Folgendes. Immer gegen 8 Uhr in der Früh brechen wir auf, Georges und ich. Wir gehn ein paar Schritte über die Rue de Javel, nehmen die 6er Metro durch den Süden, steigen dann um in Richtung Porte Dauphin, fahren mal unter, mal über der Erde im Kreis herum, während wir einer neben dem anderen sitzen und schauen und notieren bis es Abend oder noch später geworden ist. Man kann für viele Stunden sehr zufrieden so durchgeschüttelt Seite an Seite sitzen und Menschen betrachten. Wie sie hereinkommen, Fahrgäste, wie sie im Waggon Platz nehmen, wie sie beschaffen sind, davon legen wir Verzeichnisse an, Georges ein Verzeichnis, und ich ein Verzeichnis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Verzeichnis aller Erscheinungen eines Raumes anzulegen, der nicht gerade erfunden wird, eines Raumes, der sich fortbewegt, der betreten und verlassen wird von Menschen im Minutentakt, das Verzeichnis eines Raumes, dessen Fenster sich von Sekunde zu Sekunde neu bespielen, weil es also unmöglich ist, das Verzeichnis eines wirklichen Raumes anzulegen, mindestens aber sehr anstrengend, machen wir das so : in der ersten Stunde des Reisetages notieren wir ein Verzeichnis der zugestiegenen Krawatten, in der zweiten ein Verzeichnis der Schuhe und der Strümpfe, ein Verzeichnis, sagen wir, der Gehwerkzeuge und ihrer Bekleidung, dann ein Verzeichnis der Haartrachten, der Taschen, der Methoden sich im fahrenden Zug einen sicheren Stand zu verschaffen, der Gesprächsgegenstände, der Art und Weise sich zu küssen, zu streiten, oder aber ein Verzeichnis abseitiger Gestalten, ein Verzeichnis der Diebe, der Bettler, der Posaunisten, der Verwirrten ohne Ziel, je ein Verzeichnis der Sprachen und kleiner Geschichten, die wir aus der allgemeinen Bewegung zu isolieren vermögen. Von Zeit zu Zeit, während wir so fahren und notieren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Georges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel verschluckt, als lache er nur deshalb, weil er Mademoiselle Moreau wieder freilassen wolle. Dann weiß ich, Georges hat etwas gefunden, das er mir abends in irgendeinem Cafe, wenn wir fertig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser beider Köpfe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen aufbewahren lässt, vortragen wird, - „ Auf Krawatte gelb, zehnzwei, lebende Ameise, argentisch, kreuz und quer. Der Codename Servals war Louviers“, sagt Georges und hebt sein Glas. Fünf Gläser Pastis, fünf Gläser Wasser, - dann sind wir wieder leicht geworden, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, nehmen wir den letzen Überlandzug nach Norden oder den 11er nach Süden, dorthin, wo die Feuernelken blühn, und wenn es endlich Morgen geworden ist, steigen wir um, öffnen die Fenster und fahren nach Westen in unserer Windmaschine spazieren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewitter aufsteigen und Schwefel vom Himmel kommen und weißes Licht, das die Landschaft entzündet. So haben wir schon sehr schöne Gedanken über das Feuer gefangen und über das Schlagzeug in diesem gewaltigen Raum, der über uns hängt, einem Raum, dessen zentrales Verzeichnis von nicht menschlichen Maßen ist, so dass wir bald nur schweigen und auf entfernte Menschen schauen, auf Szenen im rasenden Vorüberkommen, auf Filme, die in unseren hin und her hastenden Augen derart kurze Filme sind, dass sie einer Fotografie sehr nahe kommen, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbewegt. Es ist ganz so, als würden wir an einer gewaltigen Aufnahme der Zeit vorüberkommen, an einer Fotografie, deren Gegenwart wir nicht berühren können, weil wir nicht aussteigen können, ohne das Leben zu verlieren, weil wir zu schnell sind, weil wir in einer anderen Zeit sind.
