ein bild

BOTTICELLI


In diesem Kloster aus steifem Leinen bin ich geboren. Aus diesem Leinen, das ich innen ausmale, während es mich langsam mumifiziert. Aber noch ist es nicht soweit.

Noch ist der Boden unter meinen Füßen mit diesem wirren Gras bewachsen, das täglich satter wird.

Ich frage mich, warum ich nie gegangen bin.

Die entgegengesetzten Enden meines Pinsels wären spitz genug gewesen, meine Bilder zu durchstoßen.

Vielleicht liegt es an dem Geräusch der Walkmühlen dort draußen. Oder an dem der Straßenkinder, die mit dem Prügel in der Hand für den Propheten betteln gehn.

12.04.2005 21:10:07 

Katharina von Bora


Sie schreibt jetzt an der Ruhe als Familiengeschichte
An ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Wiederholung

Vor allem an den ungeraden Namen

Es interessiert sie gar nicht
Wie ihr Mann im Taufregister heißt

Seine Dorfnamen interessieren sie
Seine Spitz- und Spottnamen

Lächelnd stibbt sie die aus ihrem Tintenfass

Von ihrer Heirat angefangen
Bis zu seinem schlanken Tag vorm Petersdom



Katharina von Bora


20.04.2005 22:41:39 

QUELLMUND


Die Höhlung unterm Stein. Die Erdspalte, aus der sich das Wasser an die Oberfläche arbeitet. Das helle Sprudeln, das den Laubgeruch nahe an uns heranträgt. Eisig rinnt das über die Hand, in den Mund. Der Geschmack der Grube. Auch das Wasser trägt Nebengesteinsschichten in sich.

Die Erinnerung, wie Grossvater mir das zum ersten Mal zeigt: den Rauhreif-Hügel, den Quellmund. „Das friert nie zu!“, sagt er mit einer Begeisterung, die ich teile, ohne sie zu verstehen.

Ein paar Augenblicke stehen wir schweigend in diesem Geräusch. Einem Geräusch, das uns seltsam auflöst in die Baumschatten hinein. Für ein paar Augenblicke trennt uns jetzt nichts mehr von diesem Rauschen, dem Knacken der Stämme und dem Sprühen der ersten Kaulquappen im Teich.

29.04.2005 18:40:33 

DE DOCTA IGNORANTIA


Gut, dass dein Vater als Krebs geboren ist. So liegt auch Padua für dich gleich an der Mosel. Rote Scheren schneiden dich aus der Mathematik. Rote Gliederfüßerfüße trippeln in die via moderna. In Köln steckst du den Faden auf, an dem der Eisenmann bis in den Himmel kletterte. Du trägst das jetzt als Goldenes Horn. Noch auf dem Meer fällt dir der erste Gegensatz zusammen. Brixen ist also auch Saladin. Die letzte Jagd ist dieser frühe, späte Tod in Todi.

cusanuszwerg

09.05.2005 00:19:18 

SPRINGKASTENBRUDER


Ein unruhiger Zwilling, ich muss schon sagen. Er steht sich selbst kaum zur Verfügung, derart hibbelt er. Er ist sich selber dieses Rucken als verwickeltes System. Das wird nur umso schlimmer, je familiärer ich ihn durch ein mäßigendes Minenspiel herausblinzeln suche. Zu spät erst werde ich begreifen, dass er in seiner Box schon jedes Zahnrad ist.

13.05.2005 16:00:51 

STEIGSTREIFEN


Die Steigstreifen von Tizians Himmelfahrt aus dem Stegreif. Aber sie reichen nicht bis in die Wolken. Er hängt jetzt dort als Schluckauf in Zement. Es liegt an seiner Frau. Kurz vor der Fertigstellung seiner selbst als Cumuluskapelle war sie konvertiert. So hat er sich verschluckt. Erst Luft, dann Stein. Von oben herab prüft er die Möglichkeit, den Tiefbauunternehmer regresspflichtig zu machen.

23.05.2005 10:42:21 

VIERZIG WOCHENSTUNDEN SCHIERLING


Leo betreibt nun sogar seinen Atem als Ick-AG.
Vor allem seine Alkaloide.
Das Nikotin auf seinen Lungenbläschen hat sich als wirksames Insektizid erwiesen.

Er selbst als Rohstoff: Das hat nicht nur den Existenzgründungsausschuss, sondern selbst seine Krankenkasse überzeugt. Vom letzten Überbrückungsgeld hat er das kleine Schaufelchen gekauft und schippt jetzt tapfer durch sein Bitterfeld.

Die Eintragung unter die Baggerfahrer erfolgt durch eine Handwerksrolle rückwärts. Wie jeder weiß, ist dazu der Agentur für Arbeit eine Bestätigung vorzulegen. Leo hat ihr die geflisstentlich gehustet. In seinem Auswurf steckt schließlich Coniin.

29.05.2005 00:45:26 

BENEDIKT VIII.


Gut, gründen wir eine Dynastie. Wenn wir erst einen Bischof haben, wird er uns schon Enkel pfaffen. Aber wie bekommen wir den Bischof? Indem wir uns fünf Mal am Tag nach Osten neigen, um zu murmeln: „Mutagen!“ Was? Du hast das schon versucht und „Mutagen!“ ist nicht das rechte Wort? Natürlich ist das Schwierigste, die Kinder ganz zu überspringen. Also kein Herrscherhaus, sondern bloß eine Jugendherberge.

