Manchmal schließt mich auf meinem Platz zwischen den Schlafzimmern die Trauer so senkrecht gegen die Worte der beiden ab, dass ich ganz in den Rissen im weißen Lack der Tür aufgehe, die Großmutters Schlafzimmer gegen den Flur hin öffnet. In diesem Lack spiegelt sich schemenhaft das Schneetreiben in meinem Rücken. Der Lack beschäftigt mich. Nur der Lack. Nicht diese Ehe, diese Krankheiten, nur die Risse im Lack und das schattige Darüberhintreiben. Ich will jetzt in keinen der beiden Räume sehen, kann mich nur schwer beherrschen, nicht mit dem Nagel den Riss dort nachzuziehen und aus dem Lack Lackstücke herauszubrechen.
24.03.2006 23:52:52
LACK II
Ich drehe mich um, sehe durchs Doppelglas. Das Sinken dort. Eine Armlänge vorm Fenster umschließt das herausdringende Licht die Flocken als Gloriole. Und manchmal stiebt das weiße Treiben wieder nach oben hin auf:
gegen die Flugrichtung.
Atem des Hauses?
Dahinter nur verstrichenes Weißgrau.
Benommen davon.
Und dann fragt es mitten aus den abwechselnden Sätzen der Großeltern, die lange leer um mich her geflossen sind: „Hörst du auch zu?“ Ich kann nicht einmal sagen, ob Großvater oder Großmutter das ausgesprochen hat.
Und lüge natürlich.
bringe mein "Ja!"
so gut heraus,
dass es ehrlich klingt.
(Noch einmal für Christine.)
27.03.2006 23:57:16
STECHFICHTEN
Er erträgt jetzt keinen Besuch mehr. Eine halbe Stunde vielleicht, länger nicht. Er muss allein sein. Dann geht es. Manchmal, wenn er lange genug das Bild seiner Eltern angesehen hat. Dann ist sie da, die Ruhe. Vom Wind her, der das Licht zwischen den Fichten bewegt, es über die alte Photographie huschen lässt.
Er ahmt das nach:
Die Bewegung seiner Finger mit den akkuraten Fingernägeln in der Luft, als wische er Spinnweb fort. Eine Bewegung, seltsam parallel zum Geräusch der Stechfichten, die über die Wetterseite des Hauses streichen.
01.04.2006 22:01:19
ER
Der kalte Geruch des Eisenwarenladens
Der alte Mann
Der nach mir hereinkommt
ER
Steckt
Sechs fingerlange Nägel In die Tasche Den Rest Bezahlt er – Aber warum gerade
Sechs
02.04.2006 11:17:20
PFLOCK
Den Hasen erlegt
mit einem angespitzten Kreuz
pflock
Wurf
und er lag vorm Ginster
zuckte
wand sich
Fort
gelaufen
das Kind
vor dem Zucken
dem Sich
Winden
Nachts
war das
selbst im Himmel ab
gespiegelt
hinter den Mond
wolken
(Mit erstaunten Grüßen an Hendrik.)
03.04.2006 12:58:50
IN DEN FISCH GESCHRIEBEN I
Ein kleiner Junge, der noch mit sehr viel Lust am Gehen
geht.
Er kann es noch nicht lange
und tut es so mit aller Freude am Geradeerstgelernten.
Taumelnd,
aber auf Zehenspitzen - schaut er über über die Hecke.
26.04.2006 18:25:55
CAMUS
Die Gezeiten haben aufgehört. Sie sind jetzt in der Luft. Von den Fregattvögeln übernommen. Ihr Schwarm flutet als schwarze Wolke über Plastiksäcken. Dümpelnden Plastiksäcken. Denen, in die wir eingeschweißt sind. Die wir als Bronchien einatmen.
Ausschließlich ein.
Im Geschmack von Müllsack das Ausatmen vergessen. Weißt du noch, wie es geht? Oder wartest auch du nur noch aufs Müdewerden der Fregattvögel? Auf ihre Krallen, wenn sie sich auf uns niederlassen? - Nein! Doch nicht etwa auf ihre Schnäbel!
die Leichtigkeit der Steine geht jetzt noch über die der Luft hinaus. Ohne den Leim in seinen Ritzen flöge selbst der Kaukasus ins All hinaus. Seine ganzen tausend Kilometer vor dem Schwarzen Meer. Aber ich habe den Rebellen von meinem Eisleim geschickt, um auch Grosnys Stein in Buntglas umzugießen. Streng genommen bedeutet das eine neue Geometrie: die Geometrie des Archaeopterix als Mobile. Das Original verwahre ich in meinem unterirdischen Museum.
Du weißt ja: Wärme ist Bewegung.
Herzliche Grüße
Dein
Michail
16.06.2006 22:02:22
VANILLEDIEB
Madagaskar. Schon auf dem Feld stecken sie dir die Schoten in die Wade. Du tanzt das. Als Anklage. Du schüttelst den Speer. Bis sie sich schwarz nach Coca-Cola hin verfärben. Erst die Schoten, dann die Schuldigen. Vanille. Du selbst hast diesen Geschmack noch nie gekostet. Nicht im Mund, nur in der Wade. Deine Sache ist gerecht. Aber du kommst erst nach der Ernte. So erodiert dein Staatsanwalt mitten im Sprung.
17.07.2006 01:00:27
P.
"Überdies zielen die Künstler in jeglicher Kunst nur auf die Liebe ab."