koffertext
28.01.2004 12:50:45
naturbeobachtung
Naturbeobachtung. Sagen wir : Savanne. Sagen wir : Abend. Sagen wir : vorschriftliche Zeit. Dort - zwei Männer. Der eine der beiden Männer liegt auf dem Rücken. Dieser Mann, von Staub bedeckt, - ein toter Mann. Sein Bauch ist geöffnet. Vielleicht ist der Mann gestürzt, vielleicht wurde der Mann von einem Raubtier angefallen. Der zweite vorgestellte Mann kniet vor dem Toten und betrachtet die Wunde. Nun zieht dieser Mann seine Waffe und hebt einen Lappen Haut zur Seite. Er setzt das Werkzeug in der Wunde an und schneidet solange in die Muskulatur des Bauches, bis die Bauchhöhle des Toten offen liegt. Diese Geste, - eine Geste der Untersuchung, des Eindringens, der Invasion, eine vorsichtige Geste ohne ein bestimmtes Ziel. Da ist der Wunsch, Tiefe zu gewinnen, Unsichtbares, Verdecktes, Unbekanntes sichtbar zu machen. Vielleicht wird sich dieser Mann nun von dem Toten entfernen, vielleicht deshalb, weil eine weitere Raubkatze sich nähert. Vielleicht wird der Mann, aus der Erinnerung heraus, den Umriss eines Mannes, der tot ist, in eine Felswand ritzen. Vielleicht wird er in diesen Umriss eines Mannes, der steht oder liegt, die Form eines Organs eintragen, - genaue Lage, exakte Größe. Die Abbildung nun eines Organs, für dessen Existenz zum Zeitpunkt der Entstehung weder ein Zeichen noch ein Begriff erfunden wurde.
anatomische notiz
05.02.2004 17:33:44
84, charing cross road
Fräulein Helene Hanff wohnt nahe Central Park, 14 East 95th Street New York 28. Frank Doel arbeitet für den Buchhandel Marks & Co, 84, Charing Cross Road London, W.C.2, England. Man korrespondiert miteinander in den Jahren 1949 bis 1969 - Suchaufträge, kurze Briefe, Geschenke, vor allem Bücher und andere lebensnotwendige Dinge werden hin und her über den Atlantik geschickt. Am 9. Dezember 1949, vermutlich auf dem Seeweg, verlässt ein 6-Pfund-Schinken New York. Das Eintreffen der Kulinarie in London ist für den 20. Dezember noch desselben Jahres sicher verbrieft, man teilt das gute Stück unverzüglich unter allen Mitarbeitern auf. Eine herzliche Freundschaft, - der eine betreibt Fahndung, Fräulein Hanff, die junge Bühnenschriftstellerin, wartet. Es ist eine Zeit, als auf Bücher noch gewartet wurde.
Am 25. März 1950 folgende Adresse gegen London ...
„Frank Doel, was TUN Sie eigentlich da drüben?? Sie tun gar NICHTS, Sie sitzen nur HERUM! Wo bleibt Leigh Hunt? Und wo die –Oxford Gedichtanthologie- ? Wo bleibt die Vulgata und wo der liebe vertrottelte John Henry? All das wäre eine so nette aufbauende Lektüre für die Fastenzeit gewesen … und Sie schicken mir absolut nichts! Sie lassen mich hier sitzen und lange Randbemerkungen in Bibliotheksbücher schreiben, die mir nicht gehören. Eines Tages wird das herauskommen, und sie werden mir meinen Bibliotheksausweis wegnehmen. Ich habe mit dem Osterhasen eine Abmachung getroffen, Ihnen ein Ei zu bringen. Er wird herüberkommen und feststellen, dass Sie in Untätigkeit verstorben sind. Für den nahenden Frühling brauche ich unbedingt einen Band mit Liebesgedichten. Keinen Keats oder Shelley! Schicken Sie mir Dichter, die Liebe machen können, ohne zu sabbern – Wyatt oder Jonson oder irgendeinen anderen … denken Sie sich selbst etwas aus. Einfach ein schönes Buch, schmal genug, um in eine Anzugtasche gesteckt und in den Central Park mitgenommen zu werden. Also, sitzen Sie nicht herum! Spüren Sie es auf! Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie dieser Laden existieren kann.“
Helene Hanff "84, Charing Cross Road", New York 1970, - sowie, in der Übersetzung von Rainer Moritz, unter gleichem Titel bei Hoffmann und Campe, Hamburg 2002 | koffertext
22.02.2004 20:30:21
SEQUENZ - Tel Aviv : Frankfurt am Main – 18. August 2002
Heute, bei großer Hitze, wurde von einem Bildschirm aus, der auf dem hölzernen Boden eines meiner Zimmer steht, folgendes berichtet.
