Es ist einfach, eine Idee zu haben. Es ist nicht schwer, sie mit den Realitäten abzugleichen, sie mit Plausibilität und Glaubwürdigkeit einzufärben. Größere Schwierigkeiten tauchen auf, wenn man sie umzusetzen beginnt. Beim Schreiben verfestigen sich nicht nur die Gedanken, es reifen auch die Probleme. Wie schreibt man über die Antarktis, einen Ort, den man nur im Vorbeitreiben besuchen kann? Wie schreibt man über die letzte Terra Nullius, ein Land, das zu keinem Staat gehört und von niemandem bewohnt wird? Wie schreibt man über eine Landschaft, die in der Literatur bislang kaum vorkommt — was der Mensch nicht bevölkert, beschreibt er selten. Durchsucht man die Weltliteratur nach den Stichworten »Eisberg« oder »Gletscher« findet man erstaunlich wenig Treffer. Kaum ein Autor hat sich der Antarktis zugewandt. Der amerikanische Schriftsteller Nathaniel Hawthorne durfte bei der berühmten Wilkes-Expedition nicht mitreisen, weil »der Stil, in dem dieser Gentleman schreibt, zu wortreich und verziert ist, um einen echten und vernünftigen Eindruck der Atmosphäre auf der Expedition zu vermitteln. Darüber hinaus wird ein Herr, der so talentiert und kultiviert ist, wie der genannte Mr. Hawthorne, niemals die nationale und militärische Bedeutung irgendwelcher Entdeckungen erfassen.« So erklärte ein US-amerikanischer Abgeordneter, denn die Frage, ob ein Autor in die Antarktis darf, wurde damals vom Parlament diskutiert. Ich hingegen mußte nur eine E-Mail an eine norwegische Reederei schreiben.
Ein Schiff als Schauplatz des fiktiven Geschehens, ein Nicht-Ort in Bewegung, mit ungewissem Ziel. Für eine sich zuspitzende Tragödie ist das Schiff ein prototypischer Schauplatz, isoliert, auf bedrohlich hoher See fernab vom üblichen, kontrollierten Fluß des Lebens, ein geschlossener Raum, in dem die Repräsentanten der Menschheit ihrer Narretei frönen. So konzipierte es schon Sebastian Brant in seiner Moralsatire »Das Narrenschiff« aus dem Jahre 1494. Brants deftige Mischung aus Klage und Belehrung stellt die sieben Todsünden in den Mittelpunkt, von denen nur zwei von aktueller Bedeutung und für den Roman relevant sind: Hochmut und Völlerei. Knapp 500 Jahre später hat Katherine Porter ein Remake verfaßt, »Ship of Fools«, die Vision eines Schiffes, wie sie selbst erklärte, als »universales Bild des Schiffs dieser Welt auf seiner Reise in die Ewigkeit«, mit Zwischenstation in der schon absehbaren Hölle des Nationalsozialismus. An dem universalen Bild hat sich nichts geändert, nur an der Vorstellung von Ewigkeit.
Also schiffte ich mich ein, auf einem jener Luxuskreuzer, die im Sommer des Südens von Ushuaia im tiefsten Patagonien zur antarktischen Halbinsel aufbrechen. Wir fuhren den Beagle-Kanal hinab, die geographischen Punkte hießen Mount Misery und Cape Deceit, Last Hope Bay und Fury Island. Das war, literarisch gesehen, ein gutes Zeichen. Bald schon erlag ich der Poesie einer unbekannten Landschaft. Und die eigene Sprache beeilte sich, dieser Erfahrung zu genügen:
»Wenn ich früh aufwache, laufe ich auf dem Außendeck meine sechzig Runden, schnellen Schrittes, im schläfrigen Graulicht. Um mich herum kreisen die Gewässer um die Antarktis, der Ozean und ein Aufgeweckter drehen ihre Runden, im Uhrzeigersinn, wie vor Jahr und Jahrzehnt in den Tempeln zu Ladakh, wo wir uns angewöhnten, frühmorgens, bevor der Arbeitstag begann, das Heilige zu umrunden, nicht um uns bei den Einheimischen einzuschmeicheln, wie uns einige Verspießerte vorwarfen, stets bereit, jede Horizonterweiterung als Anbiederung an die Fremde abzutun, sondern weil es uns einleuchtete. Hölbl hieß den greisen Lama »Meister Boltzmann« und dieser freute sich diebisch über die Anrede, weil er in ihrem ungewöhnlichen Klang eine Auszeichnung vermutete, worin er nicht ganz fehl ging. Das Wasser ächzt, wie Magma, die Wellen sind nur wenige Meter hoch, unsere ist eine vergleichsweise ruhige Überfahrt, die Drake Passage ist immer für einen Sturm gut, den man erleiden muß, bevor man in die paradiesische Ruhe von Terra Nullius gleitet, in das Auge des Hurrikans, ich drehe mich synchron mit dem Zirkumpolarstrom, der in jedem Augenblick einhundertfünfzig Millionen Tonnen Wasser schleudert, Vögel gleiten durch das Zwielicht, schneiden mit scharfen Flügeln durch die Kaltluft, zwei Kreisläufe bilden eine liegende Acht, weiße Sturmvögel steigen auf in steilen Bögen, schwarze Sturmvögel fallen hinab wie rasche Entscheidungen, sie verschwinden in den Futtertrögen zwischen den Wellen, hinter glimmenden Kämmen, und ich kreise weiter, mit jedem meiner Schritte gerät das Schiff unter meinen Füßen in Vergessenheit.«
Die Antarktis ist nicht leicht zu (be)greifen. Erst seit zwanzig Jahren (also etwa so lange, wie wir von den realen Gefahren der Klimaerwärmung wissen) werben niedliche Pinguine Touristen an. Davor war die Antarktis fast unzugänglich. Bedrohlich gar, wie in dem polynesischen Mythos über Ui-Te-Rangiora, der im sechsten Jahrhundert nach Süden segelte, weiter als je ein Krieger zuvor, bis der Ozean stockte und dann fest wurde, so fest und so kalt, daß der Held sich mit Schaudern abwandte und heimkehrte. Die Entdeckungsreisen von Amundsen und Scott sind mythisch, weil in der Realität nicht nachvollziehbar. Shackleton erschien lange Zeit als phantasmagorische Figur, die Antarktis die Erfindung eines Edgar Allan Poe. Immer noch stößt man hier auf die letzte Grenze der Zivilisation, auf die letzte Wildnis.

Zeno gibt auf: Als das Gletschersterben in den Alpen unaufhaltsam wird, hängt der Glaziologe seinen Beruf an den Nagel und beginnt ein neues Leben als Reiseleiter auf einem Kreuzfahrtschiff. Seine Vorträge über die Wunder der Antarktis sind beliebt, aber die Touristen wollen sich ihre Reiselaune nicht durch den Klimawandel verderben lassen. Zenos Verachtung steigert sich zur Raserei, und schließlich greift der verzweifelte Klimaretter zu drastischen Mitteln. Ein Roman über die Schönheit der Natur und ihr Verschwinden – voller Leidenschaft und schwarzem Humor.