Verwendungen entwinden
Interessante Neuerscheinung im Wilhelm Fink Verlag:
Im eröffnenden Beitrag von Jessica Nitsche und Nadine Werner heißt es gleich am Anfang:
Im Konvolut m zur Passagenarbeit – das m steht für Müßiggang – findet sich die kurze Aufzeichnung: „Student und Jäger. Der Text ist ein Wald, in dem der Leser der Jäger ist. Knistern im Unterholz – der Gedanke, das scheue Wild, das Zitat – ein Stück aus dem tableau. (Nicht jeder Leser stößt auf den Gedanken.)“ Mit dieser Metapher, in der das Studieren von Texten und die Jagd eines Tieres zusammenfließen, ist Entscheidendes über Benjamin als Leser und über die Eigenart seiner Arbeitsweise gesagt. Für Benjamin war die Arbeit an Texten von Baudelaire, Kant, Freud oder Marx – um nur einige zu nennen – die eines Jägers, der Spuren liest und der sich dabei auf seine Erfahrung und Intuition verlässt. Seine Lektüren stehen immer im Dienst seines eigenen Denkens. Die Trophäen dieser Jagden sind Zitate, die dazu geeignet sind, seine eigenen Überlegungen durch Zustimmung oder Ablehnung zu konturieren. In Einbahnstraße schreibt Benjamin: „Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewafffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen.“ Das erbeutete Zitat verwandelt sich im eigenen Text in einen Köder, von dem Benjamin sich die Zustimmung des Lesers erhoffft.
Als lesender Jäger und Sammler durchforstete Benjamin Texte von Goethe, Marx, Kafka, Freud und vielen weiteren Autoren. Angesichts der Heterogenität seiner Quellen ist erstaunlich, dass sich in der Art seiner Lektüre methodische Eigenheiten wiederholen.
Burkhardt Lindner hat diesen Zugriff auf andere Autoren als „Entwendung“ beschrieben, mit der Benjamin „den fremden Text sich anverwandelt oder abstößt und damit in die eigenen Denkerfahrungen einsenkt“. Der Band erkundet verschiedene Dimensionen dieses Verfahrens und schärft den Begriff der Entwendung durch Einzelanalysen. So werden Denk- und Schreibweisen sichtbar, die bislang nicht als ein von Benjamin werkübergreifend angewendetes Verfahren aufgearbeitet wurden.
Jessica Nitsche, Nadine Werner (Hg.): Entwendungen. Walter Benjamin und seine Quellen. Wilhelm Fink Verlag, 2019.
Neuen Kommentar schreiben