Vor Chelmno wartete einmal ein Zug unter Bäumen. Fünf der Waggons des Zuges kamen aus dem griechischen Süden, das wissen wir jetzt aus großer Entfernung, drei waren Budapest entnommen, sieben von irgendwo her aus dem Osten herangeführt, zwei holländischer Herkunft. Letztere nun, das waren komfortable Wagen, Pullmann oder von ähnlich nobler Herstellungsadresse. Sie hingen dem Zug in Fahrtrichtung am Ende an, zwei Personenwaggons, ihnen voran vierzehn Waggons für Güter, für Vieh. Langsam, in einem halbstündigen Takt jeweils um die Länge zweier Waggons, rückte der Zug vorwärts.
Das Gesicht der Frau, die von diesem Zug erzählt, ist ruhig, wirkt gefaßt. Dunkle, tiefliegende Augen. Sie steht an der Brüstung eines Balkons, trägt ein leichtes Sommerkleid, einen hellen Hut auf dem Kopf, die Haut ihrer Arme ist gebräunt. Im Hintergrund das Meer, eine glatte, schimmernde Fläche.
Oh ja, sagt sie, wir waren besorgt. Wir wußten nicht wohin man uns bringen würde. Wir haben das ein oder andere gehört, aber wir glaubten nicht alles, sie verstehen? Zwei Tage und zwei Nächte waren wir unterwegs. Wir hatten Zeit zu packen gehabt. Wir waren vorbereitet. Wir waren Gefangene. Aber man hat uns gut behandelt. Man sagte, wir sollten ausgetauscht werden. Ich kann mich nicht erinnern gegen was oder für wen.
Sie schweigt, wendet sich ab, schaut auf das Meer, das nur durch ein paar Schritte von dem Haus, auf dessen Balkon sie steht, entfernt zu sein scheint. Dann kommt sie zurück. Ein kurzer, ein fester Blick hin zur Kamera.
Ich kann nicht sagen für wen wir ausgetauscht werden sollten, was wir glaubten, was wir dachten, ich erinnere mich nicht. Vielleicht hat man uns nichts erzählt davon, vielleicht haben wir nicht danach gefragt. Wir hatten Hoffnung, sie verstehen? Wir waren 82 Frauen. Französinnen, Holländerinnen und einige Deutsche. Wir hatten gepackt für eine lange Reise.
Wieder schweigt sie, wieder geht ihr Blick zur Kamera hin, flüchtig, bald senkt sie die Augen, bald richtet sie ihren Blick unmittelbar gegen das Objektiv, als würde sie durch das Glas hindurch direkt zu mir ins Zimmer schauen. Von unten her kommt eine Hand ins Bild, spielt an einer Kette herum, dunkle Perlen, hölzerne Perlen.
Unsere Männer waren schon fortgebracht. Man sagte, wir würden sie bald wiedersehen. Wir hatten ja Hoffnung deshalb. Wir haben uns gut eingerichtet im Zug. Von Zeit zu Zeit wurden unsere Waggons rangiert, zwei Waggons waren das, sie verstehen, sehr schöne Waggons, kostbare, hölzerne Verkleidungen, dunkelblaue Vorhangstoffe. Aber wir konnten die Fenster nicht öffnen. In einer Stadt kleiner Häusern, ich erinnere mich, standen wir für einige Stunden still. Ein Offizier kam herein und sagte, daß wir bald am Ziel seien. Wir sollten alles zusammenpacken. Er war sehr freundlich, ein junger Mann.
Wieder schaut sie zum Meer hin, zeigt ihr Profil, ein mageres, altes Gesicht. In großer Entfernung ist ein Tankschiff am Horizont zu erkennen, Möwen durchkreuzen den Ausschnitt des Bildes. Jetzt fährt sie sich mit einer Hand über das Gesicht, drückt ihren Hut fest ins Haar. Es ist windig, ein Wind, der vom Meer her kommt. Böen, leichte Böen. Und Sirenen, jaulende Sirenen, Ambulanzen vielleicht.
Sehen sie, fährt sie fort, da waren wir beruhigt. Man hat ja viel gehört. Aber man hat nicht alles geglaubt.
