Direkt zum Inhalt
Feb
25
Startseite
Facebook Twitter Instagram RSS
Logo Mini

Hauptmenü

  • Startseite
  • Rubriken
  • Extras
  • Über uns
  • Newsletter
  • Literatur und Politik
  • Im Gespräch mit...
  • Frisch im Netz
  • Was liest ...?
  • fünf Wörter, ein Roman
  • Feminismen
  • Fahrtenschreiber - Lektoren unterwegs
  • Klassisch Fischer
  • Playlist
  • Fragen wie Fichte
  • Lyrik
  • Der Sommer ihres Lebens
  • Calvino30
  • Kolumne von Yu Hua
  • Zur Buchmesse täglich
Hundertvierzehn | Essay
Eine Sache der Reibungshitze

Wie können wir heute über Lyrik sprechen? Ausgehend von dieser Frage entwickelt Michael Braun in seinem Essay dreizehn Randnotizen zur Lage der Poesie.

 
Michael Braun

Michael Braun, geboren 1958, Literaturkritiker, Herausgeber und Moderator. Lebt in Heidelberg. Veröffentlichte zuletzt: ›Der gelbe Akrobat 2. 50 deutsche Gedichte, kommentiert‹ (Hrsg. zusammen mit Michael Buselmeier, Poetenladen Verlag, Leipzig 2016); ›Die zweite Schöpfung. Poesie und Bildende Kunst‹ (Hrsg., Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2016)

I Wir müssen uns den modernen Lyrik-Theoretiker als nervösen Leser vorstellen, angetrieben von einem permanenten Unruhezustand. Die hektische Betriebsamkeit ist sein Lebenselixier. Er hastet durch die sozialen Netzwerke und einschlägigen Internet-Portale und fahndet dort unablässig nach neuesten Statusmeldungen zur Lage des Gedichts. Die Kommentare, die dort als endloses Band von kognitiven Reflexen »geteilt« werden, ergänzt er blitzschnell durch neue Kommentare. »Mein Gedicht ist mein Messer«: Dieses Bewusstsein von der Wirkungsmacht eines Gedichts, in Umlauf gebracht von Wolfgang Weyrauch im Jahr 1955, ist für den modernen Lyrik-Theoretiker passé. Nicht mehr das Gedicht ist sein Messer, sondern die intellektuellen Erregungszustände, die er auf Facebook distribuiert. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind substantielle Argumente. Das Unbehagen in der Kultur speist sich hier aus Spekulationen und Verschwörungstheorien zu Einfluss und Exklusion einzelner Dichter und  »Dichterschulen«. Die Meinungen der »Mundwerkburschen«, so hat schon Arnold Gehlen gerne gespottet, »sind so dünnflüssig geworden, dass man nichts mehr damit anstreichen kann.«

Hundertvierzehn Gedichte

Alle Gedichte finden Sie hier

II Der neue Lyrik-Theoretiker ist auf der Höhe der Kulturrevolution, die sich mit dem wachsenden Einfluss der sozialen Netzwerke und der Digitalisierung der Kultur vollzogen hat. Er zeigt sich begeistert vom Kulturwandel: »Heute verfolgt man Blogs und lernt dort mehr als in der ersten Hälfte eines Achthundertseiters. Oder? Feuilletondebatten speisen sich inzwischen eher aus Facebook-Posts als aus Büchern.« (Die Welt, 10.2.2016). Falls diese Diagnose zutrifft und die Bereitschaft zum flüchtigen cross reading von »Posts« zunimmt, braucht man sich über die Perforierung des Geistes auch in Lyrik-Diskussionen nicht zu wundern.

III Die alten Hierarchien in der Lyrik-Diskussion sind ins Wackeln geraten – und das ist gut so. Es gibt nicht mehr das kanonische Urteil über ein Gedicht, das von der Kommandobrücke einer tonangebenden Tageszeitung von einer Handvoll Kritiker gesprochen werden könnte. Das »Ende der Zeitung«, mit sehr guten Gründen prognostiziert von Stefan Schulz im »Merkur« (Heft 2/2016), hat längst stattgefunden. Und auch die einst solitären »Edelfedern« sind nun publizistische Wettbewerber unter vielen. Die Lyrik-Kritik muss man in den Restbeständen dessen, was einmal eine Zeitung war, mit der Lupe suchen. Die Tugenden einer substantiellen Lyrik-Kritik haben die geschrumpften Feuilletons längst an Internet-Portale abgegeben, die sich die Sprach- und Gedicht-Besessenheit zur Lebensaufgabe gemacht haben. Portale wie das famose »signaturen-magazin« und die »Lyrikzeitung«.

