bedarf es durchaus einer ideologiekritischen Perspektive auf die neue Technik, die Antwort ist jedoch kein nostalgischer Traum von einer guten alten Zeit, sondern eine klare und scharfe Analyse der digitalen Verblendungszusammenhänge – um mal einen Begriff von Adorno auf den Tisch zu werfen – und leidenschaftliche Plädoyers für Literatur und Theorie, authentisch vorgetragen und zwar nicht nur in buchkitschiger Realitätsflucht zwischen Kaffeetassen am Bootssteg, sondern als Möglichkeit geistiger Schärfung und pluralistischer Meinungsbildung. Diese Position wird gegenwärtig von den etablierten Verlagen im und für den digitalen Raum in weiten Teilen leergelassen, hoffen wir darauf, dass sie gefüllt wird, bevor es dem Buchbetrieb so geht wie den Videotheken der 80er Jahre.

Musenanrufung im digitalen Zeitalter

Dieser Text ist eine Reisereportage aus dem Schattenreich der Autofiktion, eine Reflexion über die Spannung, die entsteht, wenn zwei Autoren einander umkreisen, wie Geier auf der Suche nach den besten Brocken Realität. Was sind die Konsequenzen, wenn eine per Dating-App und Chat durchgeführte Affäre von beiden Beteiligten für die eigene Literatur verwendet wird? Kannibalische Schreibende, die Lebensgeschichten, Alltagsdramen und persönlichen Krisen ihrer Mitmenschen zu eigen machen, um diese für ihre literarische Stoffe zu verdauen, geraten besonders im Kontext einer Hochkonjunktur autofiktionaler Texte regelmäßig ins Blickfeld. Der Begriff der Autofiktion zur Beschreibung von Texten, die eindeutige Abgrenzungen zwischen Autobiographie und Roman verwischen, wird Ende der 70er Jahre zunächst in Frankreich verwendet und ab der Jahrtausendwende auch in Deutschland aufgegriffen. Die große Beliebtheit autofiktionaler Verfahren in der Literatur Frankreichs und Skandinaviens inspirierte auch deutsche Autor*innen und mittlerweile hat auch hierzulande die Autofiktion ihren festen Platz im Literaturbetrieb erhalten. Merkmal autofiktionaler Texte ist es, dass die Erzählinstanz, die den Text erzählt, mit der Autoridentität zusammengedacht wird. Im Dunstkreis dieser Texte, die beispielsweise intimste Aspekte des Familienlebens literarisch verarbeiten, gerät immer wieder die Frage nach den ethischen Implikationen von Autofiktionen in den Fokus: Wem gehört eine Geschichte und wer darf sie erzählen?

Die Frage nach Eigentumsrechten an einer Geschichte ist eng verbunden mit der Schwierigkeit der Abgrenzung faktualer und fiktionaler Text voneinander; eine komplexe Fragestellung mit der sich die Literaturwissenschaft intensiv beschäftigt. Beide Begriffe beziehen sich auf das Verhältnis eines Textes zur außersprachlichen Wirklichkeit, also beispielsweise der Frage nach einem etwaigen Wahrheitsanspruch des Textes. Mit der Einordnung eines Textes als faktual ergeben sich andere Anforderungen an ihn, als bei einer fiktionalen Zuordnung. Faktuale Texte, die sich beispielsweise in der Textsorte „Biographie“ mit dem Leben von real existierenden Personen auseinandersetzen, sind juristischen Normen verpflichtet, dürfen also nicht die Persönlichkeitsrechte der Beschriebenen verletzen, die diese gegebenenfalls auch einklagen können. Fiktionale Texte folgen anderen Regeln und wenn diese Texte sich mit real existierenden Personen und deren Lebensgeschichte befassen, können ethische Graubereiche entstehen aus denen regelmäßig sogar juristische Konflikte resultieren. In seiner Dissertation zum Schlüsselroman, die sich den aus diesen Graubereichen entstehenden ethischen Fragestellungen widmet, schreibt der Fiktionstheoretiker Johannes Franzen folgendes:

Die Autoren berufen sich in Fällen, in denen diese Fragen zu Streitfragen werden, auf die literarisierende oder fiktionalisierende Anverwandlung des Realen, die es ihnen erlaubt, die geltenden Eigentumsrechte zu umgehen. Die Betroffenen dagegen verweisen auf die Residuen des Realen in der fiktionalen Darstellung, die eine Wiedererkennbarkeit möglich machen und dadurch ihr Recht, über die eigene Geschichte zu verfügen, verletzen. (Franzen: Indiskrete Fiktionen. S. 312)