Sie schweigt kurz, drückt ihre linke Hand fest gegen die Stirn.
Dann wurden wir wieder rangiert. Einige Güterwaggons kamen vorüber, bunte Stoffe hingen aus den Luken. Und Hände. Hände waren zu sehen, ich erinnere mich. Plötzlich wurde es sehr still im Zug. Ein paar Soldaten liefen an unseren Waggons vorüber. Sie sahen zu uns herauf. Sie lachten. Sie waren freundlich. Da redeten wir wieder. Wir waren froh, bald angekommen zu sein, waren müde vom Sitzen. Langsam fuhr der Zug aus der Stadt. Das war jetzt ein langer Zug geworden. In den Kurven konnte ich eine Lokomotive erkennen. Sie war weit entfernt. Ich erinnere mich an mächtigen Dampf, weißen Dampf, und an Güterwaggons, ich erinnere mich an Güterwaggons, sie fuhren uns voran. Dann hielten wir an. Da waren Bäume, da war Schatten. Wir hörten Hunde bellen. Wir sprachen über unsere Pläne, sie verstehen? Wir waren schon recht vertraut miteinander.
Wollen sie noch etwas trinken, fragt sie plötzlich.
Sie streckt eine Hand in Richtung der Kamera. Sie wiederholt ihre Frage, spricht zunächst in hebräischer, dann in arabischer Sprache, dann wieder Deutsch.
Nicht? Es ist heiß heute.
Sie führt eine Tasse zum Mund. Ein kurzer, scheuer Blick, indessen sie trinkt. Dann stellt sie die Tasse auf der Balkonbrüstung ab, sieht wieder zur Kamera hin, fährt fort zu sprechen.
Wir zogen also unsere Schuhe an. Wir ordneten unsere Kleider. Von Zeit zu Zeit fuhr der Zug ruckartig an, bremste wieder, stand still. Noch einmal kam der Offizier herein. Er sah sich um, war zufrieden. Er lächelte. Er sagte, daß wir in einer halben Stunde aussteigen könnten. Er sagte noch, daß wir nicht alles mitnehmen müßten, nur das leichte Gepäck. Als er die Waggontüre öffnete hörten wir Stimmen. Jemand schrie. Dann wieder alles gedämpft, aber Stimmen. Es roch sehr merkwürdig, die Luft, sie verstehen?
Wieder sieht sie in die Kamera, ins Zimmer, ruhige Augen. Eine Möwe nähert sich ihrer Tasse. Mit einer heftigen Bewegung der Hand scheucht sie den Vogel davon.
Wir hatten Hoffnung, verstehen sie? Wir machten uns zurecht. Einige der Frauen schminkten sich. Sie waren sehr hübsch. Dann fuhren wir noch einmal vorwärts. Eine Wand, eine Mauer. Die Türen wurden aufgerissen. Jemand brüllte. Ein Mann brüllte. Raus! Raus!
Heftig fährt sie sich mit der Hand über die Stirn. Dann wieder der Blick in das Objektiv. Ein schönes, altes Gesicht, dunkle, tiefliegende Augen, schlohweißes Haar, Hut auf dem Kopf. Ein leichter Wind geht, aber das Meer in der Ferne erscheint bewegungslos. Das Tankschiff am Horizont, verschwunden. Zwei schnelle Kanonenboote durchkreuzen das Bild von links nach rechts. Sie nimmt die Tasse von der Balkonbrüstung auf, trinkt in kleinen Schlucken, stellt die Tasse zurück, drückt den Hut auf den Kopf, lächelt kurz. Dann spricht sie, tiefe Stimme, sehr leise, so daß die Worte kaum noch zu hören sind.