IV Die neue Infrastruktur der Lyrik wächst und wächst weiter – ein Erfolgsmodell mit Schwächen, die bei einzelnen Akteuren sich zum Schiffbruch auswachsen können. Der deutlichen Schrumpfung der Lyrik-Programme in den großen Verlagen steht eine markante Aufbruchsbewegung bei den »Independents« gegenüber. Der einzigartige Erfolg des Berliner Verlags Kookbooks, der gleich reihenweise Peter-Huchel-Preisträger hervorgebracht hat (Monika Rinck 2013, Steffen Popp 2014), war Initialzündung für weitere neue vielversprechende Lyrik-Verlage. Für den Luxbooks Verlag in Wiesbaden, den Poetenladen in Leipzig, das Verlagshaus Berlin, die Edition Azur oder die »Lyrikpapyri« des Horlemann Verlags.         

V Vor einigen Jahren versuchte die sehr schwerfällig gewordene Wochenzeitung »Die Zeit« das politische Gedicht wiederzubeleben. Ein sehr amüsanter Vorgang, zumal die Entstehungsverhältnisse von Poesie, Ursprung und Wirkung des Poetischen sich umgekehrt hatten. Es positionierte sich nicht zuerst ein Dichter mit politischer Meinungsfreude, sondern umgekehrt. Es war plötzlich die Redaktion einer Wochenzeitung da, die den Versuch einer künstlichen Beatmung einer totgesagten Gattung unternahm. Das politische Gedicht musste erst mit publizistischen Appellen aus seinem Koma wiedererweckt werden. Das ist aufschlussreich.

VI 1961 hat sich Hans Magnus Enzensberger in einem poetologischen Statement mit dem Verhältnis von »Scherenschleifern und Poeten« beschäftigt. Ein halbes Jahrhundert danach sind die Scherenschleifer nahezu ausgestorben, aber die Produktionsweisen und die Materialbehandlung der Lyriker, wie sie Enzensberger skizziert, sind dieselben geblieben. Zunächst verweist Enzensberger auf den großen »Sitzriesen« Gottfried Benn. Das »künstlerische Material«, so hatte es Benn in seinem Essay ›Ausdruckswelt‹ verfügt, müsse »kalt gehalten werden«. »Der Kunstträger«, so Benn weiter, »lebt nur mit seinem inneren Material, für das sammelt er Eindrücke in sich hinein, d.h. zieht sie nach innen, so tief nach innen, bis es sein Material berührt, unruhig macht, zu Entladungen treibt.« Enzensberger führt aus, dass nicht nur die Sprache, sondern der alte pragmatische  und unfeierliche »Gegenstand« zum Material der Poesie gehöre. Damit nicht die »spontane Selbstentzündung« des Materials im Gedicht verpuffe, schlägt er folgendes Verfahren vor: »Die Sprache ist durch die ganze Temperaturskala von der äußersten Hitze bis zur extremen Kälte zu jagen, und zwar möglichst mehrfach. Dazu ist ein ständiger Wechsel des Pathos erforderlich. Zwischen Hyperbel und Andeutung, Übertreibung und Understatement, Ausbruch und Ironie, Raserei und Kristallisation, äußerste Nähe zum glühenden Eisen des Gegenstandes und äußerste Entfernung von ihm fort zum Kältepol des Bewusstseins ist die Sprache einer unausgesetzten Probe zu unterziehen. Zur Herstellung dieser höchst sinnlichen, keineswegs abstrakten Dialektik sind alle formalen Mittel erlaubt und vonnöten.« Was da 1961, noch in den restaurativen Zeiten Adenauerdeutschlands, vom professionellen Ironiker Enzensberger notiert wurde, hat auch noch 2016 ästhetische Geltung. Alle formalen Mittel sind auch heute noch erlaubt und vonnöten. Am »Kältepol des Bewusstseins« lauern heute zum Beispiel Daniel Falb oder Ron Winkler. Und zwischen »Übertreibung und Unterstatement« und »Raserei und Kristallisation« lavieren mit sehr unterschiedlichen Strategien beispielsweise Ann Cotten und Gerhard Falkner.     