Die Erlebnisse zweier Autoren, um die es in diesem Text gehen soll, beginnen in Berlin –Stadt der ewig verlängerten Adoleszenzphase. Beteiligt sind der schwedische Autor Malte Persson und die deutsche Autorin Sarah Berger. Um die Machtdynamiken der nun beschriebenen Entwicklungen zu verstehen, müssen zunächst die beiden Protagonisten etwas näher bekannt gemacht werden:

Portrait Malte Persson
Malte Persson, 2008. (Foto: Wikimedia Commons, CC BY 3.0)

Der Schwede Malte Persson ist seit seinem Debutroman Livet på den här planeten aus dem Jahr 2002 eine etablierte Figur in der schwedischen Literaturszene, nicht nur als Romanautor und Lyriker, sondern auch als Kritiker, Blogger und Übersetzer. Er hat diverse Stipendien und Preise für sein Werk bekommen und unter Anderem Thomas Kling und Heinrich Heine ins Schwedische übersetzt. Im März 2018 kam sein Gedichtband Till dikten heraus, der sich in Schweden nicht nur ausgesprochen gut verkauft, sondern auch von der Literaturkritik positiv besprochen wurde. Der Autor lebt in Berlin und dort begann dann auch die Tinder-Affäre, die sein Werk mit dem einer weit weniger etablierten deutschen Autorin verknüpft hat.

Sarah Berger, 2018. (Foto: Wikimedia Commons, CC BY 4.0)

Sarah Berger ist eine Fotografin und Autorin, die bereits seit einigen Jahren auf ihrem Blog, ihrem Twitter-Account und bei Facebook innovative Prosaminiaturen veröffentlicht, von denen zahlreiche unter die von der Verlegerin Christiane Frohmann definierte digitale Textsorte „Kleine Formen“ fallen. Ihr Debüt erschien im Herbst 2017 unter dem Titel Match Deleted. Tinder Shorts im Frohmann Verlag. In diesem empfehlenswerten Band versammelt Sarah Berger zahlreiche Texte, von denen einige bereits zuvor online veröffentlicht wurden und die sich im weitesten Sinne mit dem Phänomen der Liebe in Zeiten des Internets befassen. In den letzten Jahren hatte sich die Autorin in ihren Online-Communities bereits den Ruf erarbeitet, mit feinem Blick und philosophisch geschultem Vokabular die Absurditäten, enttäuschten Hoffnungen und hoffnungsvollen Einsamkeiten in Dating-Chats literarisch zu sezieren. Im Vergleich zu dem bereits im schwedischen Literaturbetrieb fest etablierten Autoren Malte Persson ist Sarah Berger also in einer deutlich weniger einflussreichen Position, eine Machthierarchie, auf die dieser Text später noch näher eingehen wird.

Liebe in Zeiten der freien Marktwirtschaft

Da Sarah Berger die Erfahrungen mit ihren Tinder-Dates nur in sehr vager Form beschreibt und ihr gegenüber dabei entsprechend unkenntlich gemacht wird, folgen wir zunächst Malte Persson Text. Für den großen öffentlich-rechtlichen Schwedischen Radiosender P1, der in ganz Schweden, Teilen Dänemarks und sogar auf Rügen zu empfangen ist, verfasste Persson eine 22-minütige Radionovelle, die von dem Schauspieler Johan Ulveson eingesprochen und am 5. März 2018 erstmalig ausgestrahlt wurde. Das Stück trägt den Titel Research, eine Anspielung auf die Erzählinstanz, die sich im Text auf Recherche in die Dating-App begibt und dort eine Autorin trifft, die ebenfalls für ihr Buch recherchiert – eine Tatsache, die bereits beim ersten Kontakt der beiden offengelegt wird:

Min presentation lyder: ”Allt jag gör här, är research för min nästa bok.” Det är en lögn. Och ändå inte. Precis som denna berättelse är, där det nästa som händer är att jag matchar med någon som kallar sig för Lou och är 29 år och också presenterar sig som författare. Lou skickar ett meddelande på chattet. Att allt jag gör här är research för min nästa bok, hade jag också kunnat säga. Detta finner jag lovande. Oklart om det är på ett personligt plan eller på ett litterärt.

Meine Beschreibung lautet: ”Alles, was ich hier mache, ist Recherche für mein nächstes Buch.” Das ist eine Lüge. Und doch auch nicht. Genau wie diese Geschichte sind, ist das nächste, was passiert, dass ich mit jemandem matche, die sich Lou nennt und 29 Jahre alt ist und sich auch als Schriftstellerin vorstellt. Lou schickt eine Nachricht im Chat. Dass alles, was ich hier mache, Recherche für mein nächstes Buch sei, hätte ich auch sagen können. Das finde ich vielversprechend. Unklar ist, ob auf einer persönlichen Ebene oder einer literarischen.