Ich habe einem der Männer gefallen. Er hat auf mich gedeutet. Ich habe ihm gefallen. Ich war jung, ich war hübsch, sie verstehen?
koffertext
26.02.2004 20:08:22
alpha to zero. Der Finger des Autors kurz vor zwölf, indem er pulmo sinister bedeutet. Kühles Gelände. Ein Flügel von uralter Luft. Impressio cardiaca : lobus inferior : fissura obliqua. Dann, im Kopflicht, phalanx distalis : die Spitze des Knochenzeigers. Eine Struktur, der man nicht mit einem Begriff begegnen kann, ist wie nie gewesen. Man kann sich nicht über sie verständigen, auch nicht in der Erinnerung im eigenen Kopf. So wird man sagen : jener Knochen, den ich am zehnten Februar betrachtet habe kurz nach zwölf. Und schon ist die Struktur in einer sehr privaten Art und Weise ausgezeichnet.
anatomische Notiz
25.03.2004 21:58:04
Abschnitt Neufundland meldet :
: folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt - 1532, Luftfahrt - 3851, Automobile - 48828 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert - 8, 19. Jahrhundert – 28, 20. Jahrhundert – 273 ], Öle [ 15500 Tonnen ], Prothesen [ Herzrhythmusbeschleuniger – 71, Kniegelenke – 343, Hüftkugeln – 135 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 8, mit Taucher – 5 ], Engelszungen [ 6 ] – Quelle : University of Halifax : register 87 : derelicts – maerz 27
anatomische Notiz
27.03.2004 10:41:09
0/1
barrikade des tages
05.04.2004 17:07:37
Ameisengesellschaft LN - 769 [ lasius niger ] : Position 48°21’N 07°01’O : Freitag : Juli : der Neunzehnte. Folgende Objekte wurden von 20.00 – 21.00 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal eingeführt : zwei trockene Fliegentorsi mittlerer Größe [ je ohne Kopf ], sechzehn Baumstämme [ à 7 Gramm ], fünfzehn Raupen in Grün, achtzehn Raupen in Orange, ein Insektenflügel [ vermutlich der eines Zitronenfalters ], zwei Streichholzköpfe [ à 2 Gramm ], acht Fliegen der Gattung Calliphoridae in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 50 Gramm ], fünf Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], sieben gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 157 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], sechs Rüsselkäfer [ blautürkise ], die Aaskugel eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, eine Wildbiene, ein Autoreifen [ Masarati Mistral ] 8 Gramm.
anatomische notiz
10.04.2004 17:57:58
Lesung im Krakauer Turm : Nürnberg - 3. April 2004
„Lieber Gott, bitte hilf mir, dass ich wieder aufwachen kann. Deine Britta.“
In das Bittbuch der Neurologischen Klinik
Bad Aibling eingetragen von Marianne am
22. Februar 2004.
30.04.2004 06:27:32
~ : lee gibson
to : louis
subject : PETUSCHKI
date : sept 05 04 6.32 p.m.
Da ist die angenehme Vorstellung der Büchermenschen. Das sind Personen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spazieren gehen. Wenn sie einmal nicht spazieren, sitzen sie studierend auf Bänken in Parklandaschaften herum, in Cafes oder in einer Untergrundbahn. Dort einmal, aus heiterem Himmel sagen wir, angesprochen, wenn man sich nach ihrem Namen erkundigen würde, würden sie erschrecken und sie würden vielleicht sagen, ohne den Kopf von der Zeichenlinie zu heben, ich heiße Anna oder Victor, obwohl sie doch ganz anders heißen. Und wenn man sie fragen würde, wo sie sich gerade befinden, würden sie behaupten, in Petuschki oder in Brooklyn oder in Kairo oder auf einem Amzonasregenwaldfluss. - Heute habe ich mir gedacht, man müsste für diese Menschen eine eigene Stadt errichten, eine Metropole, die allein für lesend durch das Leben reisende Menschen gemacht sein wird. Man könnte natürlich sagen, wir bauen keine neue Stadt, sondern wir nehmen eine Stadt, die geeignet ist und machen daraus eine ganz andere Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Probe. In dieser Stadt lesender Menschen sind Bibliotheken zu finden, wie Blumen auf einer Wiese so viele. Da sind also große Bibliotheken, und etwas kleinere, die haben die Größe eines Kiosks und sind geöffnet bei Tag und bei Nacht. Man kann dort sehr kostbare Bücher entleihen, sagen wir, für eine Stunde oder zwei. Und dann macht man sich auf den Weg und während man geht, wird gelesen. Das ist sehr gesund in dieser Art so in Bewegung, denn auf die Straßen sind Linien aufgetragen, Strecken, die lesende Menschen durch die Stadt geleiten. Da sind also die gelben Kreise der Stunden, und das sind die roten Linien der Minutengeschichten. Blau aber sind die Strecken mächtiger Bücher, die schwer sind von feinsten Papieren. Sie führen weit aufs Land hinaus bis in die Wälder, wo man ungestört auf sehr bequemen Pinienbäumen schlafen kann. In dieser Stadt lesender Menschen haben Automobile, sobald ein lesender Mensch sich einer Kreuzung nähert, den Vortritt zu geben, und alles ist sehr schön zauberhaft beleuchtet von einem Licht, das aus dem Boden kommt.