VII Wie das zeitgenössische Gedicht aus dem digitalen Würgegriff zwischen Scylla (Facebook) und Charybdis (Twitter) entkommen könnte, hat kürzlich Gerhard Falkner aufgezeichnet. In der Zeitschrift »poet« (Nr. 18/2015) hat er ein fulminantes »Bekennerschreiben« deponiert, mit dem er das Naturgedicht auf neue Erkenntnisfundamente stellen will. Das polemisch funkelnde Pamphlet Falkners beginnt mit einer Attacke auf die heutigen Naturdichter im informationstechnischen Zeitalter, die »nicht mehr zwischen einer Hecke und einem Drahtzaun unterscheiden«. Das moderne Dichtersubjekt, so Falkner weiter, starrt in jeder freien Minute unentwegt auf ein Handy oder ein anderes Display. Und so entsteht eine Situation eklatanter Naturblindheit: »Wenn man heute einen dieser Ureinwohner der Jetztzeit in die nennen wir sie mal ›freie Natur‹ verschleppt, so fällt auf, er sieht nichts, er hört nichts, er weiß nichts, er beachtet und betrachtet nichts.« Dagegen setzt Falkner sein Konzept einer »Geistesgegenwart erregter Sprache«, die mit ihren kühnen Konstruktionen einen Blick auf die Existenz von Mensch und Natur ermöglicht. »Gedichte sind nicht zum Träumen da, sondern zum Aufwachen.«    

Essay
›Transit‹. Walter Höllerers Lyrikbuch der Jahrhundertmitte – Herkunft und Darüberhinaus

Franz Mon war eng in die Arbeit an der ›Transit‹-Anthologie eingebunden. In seinem Essay berichtet er von der Entstehung der Anthologie.

VIII Walter Höllerers ›Transit‹ war nicht nur 1956 eine geniale Lyrik-Anthologie, in ihrer Risikobereitschaft und ihrer Art der Präsentation der Gedichte ist diese Bestandsaufnahme der lyrischen »Jahrhundertmitte« bis heute unerreicht. Höllerer hatte hier die für ihn ideale Form für moderne Poesie vorgeführt: nämlich »da zu sein als Mosaik vieler Felder, in dem jeder Teil zu dem anderen in bewegliche, er-finderische Nachbarschaft treten kann«. Diese Beweglichkeit der Sprachsegmente, die komplexe Montage der einzelnen Teile: Auf ein solches Verfahren greifen heute auch Autoren wie Konstantin Ames, Norbert Lange, Simone Kornappel oder Ron Winkler zurück. Der nimmermüde Anthologist Höllerer hatte im Textteil von ›Transit‹ die Autorennamen einfach weggelassen und den Leser gleichsam mit poésie pure konfrontiert. Erst im Autorenverzeichnis wurden für die neugierigen ›Transit‹-Leser die Namen wieder den Gedichten zugeordnet. Höllerers Randnotizen zu den Gedichten sind vorbildlich – sie präformieren die Lektüre der Gedichte nicht durch unabweisbare Interpretamente, sondern schlagen Lesarten vor, geben Kommentare zu punktuellen Aspekten, kleine Wörter- und Bild-Explorationen. Letztlich gruppieren sich diese kleinen Gedicht-Erkundungen und Beobachtungen zu einer offenen Poetik, die nicht nach Systematik strebt, sondern nach Evidenzen: »Mitten im Geäst und Gestrüpp und Gestrüpp«, so Höllerer zu einem Gedicht von Erasmus Jonas, »bezieht das Gedicht einen Beobachtungsposten, von dem aus die Umwelt, bis in die Schlupfwinkel, erfasst werden kann. Die Verse tasten ihr Gefängnis ab, um es kennen zu lernen – gleichzeitig aber nach einem Ausweg.« Und zu Wilhelm Lehmann: »Mit ›Neuanfang‹ ist jede Poesie gekennzeichnet; denn dichterische Sprache erschöpft sich nicht in Abbilderei des Vorgefundenen. Vielmehr ist sie nur nach dem Grade der Verwandlung oder des Kontrastes zu verstehen.« Immer neue Verwandlungen und kleine Verschiebungen – auch die Lyrik des 21. Jahrhunderts arbeitet daran.