(Alle Zitate aus Research sind Rohübersetzungen auf Basis einer Transkription der Radionovelle)

Die Radionovelle ist schon in den ersten Absätzen so angelegt, dass es naheliegend ist, eine enge Überschneidung zwischen dem Ich-Erzähler, der sich selbst als in Berlin lebender Schriftsteller beschreibt, und Malte Persson zu vermuten. Der Leser nimmt so bereitwillig das autofiktionale Deutungsangebot des Textes an. Typisch für autofiktionale Texte wird bereits im ersten Absatz sowohl die Fiktionalität des Textes als auch die Faktualität markiert, wenn recht einfallslos darüber philosophiert wird, dass diese Geschichte zu einem anderen Zeitpunkt in einem Zugabteil oder einem Literatursalon hätte beginnen können, aber aufgrund ihrer zeitlichen Verortung in der Gegenwart nun eben in einer Dating-App beginnen muss. So betont der Autor erstens, dass es sich um einen fiktionalen Text handelt, dessen Erzähler er ist und zweitens, dass er diese Geschichte nicht anders hätte erzählen können, weil er an die Gegebenheiten der Realität gebunden ist. Das Changieren autofiktionaler Texte zwischen erzählerischer Freiheit und Wahrheitsanspruch wird hier sehr deutlich markiert.

Persson beschreibt, wie er bereits vor dem ersten Date Bergers Pseudonym „Lou“ lüftet und mit einiger Recherche ihren Twitter-Account findet; er berichtet von dem ersten Treffen der beiden und den sich daraufhin entwickelnden Gesprächen, die mehrheitlich per Chat geführt werden. Er bezeichnet sich und Sarah Berger als autofiktionale Autoren, die nun gegenseitig ihr Erleben für ihre textuellen Spiele mit der Realität verwenden. Sie sprechen darüber, wer es schafft die bessere Erzählung aus ihren Dates und Online-Flirts zu spinnen und entwickeln beim Chatten im kommunikativen Zusammenspiel eine komplexe Geschichte, die wiederum auf mehreren Ebenen das Verhältnis von Schriftsteller A und B spiegelt, die wahlweise versuchen sich ihre Erzählungen stehlen oder sich gegenseitig Geschichten unterzuschieben – die Radionovelle wird hier in manchen Passagen dermaßen selbstreflexiv, dass es ermüdend ist dem Text zu folgen, der weitestgehend eine metapoetische post-moderne Spielerei ist. Im gesamten Text wird dem Zuhörer jedoch vermittelt, dass es sich um die Begegnung zweier Autoren dreht, die mehr verliebt sind in das Geschichtenerzählen selbst, als in den zwischenmenschlichen Kontakt miteinander. Malte Persson hinterlässt als Erzählinstanz im Verlauf der Radionovelle keinen besonders sympathischen Eindruck. Im Gegenteil wirkt er auf eine dermaßen überzogene Weise selbstverliebt, dass es beinahe parodistisch wirkt. Textstellen wie die Folgende lassen sich kaum ohne schmerzhaftes Augenrollen anhören:

Hon heter i verkligheten Sarah, är 32 år och verkar inte ha publicerat sig annat än på internet. Jag är lite besviken. Inte över ålderen, men över den bristande litterära meritlistan. Jag är en snobb. Förresten måste jag förtydliga mig: I verkligheten heter hon inte Sarah, men jag har ändrat namnet, precis som jag har ändrat mycket annat här. Detta är inte ett kapitel i mina memoarer, utan en påhittad berättelse där författaren visserligen inspirerats av sådant som verkligen hänt – som författare ofta gör. Förresten måste jag förtydliga mig igen: Hon heter faktiskt Sarah. Jag försöker, men lyckas inte komma på någon ersättning för det här namnet, som känns rätt. Förutom möjligen Hannah, och det heter mitt ex. Så det blir för förvirrande när jag skriver, även om sånt borde spela någon roll. Att jag användar hennes riktiga namn, ska dock inte tolkas som jag inte ljuger om annat.

