Mein Lieblingsgedicht als Jugendlicher war »The Rime of the Ancient Mariner«. Der Dichter Samuel Coleridge hatte nie einen Albatros erblickt und ich damals auch nicht, aber ihm diente der Vogel mit der größten aller Spannweite als Metapher und mir leuchtete diese unmittelbar ein. Unvergeßlich, wie der Seemann, der das heilige Tier getötet hat, gezwungen wird, dessen Kadaver um den Hals zu tragen. Als wäre dies das wahre Kreuz des Menschen. Umgeben von majestätisch über uns schwebenden Albatrossen kam mir dieses Gedicht in den Sinn, und es erschien mir als Folie für eine gegenwärtige Geschichte geeignet. Eine schwarze Krähe und ein weißer Albatros. Einerseits: »›Prophet!‹ said I, ›thing of evil!- prophet still, if bird or devil!‹« Andererseits: »The spirit who bideth by himself / In the land of mist and snow, / He loved the bird that loved the man / Who shot him with his bow.« Meine Geschichte war aufgehoben zwischen zwei Gedichten, die mich seit der Pubertät beschäftigen. Vielleicht hat Literatur keinen wichtigeren Antrieb, als die Leidenschaften der Kindheit nachzuholen.
Wenn man auf dem Außendeck steht und hinausblickt, läßt sich jegliche Zivilisation leicht vergessen (die leisen Motorengeräusche nimmt das Ohr kaum wahr): kein Flugzeug, kein Treibholz, kein Mast in Sicht, nur Wind und Wellen, nur uralte Formationen aus Eis und Gestein, die sich (noch) ohne unser Zutun wandeln, nur stille Vögel, die flüchtige Nachrichten in den monochromen Himmel zeichnen, die wir nicht entziffern können. Eisberge. Memento mori. Vorratskammern. Sie enthalten das frischeste Wasser und die reinste Luft, die wir auf Erden haben, vor Tausenden von Jahren in die Kristalle eingeschlossen und nun bei langsamer Fahrt schmelzend gelöscht. Das Eis fasziniert mich zunehmend. Es ist das vielfältigste aller Elemente: je nach Lage Festkörper oder Gas oder Wasser. Zudem eine Art Gedächtnis der Erde. Die Eisbohrungen des europäischen Eiskernprojektes in der Antarktis haben schon eine Tiefe von 900 000 Jahren erreicht. Und entlang des Weges hinab wird unsere planetarische Vergangenheit sichtbar. Allmählich entsteht auch in mir eine zärtliche Beziehung zum Eis.
Unser Schiff glitt durch einen natürlichen Kanal, zu beiden Seiten weiße Wände, so weit das Auge hinaufreicht, und vor uns die schwarz schimmernde Oberfläche eines gläsernen Wassers. Die Welt war unmerklich in eine Kreidezeichnung verwandelt worden. Wir standen eingemummt und dichtgedrängt auf dem Außendeck, stumm, regungslos, als wären wir Zeugen einer Segnung. Wir versanken in demutsvolles Schweigen, Ausdruck einer Überwältigung, die sich seit Tagen aufgebaut hatte — seit dem Sichten der ersten Albatrosse, der ersten Eisberge, der ersten Wale, der ersten spitzen Inseln. In der Antarktis verspürt man das Gefühl, eine Zumutung zu sein. Als Mensch. Ein widersprüchliches Gefühl, das zur Misanthropie führt. Oder das einem aufzeigt, daß Humanismus als Ideal nicht mehr ausreicht. Die verzweifelte Unsicherheit des Glaziologen wird genährt von den Pockennarben menschlicher Besiedlung am Rande der Antarktis, von den Ruinen von Walfangstationen, diesen verrosteten Massenvernichtungsanlagen. So viel Zerstörung kann der Glaziologe nicht mehr ertragen, nicht einmal als historischen Fakt.
»Die Dieselöltanks sind so ordentlich aufgereiht wie die Gräber, es wurde viel abgekocht in dieser Topfbucht. In der Fabrik zerlegte der Mensch Walfische, nun zerlegt die Zeit die Fabriken. Es lastet eine Stille auf den verfallenden Hallen, die Raubmöwen fliegen anderswo. Hinter dem Skelett eines Lagerraums steht Beate, gestikuliert mit ungewohnter Heftigkeit, der Wind peitscht ihr durch die Haare, die Strähnen fliehen nach vorne. Die Tranbottiche verströmen einen imaginierten Gestank, inmitten von eingerosteter Vernichtung fällt das Atmen schwer. Einige der Dächer hängen schief zwischen Wolken und wellblechernem Boden, rote Tafeln markieren ein asbestverseuchtes Areal. Vor der Knochenkocherei halten drei Figuren eine Eisenkette fest in den Händen und lehnen sich nach hinten, als würden sie gegen einige Walfänger tauziehen, Flocken Kichern wehen zu mir herüber, die Filipinos spielen gerne in diesen Ruinen Versteck, drei von ihnen ziehen noch stärker an der Eisenkette, messen ihre Kräfte gegen die Walfänger, die als erste die Antarktis entdeckten, gegen die Robbenjäger, die sie als erste betraten, gegen die Großfischjäger, die diese Entdeckungen geheim hielten, um abzuschlachten was ging, so schnell wie es ging. Wie könnten sie gewinnen, und ich Abstand von diesem Flensdeck, das den Tod bedeutete. Die schneebedeckten Berge sind ferne Kulissen.«
»Wenn die Antarktis untergeht, geht die Menschheit unter« — steht im Tagesprogramm des Kreuzfahrtschiffes ohne Angabe, von dem dieses Zitat stammt. Genau dies soll der Roman leisten, daß der Leser diesen Satz wortwörtlich nimmt, daß er sich mit der radikalen Leidenschaft (oder dem vermeintlichen Wahn) des Glaziologen identifiziert. Im besten Fall (welch verwegene Ambition), daß er sich selbst und sein zerstörerisches Potential neu bedenkt.
Kälteidiotie ist ein medizinischer Ausdruck für eine Wahnvorstellung. Der Erfrierende bildet sich ein, ihm sei heiß, er zieht sich aus, obwohl sein Körper stark unterkühlt ist. Wir leiden, denkt der Glaziologe, an einer Wärmeidiotie, wir heizen mehr und mehr auf, obwohl wir dabei sind, eines Hitzetodes zu sterben. Ein Erfrierender ist in dem Stadium der Kälteidiotie nicht in der Lage, sich selbst zu retten.

Zeno gibt auf: Als das Gletschersterben in den Alpen unaufhaltsam wird, hängt der Glaziologe seinen Beruf an den Nagel und beginnt ein neues Leben als Reiseleiter auf einem Kreuzfahrtschiff. Seine Vorträge über die Wunder der Antarktis sind beliebt, aber die Touristen wollen sich ihre Reiselaune nicht durch den Klimawandel verderben lassen. Zenos Verachtung steigert sich zur Raserei, und schließlich greift der verzweifelte Klimaretter zu drastischen Mitteln. Ein Roman über die Schönheit der Natur und ihr Verschwinden – voller Leidenschaft und schwarzem Humor.