IX Das Lagerfeuer des 21. Jahrhunderts, um das sich die globalisierten Subjekte der Generation Internet versammeln, ist der »Downladshop«, der die virtuelle Verfügbarkeit aller Dinge und Phantasmen verspricht. So steht es in einem Gedicht von Ron Winkler, einem Autor, der demonstrativ die Fachsprachen und Codes der digitalen Welt mit den Basiswörtern romantischer Poetiken kollidieren lässt. Winkler favorisiert stets eine Topik der Überraschungen. Wie kleine Offenbarungsblitze und verrätselte Evidenzen durchzucken opak funkelnde Substantive seine Gedichte – und in jedem Vers sind sie zum Abweichungs-Sprung bereit. Wörter, so darf man im Rückgriff auf ein Winkler-Gedicht formulieren, sind für diesen Dichter »Animierwesen« – sie suchen nach einer Möglichkeit, uns gleichsam mitten im Wort zu wecken, uns loszureißen vom bloß funktionalen Gebrauch der Sprache. Wer mit Winkler den ›Pfad 31‹ einschlägt (in »Hundertvierzehn Gedichte«), der muss mit einer Kombinatorik disparater Bildwelten rechnen: »Den Kondensstrahl konnte ich nicht halten.« Jeder Vers springt aus der geläufigen Rede heraus, schmuggelt eine mehr oder weniger plausible Abweichungsqualität in die Satz- oder Bildfügung hinein. »Wir alle trinken jetzt / direkt aus dem Orakel, oh denksächliches Sein!« Es geht um die überraschende Wort-Nachbarschaft, auch um die Vereinigung gegensätzlicher Tonlagen, von Ironie und Erhabenheits-Topoi. »Die Vögel können gut / auf Mendelssohn, sobald der Mond islamisch steht.« Dieses unablässige Funkeln und Blitzen, wenn die unterschiedlichen Wörter-Welten aufeinanderprallen – das hatte auch schon Walter Höllerer im Blick, als er sich die Bildkombinationen in Helmut Heißenbüttels Gedichten anschaute: »Die ›Fluoreszenz‹, in der die Bedeutung vielfältig ist, gibt dem Wort die Möglichkeit, in neue Nachbarschaften zu treten.« 

X Gedichte sind immer auch in Reibungshitze versetzte Wörterbücher. Als Dichter sei er eigentlich »Wörterbuchkritiker«, hat Thomas Kling einmal gesagt und auf sein Verfahren verwiesen, »entlang von verschüttetem Sprachmaterial eine ganz bestimmte Erfahrung heranzuholen«. Von ähnlichem Wörter-Enthusiasmus beseelt ist Wulf Kirsten, der in seinem Gedicht ›bukowinisch‹ (in »Hundertvierzehn Gedichte«) wieder einmal jene ihm eigene Sprachempfindlichkeit in Gedichte verwandelt, die ihn seit einem halben Jahrhundert zur Poesie geführt hat. Die Urszene seines Werks fand im Jahr 1962 statt, als er am ›Wörterbuch der obersächsischen Mundarten‹ mitarbeitete und seither immer nach Möglichkeiten poetischer Artikulation suchte, um »abgesunkenes Wortgut wieder auszugraben und in die Poesiesprache als Kolorit und Stilschicht hineinzunehmen«. Und genau dies geschieht auch im Gedicht ›bukowinisch‹: »melittaschiefer in popiankaschichten, / in keinem slowarnik zu finden, / woher weißt du? was weiß ich? / mit diesem erdwachs ozokerit, / wurde freiweg erzählt seinerzeit, / ließ sich wunderbar bohnern / ohne alle zutaten, schraufit war / zu finden, fossiles erdharz, kostbar, / wem immer dies etwas sagen sollte, / vorhanden auch sphärosiderite / und toneisensteine bei Kimpolung, (...)«    

