Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das erste Mal von globaler Erwärmung gehört habe. Es erscheint mir als Thema so vertraut, als begleite es mich schon ein Leben lang, aber natürlich kann das nicht stimmen, es können nicht mehr als fünfzehn Jahre sein. Und gewiß hat es einige Jahre gedauert, bis ich dieses Thema ernst genommen habe. An die grausamen Folgen der Desertifikation besitze ich hingegen Jugenderinnerungen. Einer meiner ersten Texte entstand unter dem Eindruck einer Klassenfahrt durch Dürregebiete zum Turkana-See in Nordkenia. Es war eine pathosgeladene Elegie über finales Unrecht und extremste Armut, betitelt »Die Trauer vertrockneter Flüsse«. Der Anblick von ausgemergelten Menschen begleitete mich noch Monate später, es dauerte eine Weile, bis ich die tiefe Beunruhigung verdrängt hatte. Anfänglich konnte ich mir die konkreten Folgen der globalen Erwärmung schwer vorstellen, statt dessen kam mir eine Frau aus dem Norden Kenias in den Sinn, deren Haut von den Knochen hinabhing und die sich an meinem Arm festkrallte, während sie unablässig forderte, daß ich mich nicht entferne, bevor wir nicht die Dürre gemeinsam überwunden hätten. Ein Grad oder zwei Grad, sechzig Zentimeter oder achtzig Zentimeter, 450 oder 500 parts per million, die extrapolierten und zudem heftig umstrittenen Werte implizierten zwar bedrohliche Folgen, aber sie waren für mich nicht spürbar und nicht sichtbar. Meine Phantasie entzündete sich nicht. Als Bürger war ich ratlos, als Schriftsteller war ich angewiesen auf fremde Visionen.
Wahrscheinlich hätte ich niemals begonnen, einen Roman über dieses Thema zu verfassen, wäre ich nicht von einem Traum heimgesucht worden, besser gesagt von einem Alptraum: Ein Mann liegt auf einer Geröllhalde, umgeben von einem Gletscher, der nicht mehr existiert. Der Mann ist Glaziologe, er hat das Objekt seiner wissenschaftlichen Leidenschaft für immer verloren. Er ist unendlich traurig und ratlos. So weit der Traum, unvergesslich, da in keinem Aspekt meinem eigenen Leben entsprungen. Der Mann war mir unbekannt, und ich kannte zu jenem Zeitpunkt keinen einzigen Gletscherforscher, ich hatte mich noch nie näher mit Gletschern beschäftigt. Jahre zuvor war ich zur Quelle des Ganges am Gangotri-Gletscher gereist und hatte ohne weiter darüber nachzudenken geschrieben, »die Gletscher im Himalaja tauen auf, als habe der Mensch das Tiefkühlfach offengelassen«. Auch hatte ich vermerkt, daß in der jahrtausendealten Schrift »Brahmavaivarta Purana« vorausgesagt wird, daß sich eines Tages die Ganges (Flüsse in Indien sind heilig und weiblich), wenn es der Sünden zu viele werden, die in ihr abgewaschen werden, unter der Erdoberfläche verstecken wird. Neulich hat es übrigens diesbezüglich eine mediale Entwarnung gegeben: dies werde nicht schon wie fälschlich postuliert im Jahre 2035, sondern erst gegen 2050 geschehen. Ansonsten hatte ich zum Zeitpunkt des Traumes keinerlei Berührung mit Gletschern.
Der Alptraum ließ sich nicht verdrängen. Je öfter ich an den Menschen, der seinen Gletscher verloren hatte, dachte, desto tiefer versank er in eine Sinnkrise und Zivilisationsskepsis, in eine weitreichende Ablehnung unserer Wirtschaftsweise, Lebensart und Spiritualität. Gemeinsam begaben wir uns auf die Suche nach Erlösung oder Heilung und fanden sie vorübergehend an jenem Ort, an dem Eis und Gletscher (noch) nicht von der Großen Schmelze bedroht sind, in der Antarktis. Also heuert der ehemalige Glaziologe auf einem Kreuzfahrtschiff an, als Lektor, als Fachmann, als Führer. Doch so sehr ihn die Unberührtheit der Antarktis beseelt, so sehr bekümmert ihn das Wissen um ihr Schicksal, sollte sich der Mensch einmal ihrer bemächtigen. Visionen von ihrer Vergewaltigung und Plünderung belagern ihn, ausgelöst von Kleinigkeiten, von einer Zigarette, die ein Soldat zwischen Pinguinen wegwirft, von der Havarie eines anderen Schiffes und von den arroganten oder unbedachten Äußerungen der Passagiere an Bord. Die Antarktis ist der letzte heilige Hain auf Erden — die Vorstellung ihrer Zerstörung ist für den Gletscherforscher unerträglich. Er muß verhindern, daß die Menschheit weiter in die Antarktis eindringt.
Während die Anrainerstaaten es nicht erwarten können, die Bodenschätze der Arktis abzubauen (in den letzten Jahren hat es deswegen diplomatischen Streit zwischen Russland und den USA und fast ein kriegerisches Scharmützel zwischen Kanada und Dänemark gegeben), gilt der Antarktis-Vertrag, der jegliche wirtschaftliche Nutzung untersagt und territoriale Ansprüche einfriert, immerhin bis 2048. Während mit dem Ende der Arktis schon nüchtern gerechnet wird, läßt sich die Antarktis noch retten. Diese Dichotomie wird den Aufbau des Romans bestimmen. Eine manichäische Struktur. In den Worten der Hauptfigur klingt es folgendermaßen:
»Arktis und Antarktis, meine Damen und Herren, wir reden über extreme Gegensätze. Einerseits saisonales Eis, andererseits Festland, einerseits unaufhaltsame Schmelze, andererseits ein viertausend Meter tiefer Eisschild. Einerseits zum Untergang verdammt, andererseits leidlich geschützt und noch nicht verloren. Einerseits Spiegel unserer Destruktivität, andererseits Symbol unserer Erleuchtung. Bringen wir es auf den Punkt: oben böse, unten gut, oben Hölle, unten Himmel. Wir reden, meine Damen und Herren, von den zwei Polen unserer Zukunft.«

Zeno gibt auf: Als das Gletschersterben in den Alpen unaufhaltsam wird, hängt der Glaziologe seinen Beruf an den Nagel und beginnt ein neues Leben als Reiseleiter auf einem Kreuzfahrtschiff. Seine Vorträge über die Wunder der Antarktis sind beliebt, aber die Touristen wollen sich ihre Reiselaune nicht durch den Klimawandel verderben lassen. Zenos Verachtung steigert sich zur Raserei, und schließlich greift der verzweifelte Klimaretter zu drastischen Mitteln. Ein Roman über die Schönheit der Natur und ihr Verschwinden – voller Leidenschaft und schwarzem Humor.