Sie heißt in Wirklichkeit Sarah, ist 32 Jahre alt und scheint nicht woanders publiziert zu haben als im Internet. Ich bin ein wenig enttäuscht. Nicht über das Alter, sondern über die fehlenden literarischen Verdienste. Ich bin ein Snob. Übrigens muss ich klarstellen: In Wirklichkeit heißt sie nicht Sarah, aber ich habe den Namen geändert, genau wie ich hier viel mehr verändert habe. Dies ist kein Kapitel in meinen Memoiren, sondern ein erfundener Bericht, bei dem der Schriftsteller sicherlich von etwas inspiriert wurde, was wirklich geschah – wie es Schriftsteller oft tun. Übrigens muss ich erneut klarstellen: Sie heißt doch Sarah. Ich versuche, aber schaffe es nicht, einen Ersatz für diesen Namen zu finden, der sich richtig anfühlt. Außer möglicherweise Hanna, und so heißt meine Ex. Dann wird es verwirrend, wenn ich schreibe, selbst wenn so etwas keine Rolle spielen sollte. Dass ich ihren richtigen Namen verwende, soll jedoch nicht so gedeutet werden, als ob ich über anderes nicht lügen würde.

Die Erzählinstanz, die zwischen Fakt und Fiktion schwankt, erklärt kurzerhand als Lüge etablierte Informationen zu Fakten und thematisiert wiederholt die eigene Unzuverlässigkeit. Die Benennung seines Gegenüber als Sarah wird jedoch als Fakt gerahmt, die Rezeption der Hörer wird also in die Richtung geleitet, die biographischen Informationen über Sarah Berger als Fakten wahrzunehmen. Im Anschluss wird ihr Status im Literaturbetrieb, als nicht veröffentlichte Autorin, enttäuscht kommentiert. Diese sonderbare Konkurrenzdynamik finden sich im gesamten Text, der sich mehr der Reflexion widmet, wer nun der etabliertere Autor ist oder die Geschichte besser erzählen wird, als dem wirklichen Austausch von Ideen. Diese unheimliche Art und Weise mit der sich marktwirtschaftliche Kriterien in die zwischenmenschliche Kontaktaufnahme einschreiben, ist vielleicht das interessanteste ästhetische Merkmal eines darüber hinaus nicht sehr aufregenden Textes.

Narrative Enteignung – Auf Tinder sieht dich niemand stehlen

Die Hauptkritik an der Radionovelle Research von Malte Persson lässt sich ebenfalls an dem oben zitierten Absatz festmachen: Indem er Name, Alter, Wohnort und ihren Twitter-Account erwähnt, hat er die noch mit der Verwendung des Pseudonyms „Lou“ mögliche Verschlüsselung aufgegeben und Sarah Berger für alle Hörenden der Radionovelle mit einer minimalen Google-Suche auffindbar gemacht. Besonders durch die Verweise auf „Sarahs“ ästhetisches Interesse an Tinder als poetischem Bezugsrahmen und ihr zum Thema erschienenes Buch wird Sarah Berger eindeutig identifizierbar. Das Pendeln zwischen der Präsentation des Namens als fiktional oder faktual: ”In Wahrheit heißt sie nicht Sarah […] Übrigens muss ich mich doch korrigieren: Sie heißt doch Sarah.”, kann hier nur als halbherzige Strategie verstanden werden, die Verantwortung für die Identifikation seiner Protagonistin durch Ironie von sich weisen zu können. Diskretionsstrategien, die in literarischen Texten angewendet werden um die Referenzierbarkeit der Figuren zu erschweren, werden von Persson ironisch gebrochen, indem er zwar vorgibt sie zu verwenden, sie dann jedoch sofort wieder auflöst. Die faktuale Lesart von Teilen der Radionovelle, das heißt die Wiedererkennbarkeit der Protagonistin als Teil der Wirkungsästhetik, ist also Bestandteil der intendierten Rezeption – eine Strategie, mit der die Autorin Sarah Berger dem Autoren Malte Persson in seinem autofiktionalen Schutzraum ausgeliefert ist. Besonders bei den im Text ausgeplauderten Intimitäten, unter anderem der Thematisierung von einem Gespräch Sarah mit ihrem Psychologen, fragt man sich, wie der Autor dazu kommt, sich berechtigt zu fühlen auch persönlichste Details zum Stoff einer Radionovelle zu machen, die gleichzeitig keine Verschlüsselung der Protagonistin vornimmt. Um noch einmal Johannes Franzen zu Wort kommen zu lassen, der sich eben diesen ethischen Implikationen einer narrativen Enteignung ausführlich widmet:

Nicht autorisierte Narrativierungen fremder Identitäten, die der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, stellen einen moralischen Verstoß dar, der als schwerwiegender, möglicherweise juristisch ahndbarer Eingriff wahrgenommen werden kann. (Franzen: Indiskrete Fiktionen. S. 319)

In diesem Text solle es jedoch nicht um die möglicherweise manifeste Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Autorin Sarah Berger gehen – hier kann man ihr nur eine gute Rechtsberatung ans Herz legen – sondern besonders um Aneignung von Inhalten, ästhetischen Verfahren und spezifischen literarischen Mustern der Autorin Sarah Berger in Perssons Radionovelle.