20.07.2006 12:19:43
BROTTAG
Ein Brottag ein
Gesäuert vor der
Zeit
Ganz die Ges
Undheit dieser
Kruste
Das musst du
Lange vor dem Kauen
Üben
Bevor du noch das
Weiße in die Kugel
Rollst
29.07.2006 15:52:00
LILIOUKALANI
Niemand weiß wirklich, woher er kommt. Aber er hat jetzt so lange mit seinen Befriedungen geprahlt, dass er den Anschein leicht erweckt, er könne sie tatsächlich zu Wege bringen. Selbst die Fleuristen glauben ihm inzwischen. Wen wunderts, denn er erzählt bis ins Anekdotische hinein detailgenau, wie er seit zwei Jahrhunderten über den Globus wandert und Gemeinderäte stiftet. Selbst Lilioukalani, die Königin von Hawaii, fiel seiner Friedhofsordnung zum Opfer. Parlamentarisch gesehen ist es ja nicht weiter von Belang, dass sie seit ihrem Sturz durch alle Blumenkränze spukt. Aber selbst die Friedhofsgärtner lachen, wenn er das erzählt und heben die Hand, um ihn zum Kassenwart zu wählen.
Denn, wie gesagt:
Seine Erzählungen sind herrlich bunt,
wenn auch vorerst die Düfte fehlen.
10.08.2006 15:57:36
SCHNECKENBROT
Hat nicht jede
Schnecke
ihren eigenen Charakter?
21.08.2006 13:23:56
GROSSVATERS RÜCKMARSCH
Also auf Schusters Rappen weiter.
Über den schweren russischen Boden.
Wenn man nur so drüber weg sah übers Land, dann sah es ganz leicht aus. Kein Berg und nichts, nur Bodenwellen mit ein paar Fichtenhecken. Aber dann kamen die Sümpfe und ließen einem den Lehm in die Stiefel laufen, dass einem der Schweiß ausbrach vor lauter Müdigkeit. Heute noch muss einer meiner Knobelbecher im Dreck der Pripjet-Sümpfe stecken. Immer gab der Harsch gerade dann unter einem nach, wenn man eben mittendrin steckte.
Wie zur Strafe dafür, dass man die Stiefel zum Teufel gewünscht hatte,
wenn man die Füße abends nicht mehr rausbekam.
22.08.2006 22:05:25
JAQUES COUSTEAU ALS SOHN VON EDISON
Schließlich waren Vater und ich so sehr vom Glück verfolgt,
dass uns buchstäblich alles gelang, was wir unternahmen.
Vorgestern wurden wir aber des Hantierens in der Werkstatt überdrüssig und warfen unsere Arme als Flossen hinter uns, um in die Luft als warme Welle einzutauchen.
So nahmen wir von gestern an alles in den Mund, was wir berühren wollten,
und genossen die Wiederkehr ins Orale derart, dass uns seitdem kein
Laut entfahren ist, der unser Meer nicht als Jauchzen durchblubbert hätte.
Ein Jauchzen, das uns die Blaumänner als Neopren in die Haut wachsen
ließ und sie so glänzend machte,
dass wir von Stund an nur noch Lebensretter waren.
Seitdem retten wir alles,
was uns vor die Nase kommt und in die Tiefe sinken will:
Schaufensterpuppen,
eine alte Luftmatratze
und schließlich die Taucherin, die der Tiefenschwindel überwältigt hatte.
Es versteht sich von selbst,
dass uns dieses Erlebnis prägte:
unumkehrbar.
Neopren auf Neopren:
das war schließlich doch ein zu ozeanisches Gefühl.
Unsere Gerettete hat deshalb aus reiner Dankbarkeit ein eigenes Delphinarium
für uns eröffnet und lässt uns zu unser aller Beglückung Haushaltsgeräte
reparieren. Mit den Zähnen, wie es sich gehört... Und, wie es sich gehört: lächelnd…
28.08.2006 13:29:58
HOX / KONZERT DER STEUERGENE
Christiane Nüsslein-Volhard gewidmet.
Frage1: Wo ist links? Wo ist rechts?
Frage 2 oder 3: Ist das nur EINE Frage?
Versuch: Formen eines Körpers durch Musik.
Die Homöobox der 183 Gen-Buchstaben wird einerseits
verkürzt auf 1, 8 und 3 des herzkömmlichen Alphabets, andererseits
verlängert auf einen erst schwarzen Würfel von 183x183x183 cm,
in dem die beiden Musiker sitzen:
Boden: stilisierte Flosse
Wände: stilisierte Hand
Dach: stilisierter Flügel
Aufleuchten des Bodens:
Durchgang durch den Körper von der rechten Hand an,
die Gitarrensaiten zupft: A, H, C
Delay: kaskadenartig gesteigert,
bis es von der linken Hand, aufgenommen wird,
die Geigensaiten zupft: A, H, C.
Wenn jeweils NUR die rechte und NUR die linke Hand 183 x erklungen sind,
nehmen Musiker,
(Aufleuchten der 2 Wände, an denen sie lehnen.)
erst behutsam, dann immer ausschließlicher (?!),
die jeweils andere Hand zu Hilfe
(Freie Improvisation über A, H, C beim Aufleuchten des Daches.)
und schließen mit der jeweils anderen Hand ab:
(Aufleuchten der Flosse.)
Gitarrist mit der linken Hand zupfend: A, H, C x 183 (Delay)
Geiger mit der rechten Hand zupfend: A, H, C x 183 (Delay)
Erlöschen der Flosse:
Schwarzer Würfel.
(Biiitteee, lieber Nikolai, dann eben keine Bilder;)