Nacht ist, die Hitze in der Wohnung unerträglich. Geh ich also spazieren, geradewegs aus dem Haus, rastlos solange kreuz und quer durchs Viertel, bis der Kopf von innen nach außen gewendet und jede Häuserwand zur Leinwand geworden ist. Dann wird Blau aufgespielt, Blau und Schatten, und Träume kehren zurück, dieses alte, schöne Zeug, das sich wie von selbst notiert, wenn der Schlaf gerade gewichen, wenn man eben so wach geworden ist, daß man den Bleistift schon halten kann.
Ich liebe diese Bewegung zurück in der Nacht, gehen und leise sprechen. Niemand da. Niemand hört zu. Kaum ein Laut, nur das beständige Rauschen der Stadt, und ein Knistern, ein kaum hörbares Knistern elektrischer Ladung der Luft, leichte Schläge auf Wangen, auf Arme, auf Hände, eine Empfindung der Haut, als würde man Schwärme reizbarer Füsiliere durchschreiten. Als sei man von Algen bedeckt, so wird gefressen.
In dieser Nacht kehrt Saint Exupery in ein Gespräch zurück, das längst von einer Geschichte handelt, das nicht mehr Traum ist, schon ein zentrales Gebilde aus Worten, eine Erfindung, ein Haufen Sand ist, über den ich erinnernd fliege, über eine Wüste hin, in einer alten Flugmaschine sitzend, und vor mir, in nächster Nähe, ein lederner Kopf, ein Kopf, der hin und her geworfen wird von Turbulenzen der kühlen Luft. Tief unter uns, sehr tief, in flirrender Hitze, rasch wandernde Dünen. Wir rasen entlang eines dunklen Bandes, das sich wie eine Schlange durch die Täler windet, und fallen, und ich sehe, das sind Dominosteine, die in den Sand abgelegt sind. Da und dort Beduinen, die ihre Zelte aufgeschlagen haben im Spiel. Kamele trinken aus Augenfeldern, die ohne Grund sind, dunkel, als sei ein Raum hinter ihnen angeschlossen. Von Zeit zu Zeit steigen schwarze Wölkchen auf, Qualm, der nach Schwefel duftet, nach Feuer. Knallen, trockenes Knallen. Plötzlich dreht sich der lederne Kopf herum. Fliegerbrille. Augen, von altem Glas aufgeblasene Augen. Saint Exupery, der zu mir spricht. Anstatt Worte schießt ihm Wasser aus dem Mund.
Dann wieder Blau. Und Stille.
04.11.2004 08:51:00
Hannover : 27.11.2004
fotografie 1 : arne rautenberg christine marendon sylvia geist
28.11.2004 22:33:39
Anleitung zum Glücklichsein
Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man solange durch die Stadt bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man : Cortazar, Julio – „Geschichten der Cronopien und Famen“. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht wenn Sommer, oder ein Cafe, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise, oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, - diesem sagen wir: „Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauf folgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen.“ Oder jenem: „Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen.“
It works.
01.12.2004 17:24:43
Hannover : 27.11.2004
fotografien 2 : thorsten krämer mirko bonné oliver platz
03.12.2004 17:32:46
Abschnitt Neufundland meldet :
: folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt - 1276, Luftfahrt - 3144, Automobile - 62323 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert - 5, 19. Jahrhundert – 57, 20. Jahrhundert – 852 ], physical memories [ bespielt - 1559, gelöscht : 572 ], Öle [ 21450 Tonnen ], Prothesen [ Herzrhythmusbeschleuniger – 95, Kniegelenke – 87, Hüftkugeln – 122 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 6, mit Taucher – 9 ], Engelszungen [ 8 ] – Quelle : University of Halifax : register 87 : derelicts – dec 09
anatomische Notiz
10.12.2004 18:27:45
Lebenszeichen
Zunächst türmt sich das Meer. - . Nimmt, was es mit sich reißen kann. - . Dann knattern unterm Himmel Wale von schwarzem Eisen. ----- . Auf der Suche nach Überlebenden, so heißt es, seien Hubschrauber der indischen Armee über den Nikobaren aus ramponiertem Dschungel heraus mit Pfeil und Bogen beschossen worden. ---- Luftcode. ----. 01.01.2005 16.15 MEZ Position 50°08'N 8°37'O : ...