XI Seit vielen Jahren ist Ulf Stolterfoht der kundigste Prophet der experimentellen Lyrik, einer Form der Dichtung, die mit großer Leidenschaft alle nur erdenklichen Spielarten der Kultivierung binnensprachlicher Abenteuer und Evidenzen durchprobiert. »Experimentelle Lyrik«, so Stolterfoht in seinem wegweisenden Essay in der Zeitschrift »Bella triste« (Heft 17, 2007), ist »eine Form ›realisierter Freiheit‹ (Ernst Jandl), die aus sich selbst heraus jeden methodischen Zwang zurückweisen muss….« An anderer Stelle, in seinen Anmerkungen zu seiner Begegnung mit einer eigenwilligen Sprachmaschine, der »Amme«, die eigentlich nur blind ihren Algorithmen folgt und nur zufallsgenerierte Sätze hervorbringt, hat Stolterfoht strategische Parallelen zwischen dem unbeseelten Apparat und der modernen Lyrik festgestellt: »Überbetonung des Zeichens auf Kosten des Bezeichneten; pseudo-logische oder paradoxe Redemuster; sprunghaftes, oft klanggeleitetes Assoziieren, metasprachliche und hyperintentionale Tendenzen…«
Bis heute glauben die Stolterfoht-Exegeten, der Autor interessiere sich vorwiegend für die instabilen Verhältnisse zwischen den Wörtern und ihren Bedeutungen; und er arbeite stetig an einer Auflösung aller festen semantischen Bindungen. Richtig aufregend ist Stolterfohts Dichtung geworden, seit er seine fest geglaubten Prämissen und Maximen in seinen Gedichten immer mehr unterwandert. Sein Gedichtbuch ›neu-jerusalem‹ (Kookbooks 2015) lese ich als ein religiöses Buch wider Willen. Bereits der Auftakt von ›neu-jerusalem‹ zitiert ja ausführlich, über vier Gedicht-Teile hinweg, die Lutherbibel, und zwar die entscheidenden Kapitel aus der Offenbarung des Johannes, dem phantasmagorischsten Buch des Neuen Testaments. Die langen Zitatstrecken werden ironisch relativiert durch allerlei lässige, beiläufige, kauzige Bemerkungen in »fünf briefen des verfassers«. Aber dieses ironische Versspiel kommt kaum an gegen den prophetischen Ton und die visionäre Wucht der apokalyptischen Verkündigung. Und auch Stolterfohts Gedicht in »Hundertvierzehn Gedichte« springt heraus aus dem rein »experimentellen« Sprach-Labor mit seinen Möglichkeiten der Permutationen – und zieht uns mitten hinein in eine Bedrohungssituation, eine erzählerische Struktur, die weit über bloße Sprachimmanenz hinausführt: »eines morgens waren sie da, ganz plötzlich, und anfangs nur als / geräusch. ein gurren, das sich sanft über die hütten legte, sich / aber flugs auswuchs. schwellendes grell und anhauch von luft, / flügelgeschlagener luft, die dann von aussen gegen die verschlä- / ge drängte, durch ritzen und spalte sich zwängte, bis sie auf ei- // nen körper traf. (...)«

XII Poesie ist nicht immer vokabuläre Verausgabung, sondern manchmal auch Abbau von Überschuss und strenge Reduktion auf das Elementare. Man schaut die Wörter an – und die Wörter schauen fremd zurück. Wie im Werk von Ilse Aichinger. Von 1950 bis 1990 sind die Aufzeichnungen von Ilse Aichinger immer karger geworden, ihr Widerstand gegen das nächstliegende Wort ist immer größer geworden: »Ich bleibe am Rand. Nichts von der Strömung, die soll mich verschonen«, schrieb sie 1976 in ihrem Prosagedicht ›Insurrektion‹. Die Lyrik der Gegenwart sollte sich an dieser ästhetischen Insurrektion beteiligen, an der schönen Kunst, alte Denk- und Sprachordnungen aus den Angeln zu heben.

XIII »Ich will, dass alles, was gesagt wird, ins Wackeln kommt, immer wieder neu.« (Paul Wühr)

  • Zum Verfassen von Kommentaren bitte anmelden.

Kommentare

Theresia Prammer

Samstag, 26.03.2016

Permanenter Link

leider lassen sich hier keine Absätze darstellen...