Cover: Sarah Berger Match Deleted

Berger hat sich in den letzten Jahren mit ihren zunächst online veröffentlichten kurzen Textfragmenten eine große Anzahl Follower in den sozialen Medien erarbeitet, ihr Buch Match Deleted Tinder Shorts enthält zahlreiche dieser Texte, von denen sich viele konkreten Begegnungen und Gesprächen mit anderen Menschen widmen. Im Gegensatz zu Malte Persson gibt die Autorin jedoch nie die Identität ihrer Gegenüber Preis, sondern setzt sich mit sehr bewusst gewählter Sprache mit den strukturellen Dynamiken der aus Tinder Matches resultierenden Treffen und Gesprächen auseinander. Nun ist die Schilderung von aus Tinder entstehendem Kontakt kein inhaltliches Alleinstellungsmerkmal, doch ist es auffällig, wie eng sich Malte Perssons Radionovelle an einige Textstellen aus Bergers Buch anlehnt und wie stark sich ihr poetologisches Programm in Perssons Werk wiederfindet. Persson schreibt:

Människor finns bara i de olika historier de berättar om sig själva, skriver jag till Sarah och misstänker genast att det är ett plagiat av något hon har skrivit, antingen i ett meddelande till mig eller på Facebook eller både och.

Menschen gibt es nur in den unterschiedlichen Geschichten, die sie über sich selbst berichten, schreibe ich an Sarah und vermute sofort, dass dies ein Plagiat von etwas ist, das sie geschrieben hat, entweder in einer Nachricht an mich oder auf Facebook oder beidem.

Diese Aussage findet sich wortwörtlich in Bergers Buch, auf Seite 34 steht: ”Ich existiere nur in diesen Geschichten, die ich über mich erzähle.” Ein Gedanke Bergers, der durchaus als die Ausgangsüberlegung von Perssons Text bezeichnet werden kann. Plagiatsvorwürfe sind skandalträchtig und sollen hier nicht erhoben werden, angesichts der Tatsache, dass Bergers Buch mehrere Monate vor der Radionovelle erschien und in Perssons Text auch thematisiert wird, ist es jedoch auffällig, dass sich Spuren von Bergers Werk in Perssons Radionovelle sehr viel deutlicher finden lassen als andersherum. Da jedoch beide Autoren ihr Chatgespräch bearbeitet haben, geht ein Plagiatsvorwurf hier sicherlich zu weit – ihre Dialoge miteinander haben nicht nur Sarah Berger zu literarischen Texten inspiriert, sondern liegen ebenfalls Malte Perssons Radionovelle zu Grunde. Die literarische Bearbeitung persönlich kommunizierter Chats ist ein ethischer Graubereich, in dem sich sowohl Sarah Berger als auch Malte Persson bewegen. Interessant ist hier zu analysieren, wie sich Bergers und Perssons Werk voneinander unterscheiden: Wie bearbeiten die beiden Autoren den vorliegenden Stoff?

Berger schreibt über das Zusammentreffen zweier Autoren, die Tinder zur Recherche nutzen, in der Prosaminiatur Nummer 30 in ihrem Buch:

Jeder lebt also für sich auf der eigenen Oberfläche die Figur des Liebenden, um den Betrug nicht zuzugeben und um weiterhin Nachforschungen für das eigene Projekt zu betreiben, ohne dabei selbst zu wissen, was eigentlich an erster Stelle steht.

Sie interessiert sich in ihrer literarischen Behandlung des Themas für die dem Anderen präsentierte Fassade der Geschichtenerzähler und die Unsicherheit, in einer Liebesbeziehung nur Stoffmaterial für die Texte des anderen zu werden, passend zu dem sich durch die Texte ihres Buches ziehenden Themen von Einsamkeit und Sehnsucht nach genuin zwischenmenschlicher Verbindung. Malte Persson sieht im Gegenzug die Begegnung vor Allem als Gelegenheit sich mit seiner eigenen Schriftstelleridentität auseinanderzusetzen.

Jag har redan tidigt bestämt mig för vad som främst intresserar mig, är den självmedvetenhet som måste uppstå när två författare ömsesidigt researcher varandra.

Ich habe schon früh beschlossen, dass das, was mich am meisten interessiert, das Bewusstsein für sich Selbst ist, das entstehen muss, wenn sich zwei Schriftsteller gegenseitig recherchieren.