02.01.2005 08:40:22
20.05 – 20.07 Uhr MEZ - Krapp im Chat
[Login OK]
[Krapp joined channel Welcome!]
[82users in channel Welcome!]
RickJ2!!: Bye bye.
Krapp: „Have just eaten I regret to say three bananas and only with difficulty refrained from a fourth.“
Gulli_S2: Hotmail?
[katsu left channel Welcome!]
UrFixation: Omg, stop it with the banana story.
Krapp: „Fatal things for a man with my condition.“
2005Guy!!: Ur...is getting visuals..lol
Gulli_S2: Hotmail
[muff' joined channel Welcome!]
Krapp: „Extraordinary silence this evening.“
UrFixation: lol
UrFixation: I am
RickJ2!!: Some old stories krapp.
[muff' left channel Welcome!]
Devilish.fr is away from keyboard.
UrFixation: Flashbacks
UrFixation: lol
Gulli_S2: Fuck you!
Krapp: „I strain my ears and do not hear a sound.“
RickJ2!!: lol
[Gulli_S2 left channel Welcome!]
2005Guy!!: I bet...not pretty
UrFixation grins evilly.
RickJ2!!: Watch out gulli
Krapp: „Just been listening to an old year, passages at random.“
[2HOT4YOU left channel Welcome!]
AngusYoung: I just found out i have lung cancer and it sucks!
RickJ2!!: aww
Krapp: „I did not check in the book, but it must be at least ten or twelve years ago.“
UrFixation: Where did that come from?
[GuitarAddicted left channel Welcome!]
2005Guy!!: Woaw
[Playboylovers joined channel Welcome!]
Krapp: „Now the day is over.“
2005Guy!!: Zackly.
SlicKgirl: Should i simply mute him?
[Muff joined channel Welcome!]
RickJ2!!: Same stories krapp, right?
[Kalkan left channel Welcome!]
[Space Monkey left channel Welcome!]
Muff greets all.
Krapp: „Night is drawing nigh-igh.“
[Porto-boy joined channel Welcome!]
2005Guy!!: I thought i just had dezavu...
RickJ2!!: Get it??
Playboylovers: hi dudes
Playboylovers: lol
Krapp: „Shadows.“
2005Guy!!: Don't know how to spell it..lol
[AngusYoung left channel Welcome!]
RickJ2!!: Hey baaby
[Bryan1997_4_you joined channel Welcome!]
[Desiree left channel Welcome!]
Bryan1997_4_you: Hi all
Muff: Chess game anybody?
Bryan1997_4_you: Anyone wanna chat
RickJ2!!: Krapp do you know english?
[Andriy!!!! left channel Welcome!]
[Lana-puma-hoty joined channel Welcome!]
19-m-Francais: Kein Deutsch hier?
UrFixation: Nein
Muff: RickJ2 do you fancy me.
Krapp: „Past midnight. Never knew such silence. The earth might be uninhabited.“
Thebigone greets all.
[BlackScorpion left channel Welcome!]
[JoeNY left channel Welcome!]
Bryan1997_4_you: hi courtney
RickJ2!!: what u mean muff
[Country-Boy joined channel Welcome!]
Muff: RickJ2 why do u ignore me?
Porto-boy greets all.
[Krapp left channel]
[Welcome!]
Experiment frei nach Samuel Beckett
25.02.2005 21:29:33
"Liebe Oma, hab Dich ganz lieb. Ich hoffe, daß Du bald wieder fast ganz neu bist und daß Du gut in Deiner Wohnung zurecht kommst. Ich hoffe, daß Du fast alles bewegen kannst und daß Du bald wieder aufwachen wirst. Ich will, daß Du wieder ganz von selbst atmest, damit ich wieder mit Dir Ballspielen und Busfahren kann."
In das Bittbuch der Neurologischen Klinik
Bad Aibling eingetragen von Melanie im
Dezember 2004.