07.06.2005 17:41:46 

DER FADEN


Die Befriedigung, die das Knacken der trockenen Tannenzapfen unter den Füßen macht. Der Blick durch die Lichtellipsen in den Baumkronen. Von Helligkeit durchstochen selbst die Vögel in den Zweigen. Nur ihr Gesang übrig. Wechselnde Töne. Das setzt noch einen Raum in den Raum. Dann wieder ein Knacken, grundlos scheinbar, irgendwo in den Stämmen. Und dann die winzige, lichtgelbe Raupe vor ihm. Sie windet sich, spinnt ihren Faden. Unsichtbar, sichtbar, unsichtbar. Lange steht er da und sieht das an. Nur Millimeter, die sie vorwärts kommt, mehr nicht. Da streift etwas von oben her sein Blickfeld. Er sieht hinauf. Ein Vogel! Nein! Nur eine Mücke.

Der Abstand, um den er sich getäuscht hat, fällt jetzt von sehr weit her in ihn zurück

13.06.2005 15:33:44 

CAGE


Nachdem ich meine größte Feindin an der Fensterscheibe zerdrückt hatte, machte ich mich daran, ihr Durchsichtigstes in Konzertflügel zu verwandeln. Seit dem Mord hatte ich das Bedürfnis, vierhändig mit mir selber zu spielen. Vor allem „Die Fruchtfliege“ von Saint Saens. Nur schade, dass das Morden weiter ging und ich mit jeder Taste, die ich drückte, einem neuen Ton den Garaus machte.

27.06.2005 18:03:36 

SINGER


Die singende Singer ihrer Tante nähte den
Stein zur Welt zwischen den
spul - spul

enden Rollen Die schief

gezwirnte Hand am Schwungrad Bis noch im Blau das
Weiß erreicht war Ihre Füße auf dem
Tret - holz

05.07.2005 00:46:26 

Das Auf


Gehörte über diesem Kind
Er
Pass mit seinem Ozon nicht
Einmal mehr die Weh
En täuschen einen Ausgang

Vor

Kein Frost der fehlte unterm Mull die
Er
Stele
Tzte Lage Gaze und eine Nottaufe
Via Tele

Gramm

(für C.)

07.07.2005 12:46:29 

Die wahrscheinlich längste Schrecksekunde der Welt


Schrecksekunde

10.07.2005 21:36:39 

Trompetenblume


Nichts

als eine blaue Kittelschürze
hinter der Großmutter
Bohnen schälte
den ganzen Nachmittag


Aber abends
wenn ich nah genug
neben ihr saß


und lange genug
in die Sonne gesehen hatte
die sich


im Polyester-Faltenwurf
verfing
knitterte dort
eine Trompetenblume


auf

21.07.2005 20:59:14 

EPIPHANIE


So wach wirst du nie mehr
Dafür reicht deine Nachgiebigkeit nicht aus
Aber nach rückwärts hin lehnst du noch immer an dieser Großen Sekunde

ein Blatt
Buche - grüngelb
kurz vorm Berühren des Asphalts

08.08.2005 17:32:02 

JOSÉPHINE


Jeden Tag fügt der Schnee sich fester. Und er besucht mich ausschließlich im Schnee. Trotzdem ist mir warm. Vor allem, seit es auch ihm gelingt Tiere heranzuziehen. Polarfüchse zum Beispiel. In ihrem Pelz leben wir jetzt. Ein hautwarmer Wald. Natürlich erreichen uns die Nachrichten des Fenneks dort ausgesprochen sporadisch. Wenn überhaupt einmal ein Funkspruch durchdringt, beschränkt er sich auf die Versicherung, er sei noch immer in der Lage unbestimmte Zeit ohne Wasser auszukommen.

Bei uns zu Hause ist es also sehr still.

Rüttelnd.

Rüttelnd still.

15.08.2005 22:35:38 

Joséphine de Beauharnais


Joséphine de Beauharnais

15.08.2005 22:43:22 

UM EIN HAAR


Um ein Haar
den Kopf
an der Klinke ge

s
t
o
ß
e
n

wenn ihm zu
spät ein
fiel

wie dringend er pinkeln musste

Die Schräge die
er lief steht noch in d
er


L


u


f


t


des Durch
gangs
zimmers


Für Lily Mund-Amos

21.08.2005 20:00:02 

HAMLET ALS METEOROLOGISCHER MITTELGEWICHTLER


Nach dem ersten Niederschlag denke ich lange darüber nach, ob ich mich jetzt sportlich oder meteorologisch deuten soll. Ich entscheide mich für die klimatische Variante. Damit mir nicht noch eine Runde 13 widerfährt und ich mich auszählen muß, anstatt nur nass zu werden.

Was aber, wenn das dieser neue Hagel ist, der eben faustgroß aus den Wolken kippt?

03.09.2005 17:58:12 

BILDSTOCK


hier geht die alte Frau zum Bildstock

Eine sehr alte Frau / mit einem Wasserglas / und Blumen / Gebeugt geht sie / Ihr linker Fuß / will nicht mehr so / wie sie will / Trotzdem auf dem Weg / zum

Bildstock / in dessen steinerne / Einfassung / es geregnet hat das fror / sehr schnell so schnell / dass / Eis und Erde jetzt vermischt sind / Darauf / das Glas

09.09.2005 23:39:15 

   1 2 3 4 5   
counterreferrer