Während Persson immer wieder das Spiel mit Faktualität und ausgestellter Fiktionalität ins Zentrum stellt, widmet sich Berger in ihrem einige Monate früher erschienenen Buch einer tieferen Dimension von Einsamkeit, enttäuschten Hoffnungen und einer melancholischen Sehnsucht, die sich durch ihre an vielen Stellen sehr berührenden Texte zieht. Das Gegenüber löst in Bergers Texten vor Allem eine Reflexion der eigenen Einsamkeit aus. Bei Malte Persson wird Sarah Berger wiederum zum Spiegel der eigenen Eitelkeit und Selbstbezogenheit. Berger schreibt über die Langeweile und Leere: „Wir werden uns erzählen, wie furchtbar wir diese Zeit finden, wie öde es ist, nur auf der Oberfläche zu schwimmen, nichts mehr zu spüren, sich nur noch von der einen guten Geschichte zur nächsten zu bewegen …“, während Persson sehr selbstreferentiell davon erzählt, wie sich die Egos der Autoren in ihrer Autofiktion spiegeln:

Men om hon hade vetat att jag citerar publicerade dialog, skulle hon säkert ha jobbat med sitt svar och kommit på ett ännu bättre, som jag nu i stället har tillskrivit henne. Det är vad jag tror, eller vad jag säger att jag tror, för i denna spiral av postmodern litterär självmedvetenhet kan det naturligtvis vara så att jag å ena sidan fåfängad framställer mig själv som den mer begåvade författaren, men å andra sidan också så att jag tvärtom anstränger mig för att framställa henne som den mer begåvade författaren, för att det inte ska se ut att jag är en typisk självgod manlig författare som inte ger en kvinnlig kollega tillräckligt med cred, ens när han stjäl hennes idéer.

Aber wenn sie gewusst hätte, dass ich veröffentlichte Dialoge zitiere, hätte sie sicherlich an ihrer Antwort gearbeitet und eine noch bessere gefunden, die ich nun stattdessen ihr zugeschrieben habe. Das ist, was ich glaube, oder was ich sage, dass ich glaube, denn in dieser Spirale postmodernen literarischen Selbstbewusstseins kann es natürlich sein, dass ich mich auf der einen Seite eitel als den begabteren Autoren präsentiere, aber auf der anderen Seite auch sein, dass ich mich im Gegenteil anstrenge sie als die begabtere Autorin zu präsentieren, damit es nicht so aussieht, als wäre ich ein typisch eingebildeter männlicher Autor, der einer weiblichen Kollegin nicht genügend Anerkennung gibt, selbst dann nicht, wenn er ihre Ideen stiehlt.

Sein Gegenüber wird in Malte Perssons Text vor allem zur Folie von Gedanken über sich selbst und sein nach außen präsentiertes Bild, sein autofiktives und ausgesprochen selbstreferentielles Spiel bleibt im Vergleich zu Sarah Bergers Texten reichlich kalt, er verfugt mit seiner Ironie nur die Oberflächen des Erlebten, während bei Berger immer wieder Abgründe erkennbar werden.

Ironische Nostalgie oder affirmative Ironie

In den Kritiken zu Perssons aktuellem Gedichtband Till dikten wird immer wieder die subtile Ironie und der feine Humor des Autors betont. Tatsächlich ist die ironische Brechung ein sehr spezifisches Merkmal von Perssons Schreiben, das bereits in den ersten Sätzen der Radionovelle „Research“, bei der Gegenüberstellung von Früher und Heute, Literatursalon und Dating-App, durchzuscheinen beginnt und das sich auch im Gedichtband Till Dikten immer wieder findet: Hinter der Pose abgeklärter Ironie verbirgt sich jedoch eine Bewunderung klassischer bildungsbürgerlicher Distinktionsmarkierungen, die in ihrer Offensichtlichkeit einen beinahe rührend bemühten Eindruck macht. Beispielhaft für diese eigenwillige Form humorbefreiter Ironie seien hier nur die ersten Zeilen aus dem Gedicht Underhållning zitiert:

När vi skäms för att vi läst så många dikter och vill göra något seriösare så tittar vi på teve

Wenn wir uns dafür schämen, dass wir so viele Gedichte gelesen haben und etwas Seriöseres machen wollen dann schauen wir Fernsehen

Das an diese Textzeilen anschließende Gedicht beschreibt ironisch das Fernsehen und das serielle Erzählen als die ernsthaftere und komplexere Unterhaltungsform, die das lyrische Ich aus Dummheit eben nicht versteht, dabei einschläft und sich deswegen den kürzeren und „einfacheren“ Gedichten zuwendet. Im Gestus selbstironischen Spotts wird von Persson wieder und wieder das eigene Aus-der-Zeit-gefallen-Sein thematisiert, dabei jedoch eigentlich nur bildungsbürgerlicher Kanon in gähnender Langeweile affirmiert. Zumindest führt Persson mit dieser Schreibweise recht beeindruckend die Möglichkeit vor Augen Ironie jedweder subversiver Funktion zu entledigen.