... aber sei's drum. Nachdem das Gedichtekommentieren anscheinend längst dem Kommentieren des Kommentierens gewichen ist (und auch das wieder verblichen), schlage ich mich (entweder - oder, oder?) zum Abschied auch auf die metareflexive Seite. Daß das „Ableben“ des Projekts mehr oder weniger mit der Buchmesse zusammenfiel, verstimmt mich übrigens ein wenig: Das wäre ja geradezu der Beweis, daß äußere Faktoren stärker ins Gewicht fallen als Experimentierfreude und anlaßungebundene Aufmerksamkeit, als wäre es auch hier nur darum gegangen, fristgerecht etwas zu „liefern“, aber wem eigentlich? Gleichviel, im Folgenden noch ein paar Anmerkungen zu Michael Brauns Thesen: Ganz verstehe ich die Argumentation ja nicht, denn einerseits wird der facebookkritik mangelnde Substanz unterstellt, andererseits werden im Internet „ansässige“ Lyrikmagazine gelobt, aber wo beginnt denn das gute und substantielle, reflexive und selbstreflexive Internet und wo hört das böse und banale auf, es kann doch nicht allein an der Präsentationsweise liegen. Das Netz ist halt eine Art „cadavre exquis“, eine Kettenbriefreaktion, die von Gemeinheiten und Gemeinsamkeiten lebt, die Grenzen zwischen Darstellung und Selbstdarstellung verwischend; es ist aber genausogut Archiv für Buchbesprechnungen aller Art und immer noch die schnellste Möglichkeit des Sich-ein-Bild-Machens, mit allen Vorbehalten. Das Hineinschauen, um sich zu informieren, ist aber etwas anderes als dieses gehetzte, manische Überblicken, das nur solange sinnvoll ist, wie es das Untersuchen nicht verdrängt. Es ist ja auch seltsam: Kein Wissenschaftler würde eine uninteressante Theorie berücksichtigen, nur weil sie eben da ist. In der Lyrikbetrachtung, sofern sie diesem phänomenologischen Ansatz folgt, passiert aber gerade das die ganze Zeit. Auch am äußeren Rahmen des 114 Projekts störte mich anfangs diese Vorannahme einer zu bestätigenden Interessantheit, der etwas Pflichtschuldiges und an Lyrik-Lobbyismus Grenzendes anhaftet. Ulf Stolterfoht hat in einem Aufsatz einmal zur Diskussion gestellt, was diese jahrzehntelange Sprachfixiertheit eigentlich mit ihm mache, das hat Sinn, weil es von Erkenntnis und Selbsterkenntnis ausgeht, aber dieses hektische und immer zu spät kommende Festmachen von Tendenzen und Positionen der Lyrik, das ist das andere und als Lebensform sicher nicht zu empfehlen. Man würde ja doch niemals an einem Punkt ankommen, nur fortfahren dies und jenes zu registrieren, die Gedichte geraten dadurch aber in Hintertreffen, ohne daß man das Internet zum Feindbild aufbauen müßte. Kartographierung, Bilanzziehen, Strömungen aufzeichnen usw; ständig wird ein neues Außergewöhnliches ausgerufen, das Lied der herausragenden Stimmen gesungen, die mittlerweile so viele sind, daß man nicht einmal mehr sagen könnte, aus welcher Masse sie überhaupt herausragen. Freilich wird einem auf der Bühne manchmal ein solches Verhalten abverlangt, aber in unseren Köpfen sollte es weniger großsprecherisch zugehen. Und wie traurig wäre es, wenn es nur um Reaktionsgeschwindigkeit ginge; da lobe ich mir sozusagen jedes Buch, das mir entgeht und das ich in Ruhe lesen kann, wenn sich die Wellen darum gelegt haben. Ein Gedicht hat nicht „repräsentativ“ für irgendetwas zu sein, sondern hat erst einmal das Recht, allein auf der Welt zu sein, um sie von diesem Ort aus zu verkörpern, und was es letztlich über uns und unsere Gesellschaft aussagt kann auch nicht gleich mitgeliefert werden wie auf einem Beipackzettel, da müssen wir uns schon gedulden, und wenn es doch behauptet wird, dieser Behauptung mißtrauen. „Wenn Sie etwas von heute haben wollen, dann müssen Sie morgen wiederkommen!