Till Dikten strotzt von scheinbar ironisch präsentierter Literaturverehrung, die letztlich eine Anbiederung an den bildungsbürgerlichen Kanon ist, die mit gutem Gewissen als Referenzmasturbation bezeichnet werden kann. Was sagt es über den schwedischen Literaturbetrieb aus, dass ein Gedichtband wie Till Dikten von den Kritikern bejubelt wird, ein Band, der in seiner metapoetischen Bemühtheit an zahlreichen Stellen mühelos ins Lächerliche gleitet? In den schwedischen Rezensionen wird Persson als humorvoller Dichter beschrieben, die daraus resultierende Frage ist jedoch eher, was mit dem Humor schwedischer Literaturkritiker kaputt ist, dass diese Form von Ironie überhaupt als humorvoll wahrgenommen wird. (Eine kritischere Lesart von Malte Perssons Ironie in Till Dikten habe ich übrigens finden können, geschrieben wurde sie von Filip Lindberg für Örnen&Kråkan.) Zumindest ist der Gedichtband in Schweden weit oben in der Bestsellerliste platziert, er scheint bei den Lesern gut anzukommen, andererseits verkaufen sich in Deutschland beispielsweise auch die Gedichte von Hans Kruppa sehr oft – Erfolg beim Absatz scheint also weder in Schweden noch in Deutschland ein Garant für gute Literatur zu sein.

Es ist möglicherweise das Drama Malte Perssons als Schriftsteller, dass er sich nach einer historischen Periode mit entsprechender Genie-Verehrung zurücksehnt, diese Sehnsucht gegenwärtig aber nur noch mit vorgespielter Ironie präsentieren kann. Seine Obsession mit schriftstellerischem Status und Relevanz durchzieht auch die Radionovelle Research, in der sich zahlreiche Referenzen auf kanonisierte große Schriftsteller finden lassen. Das generische Maskulinum ist in diesem Fall beabsichtigt, denn Frauen oder Autorinnen sind in Malte Perssons Bezugshorizont sonderbar abwesend, stattdessen werden David Foster Wallace, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Rainer Maria Rilke erwähnt, die letzteren im Bezug zu Sara Bergers Alias, die sich in Tinder „Lou“ nennt. Persson denkt darüber nach, dass eine angehende Schriftstellerin, die sich den Namen Lou gibt, sicherlich von der Psychoanalytikerin Lou Salomé inspiriert wurde, die auch Freundin von Nietzsche, Freud und Rilke war. Diese Freundschaft – „vän eller mer / Freundin oder mehr” schreibt Persson – fasziniert ihn. Lou Salomé ist nicht interessant aufgrund ihrer eigenen Biografie, sondern wegen ihrer Beziehung zu von Persson bewunderten berühmteren Männern – sein Interesse an dieser Form eines Musendiskurses ist offensichtlich.

Die Muse schreit zurück

Die Trope von Musen und den Meistern, deren Werke sie inspirieren, findet sich in zahlreichen historischen Texten über Kunst und Literatur. Von den antiken Musenanrufungen, beispielsweise in Homers Odyssee, bis hin zur modernen Variante des Manic Pixie Dream Girls, das sich in zahlreichen Filmen wiederfindet, ist das zentrale Merkmal die Selbstaufgabe weiblicher Identität, um zur Projektions- und Inspirationsfläche des männlichen Künstlers zu werden. Erst Hesiod gab übrigens den Musen ihre Namen und begrenzte ihre Zahl, vorher wurden sie nur als namenlose Wesen angerufen, waren so also bereits in der Antike symptomatisch für die Unsichtbarkeit der inspirierenden oder mitschöpfenden Frauen hinter den Erzeugern eines ästhetischen Textes. Frauen, die als hilfreiche Unterstützerinnen großer Künstler, Forscher und Literaten, nur durch Dienstleistungen für die männlichen Genies einen Wunsch nach Teilhabe erfüllen konnten, sind ein wiederkehrendes historisches Phänomen. Wer nur einen kleinen anekdotischen Eindruck davon bekommen möchte, sollte sich in einer ruhigen Stunde einmal den Hashtag #ThanksForTyping auf Twitter zu Gemüte führen – ich empfehle dabei für etwaige aus den angeführten Beispielen resultierende Gemütszustände einen Wutball in der Hand zu halten.

Cover: Christiane Frohmann: Präraffaelitische Girls erklären das Internet

Eben dieser Musendiskurs, der Frauen zum Schweigen bringt und ihre Identitäten verwischt, wird von Christiane Frohmann, Sarah Bergers Verlegerin, aufgegriffen und subversiv gebrochen, wenn sie in ihrem Buch „Präraffaelitische Girls erklären das Internet“ und auf dem dazugehörigen Twitter-Account “Pre-Raphaelite Girls Explaining” die jungen Frauendarstellungen der präraffaelitischen Maler zu Wort kommen lässt. In ihren Bild-Text-Kompositionen setzen sich die „Girls“ kulturkritisch mit Internetphänomenen auseinander, ohne dass der Maler der Werke überhaupt relevant ist – die Musen schrei(b)en zurück. Die gleichen digitalen Möglichkeiten, die im Jahr 2018 das Datingleben verändern und Menschen ermöglichen, sich als Autor*innen zu bezeichnen, obwohl sie nie ein gedrucktes Buch veröffentlicht haben, geben so auch den früher zum Schweigen verpflichteten Musen die Möglichkeit, ihren Mund zu öffnen und Frustration über ihre Instrumentalisierung zu formulieren.

Sarah Berger, eine Autorin, deren Werk ursprünglich im Internet erschien, hat natürlich auch zu der Causa Persson bei Twitter Stellung bezogen. In der Radionovelle zitiert Malte Persson einen Tweet von Berger zu ihrem ersten Date mit dem Schriftsteller, in dem die Frage gestellt wird, wer wohl die beste Fiktion über den jeweils anderen schreiben wird. Eben diesen Tweet greift Sarah Berger im April 2018 wieder auf und dekonstruiert Perssons Radionovelle mit wenigen Worten:


Genau an diesem von Sarah Berger benannten Punkt der klassischen Rollenmuster, der narrativen Enteignung einer Debütautorin durch einen als Schriftsteller bereits stark etablierten Mann, der digitalen Wiederbelebung abgestandener Musendiskurse, macht es sich fest, dass Malte Persson für seine Radionovelle Research kritisiert werden sollte. Auch und gerade deswegen, weil er seinen Text auf Schwedisch mit hoher Reichweite veröffentlichte und so durch die Sprachbarriere absicherte, dass Sarah Berger nur mit gesteigerten Schwierigkeiten Zugriff auf einen Text bekam, für den sie einerseits eine Nennung als Co-Autorin verdient hätte und der andererseits intimste Details unter ihrem Klarnamen offenbart.

Gerade von Malte Persson, der sich im Kontext der aktuellen Skandale um die Schwedische Akademie, für die er selbst schon als zukünftiges Mitglied ins Spiel gebracht worden war, wiederholt kritisch geäußert hat, und dabei den Sexismus und die archaischen Machtverhältnisse der Akademie analysierte, hätte man ein größeres Bewusstsein bei seinen eigenen Texten erwartet. Vielleicht wäre die Schwedische Akademie doch das richtige Habitat für diesen Schriftsteller, der zumindest von der Literaturkritik bereits in die Nähe antiker Dichterfürsten gerückt wurde:

Man känner de gamla grekernas närvaro hos Malte Persson precis som hos Svenbro. Men hur slänger man ihop en dikt här och nu, här vid historiens slut, efter romantik och modernism och postmodernism?

Man merkt die Nähe der alten Griechen, bei Malte Persson genauso wie bei Svenbro. Doch wie entwirft man ein Gedicht im hier und jetzt, hier am Schluss der Geschichte, nach der Romantik und der Moderne und der Postmoderne?

Auf diese rhetorisch gestellte Frage kann man nur mit Nachdruck und Vehemenz antworten: Bitte nicht so, wie Malte Persson es in Till dikten und Research betreibt und bitte auch nicht, indem durch die kritiklose Übernahme antiquierter Musendiskurse Autorinnen instrumentalisiert und in die Unsichtbarkeit gedrängt werden.

(Großer Dank gebührt dem Skandinavisten und Übersetzer Matthias Friedrich, der nicht nur Malte Perssons Radionovelle transkribiert hat und mir dankenswerterweise zur Verfügung stellte, sondern auch Anregungen für diesen Artikel gab. Dank gebührt außerdem dem Germanisten Johannes Franzen, der mir im persönlichen Gespräch und mit seiner Forschung zur narrativen Enteignung sehr geholfen hat, daher empfehle ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich seine Monographie zum Schlüsselroman: Johannes Franzen: Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960-2015. Göttingen, 2018.)