“, hat einmal eine Frau in einer Bäckerei in Wien zu mir gesagt, das enthält, neben der Unverschämtheit, doch eine Wahrheit. Poetische Vielfalt ist ja wunderbar, aber sagt nichts über die Qualität der Texte aus, auch hier nicht, quasi nach dem Prinzip: bei so vielen unterschiedlichen poetischen Ansätzen wird schon ein Welterklärungsmodell herauskommen! Außerdem ist es vielleicht genauso spannend, die Menschheitsgeschichte nach und nach aus einem Gedicht herauszupräparieren, als Dutzende Gedichte zu einem Gedächtnis aufzutürmen... Berührung ist eben wirklich manchmal eine Randerscheinung, die Reibungshitze entsteht dann im tête à tête mit dem einzelnen Text. Wenn das, über dem rasterfahndungsartigen Sondieren der Schauplätze des Poetischen, nicht mehr garantiert ist, dann haben wir den zukünftigen Literaturwissenschaftlerinnen zwar viel Arbeit abgenommen, aber eben irgendwann auch die Lyrik, die wir verdienen, nämlich eine, die zwar immer „neu“ ist, aber nichts Neues schafft, hauptsächlich darum bemüht, sich gegenüber gängigen Tendenzen zu positionieren. Dann schon lieber mit Ezra Pound: „Literatur ist Neues, das neu bleibt“. Ein gutes Gedicht ist ohnehin eine Synthese dessen, was zu einer bestimmten Zeit sprachlich möglich ist, daneben aber auch Ausdruck eines höchst individuellen, dubiosen Wahns, dessen außerliterarische Funktionstüchtigkeit nichts zur Sache tut. Man muß ja nicht gleich klandestin agieren, aber ein wenig Skepsis vor den ästhetischen Folgen der Anbindung an die diversen Verwertungsgesellschaften wäre vielleicht schon angebracht, sonst wacht man irgendwann auf und bemerkt, es hat sich umgedreht: die Multiplikatoren haben die Primärfaktoren verdeckt, die Tendenzen bestimmen uns. Nichts Langweiligeres als ein Gedicht, das ein gerade gültiges Paradigma gewissenhaft durchbuchstabiert, gerade umgekehrt muß es sein, sonst könnten wir gleich den Lyrikbetrieb mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft zusammenlegen. Wenn Franz Mon zb. von dem Vorhaben berichtet, „eine den gegenwärtigen Bewusstseinsdimensionen entsprechende Poetik zu formulieren“, so klingt mir das, so ausdifferenziert das Ergebnis auch sein mag, schon ein bißchen nach symptomatischer Anmaßung, es führt vielleicht auch zu einer stärkeren Themenorientierung, um ein Gemeinsames zu bestätigen, als selbsterfüllende Prophezeiung gleichsam. Aber es gab sie doch immer schon, diese Abrisse, Museen und Atlanten der Poesie, diese vielen Versuche, einen Punkt zu machen, mit oder ohne Namen, die ja an sich sehr begrüßenswert sind, nur muß man achtgeben, die Gedichte selbst nicht zu Fußnoten zu degradieren, auch nicht zu Fußnoten einer „Poetologie“. Eine Zeitlang sah es ja so aus, als müßten poetologische Erklärungen wie Steuererklärungen oder Visitenkarten jeden poetischen Output begleiten, das hat sich zum Glück gelegt. Zuletzt sind solche Sammelanalysen (auch 114 gehört dazu) vielleicht auch Formen von Domestikation, die der entzündlichen und exzessiven Natur von Gedichten zwar nicht unbedingt gerecht werden, die uns aber auch nicht daran hindern sollten, bereit dafür zu sein, daß ein Gedicht uns um unseren Standpunkt bringt, uns die Schädeldecke wegbläst, wie Emiliy Dickinson es so elegant formulierte. Die letzte These hier erinnert ja ein bißchen an das experimentelle Credo von Priessnitz, „Unterschiedenes ist gut“, das ist aber nicht synonym zu setzen mit einem Loblied für die Vielfalt poetischer Manifestationen an sich. Langer Rede, kurzer Sinn: Höllerers Ansatz nimmt sehr für sich ein und ist, von Franz Mon und hier in der VIII These auch sehr gut beschrieben: die Rückschlüsse von der Gedichtgestalt auf die Epoche und umgekehrt, das Herausarbeiten der gemeinsamkeitsstiftenden "Bewegkräfte“, die "Blitz-Poetiken“ (Zanzotto), die er aufsucht, das Beleuchten eines Aspekts und seine Belebung im Kontext usw, aber abgesehen davon, daß sich so etwas nur bedingt kopieren läßt, hundert Höllerers, das wäre doch ein arges Unding, läßt sich wohl nicht ganz von der Hand weisen, daß das Medium die Bedingungen verändert. Gerade im Netz ließe sich doch das „Mosaik vieler Felder“ noch besser realisieren, doch mit dieser pluralistisch-optimistischen, auf „Vollständigkeit“ und Befindlichkeits-Korrespondenz abzielenden Ansicht habe ich schon bei Höllerer Probleme. Lyrikbetrachtung ist doch nicht auf Nachbarschaftshilfe angewiesen, oder anders: Wenn ein Gedicht eine Haltung hat, brauche ich doch kein danebenstehendes, um es abzustützen, dann reicht mir dieses eine, zumindest bis auf Weiteres, sonst wären wir ja wirklich schlechte Reisende, die vor lauter Landkarten-Studieren mit keiner Landschaft mehr in Berührung kommen. Aber vielleicht ist es ja unvermeidlich; verfolgt man die „Szene“ über einen längeren Zeitraum, bilden sich solche Topographien unweigerlich aus, man fängt an, die Lyrik nach dem Gesichtspunkt von Schulen zu betrachten, die zu Schubladen neigen: Hier sitzt der Anagrammatiker, dort die Sensible, hier der Großstadtdichter, dort der Provokateur, hier der Wörterbuchfreak, dort der letzte Gallier im experimentellen Dorf, hier der Umweltaktivist, dort der gelehrte Philosoph, hier die Artikulations-Künstlerin, dort die fair-trade-Lyrikerin, aber ich käme eigentlich gerne davon weg, auch weil ich denke, daß man nicht beides haben kann, den Überblick und den Durchblick, und im Zweifelsfall würde ich mich eher für den Durchblick entscheiden, oder einfach für das Hängenbleiben bei einer Sache, eine Dauer. Die Vielfalt poetischer Ansätze insgesamt mit der Beweglichkeit von Segmenten oder Montagetechniken innerhalb eines Gedichts kurzzuschließen, finde ich deshalb ein bißchen leichtfertig. Vielleicht ist die, auf Systematik und Eingängigkeit abgestellte Thesenform auch einfach nicht ganz ehrlich gegenüber der Tatsache, daß wir, wenn wir „heute über Lyrik sprechen“, in einer sehr ungenauen Sprache gefangen sind, aus der kaum Wege hinausführen als jener der Hingabe an das jeweils Einzelne unter jeweils eigenen Vorzeichen, das Hineinspüren in einen Kosmos und sein Inventar. Sonst bewegen wir uns ja doch schnell wieder zurück in die Klischees alter und neuer Prägung. So reden wir bald von den schnellen und bald von den langsamen Sprachen; reden bald davon, daß die Sprache der Lyrik vibrieren, bald davon, daß sie eigentlich in sich ruhen soll; behaupten hier, daß sie jedem Wort sein Wesentlichstes entlocken soll, und dort, daß nur die Techniksprachen uns vor dem Essentialismus retten können; hier, daß ein Gedicht durch „vokabuläre Verausgabung“ besticht, dort durch „Reduktion auf das Elementare“; hier, daß die Worte mit maximaler Intensität leuchten, dort, daß sie sie kaum merklich und von der Seite das Inkommensurable streifen sollen; hier, daß sie sich mit intelligenten Netzwechseln auszukennen hat, dort, daß sie einen Schutzraum vor der gefräßigen Netzwelt bieten soll. Alles wiederholt sich und immer ist das Gegenteil genauso richtig, kurz, unsere Sprache ist so ungenau, daß es wahrscheinlich von Vorteil ist, auf dem Altar der Analyse nicht unsere Persönlichkeit zu opfern und lieber das Gefühl zu befragen als wieder und wieder den neuen Entwicklungen nachzujagen. Das war nun aber gerade das Schöne an dem Projekt: die Vielsprachigkeit innerhalb der Sprachlosigkeit sichtbar zu machen. René Pollesch stellt in seinem neuen Stück (sofern es nicht schon wieder ein neues gibt) refrainartig die Frage: „Wie können wir unser Einzelschicksal mit der ganzen Welt verknüpfen?“ Das ist eine gute Frage, finde ich, die auch mit Gedichten zu tun hat. Wenig später in demselben Stück heißt es dann, etwas ernüchternd: „Die Dichter helfen einem auch nicht mehr weiter. Die schreiben nur noch so und so und so“. Pollesch ist bestimmt kein Lyriktheoretiker, und vielleicht nicht einmal ein Lyrikleser, aber es ist doch gut nachvollziehbar, was für eine Erfahrung er hier gemacht hat, nämlich jene, daß der Anspruch zugleich zu groß und zu gering ist, daß es einen Unterschied macht, ob man das Ganze sieht, als Bilanz und Summe von Einzelphänomenen, oder aufs Ganze geht, als Einzelner. Das ist zwar sehr idealistisch gedacht, aber es weht mich an, wenn ich von der "Infrastruktur der Lyrik" als "Erfolgsmodell" lese (These IV), womit wir wieder bei den Sprachen des Marktes und beim Diktat der Buchmessen (bookmaker?) wären...
  • Zum Verfassen von Kommentaren bitte anmelden.
© S. Fischer Verlag GmbH /
Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH
Frankfurt am Main 2020
Datenschutzbestimmungen
Impressum