0.15 - Berfin. Vor dreiunddreißig Jahren in einem allevitischen Dorf in der Nähe der Stadt Tunceli geboren. Jetzt steht sie in meiner Küche und zerlegt eine Melone in sehr kleine Teile während sie vom Flüchten erzählt, weil sie im Flüchten von einem Land in ein anderes Land eine tatsächliche Expertin ist. Immer wieder macht sie kurze Pausen, spielt mit ihrem Haar, schweigt oder summt vor sich hin. Sie sagt, ihr Vater sei bei einer Razzia der türkischen Armee getötet worden, auch ihre Mutter und etwas später, aber noch am selben Tag, zwei ihrer Brüder, weswegen sie im Alter von 18 Jahren bei Nacht und Nebel mit ihrer jüngeren Schwester die türkisch-griechische Grenze nahe Ipsala überquerte. „Es war alles dort nicht so gut beleuchtet gewesen, weder Mond noch Sterne am Himmel, aber ich ahne, dass auch im Licht des Tages meine Schwester auf die Mine getreten wäre. Ich musste mich, Du verstehst, sehr auf das Leben konzentrieren, um weitermachen zu können“. Sie besucht also Abendschulen, erlernt zunächst die deutsche, dann die englische, später die französische Sprache, studiert Literaturwissenschaften an drei europäischen Universitäten. „Ich habe viel gelesen, bin in Büchern zu Hause, aber im Winter fehlt mir der Schnee. - In meiner Gegend“, - sie meint das kleine Dorf ihrer Kindheit -, „lag so viel Schnee, dass ich, wenn ich mich auf den Weg zur Schule machte, das Gefühl hatte, ich sei eine Schneeschwimmerin.“ - Jetzt schweigt sie. - Jetzt summt sie wieder.
01.12.2007 07:20:01
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8.15 - MELDUNG. Fünf Kakteen [ Gattung - Copiapoa humilis XD-82 ] haben sieben Uhr zweiundfünfzig MEZ acht Pfund filigranes Stachelhorn auf flüchtende Laboranten geschossen. [ MPI für Biotechnologie, 5th floor : Labor IIId-7 : Level 4 ]
07.12.2007 16:36:13
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1.28 - Gestern Abend in der Dämmerung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gelesen habe, dass auf dem Postamt ein Paket auf mich wartet. Ich bin also los mit meinem Regenschirm, der sehr schöne Geräusche macht, wenn Wasser aus großer Höhe auf ihn herabfällt, und weil es sehr windig war, musste ich den Schirm etwas schräg vor mich stellen, wie einen Schild vielleicht, deshalb habe ich von den Menschen, die mir begegneten nur Schuhe gesehen oder Beine in Strümpfen oder Hosen oder flatternde Mäntel. Sehr seltsam dieser exquisite Blick auf die Werkzeuge des Gehens, sehr seltsam, wie schnell menschliche Wesen sich doch bewegen. Bald war ich wieder auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuchte Schilde, die sich mir entgegen stemmten, darunter Artgenossen, geräuschlos, den Blick auf meine Schuhe geheftet, wie schnell diese Person doch geht oder fliegt. - stop - Nun zu dem, was ich eigentlich erzählen will. Auf meinem Schreibtisch ruht seit sechs Stunden ein fein gestaltetes Buch von rauem, kräftigem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlantik reiste, weswegen es fünf Wochen unterwegs gewesen war, in einem Container vermutlich bei Wind und Wetter, also rollte und übers Wasser schlingerte, auf und ab getragen von sehr hohen und kleineren Wellen. Ich habe lange auf dieses Buch gewartet, eine sehr lange Zeit. Als ich zu warten begann war noch Sommer gewesen und jetzt ist schon Winter geworden. Nun endlich liegt das kleine Buch, das von den Zwillingen Daisy und Violet Hilton erzählt, auf meinem Schreibtisch oder in meiner Küche oder auf meinem Sofa oder auf meiner Brust, wenn ich trotz Begeisterung kurz einmal eingenickt gewesen bin. Da ist eine Bewegung im Halbschlaf, ein kaum wahrnehmbares Schaukeln. Und zwitschernde Mädchenstimmen. Das Nebelhorn eines Dampfers vor Brighton.
12.12.2007 18:35:40
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7.05 - MELDUNG. Seltsame Dinge geschehen in den winterlichen Gärten zu Perugia. Segelfalter der Gattung Iphiclides podalirius 5 haben sich zu Gruppen versammelt, fliegen Formationen, bilden Kugeln, Quader und weitere geometrische Körper. Bei Regen, so heute Morgen geschehen, stellt man exakt gezirkelte Türme in die Luft. Die Stadt wird unter Quarantäne gestellt.
20.12.2007 19:13:19
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18.12 - MELDUNG : Heute, Freitag, 28. Dezember 2007, wurde Käferdame Helena, 12 Gramm, von Käfer Julian, 17 Gramm, erstmals mittels rhythmischer Lumineszenzen in blauer Farbe begrüßt. Sie selbst morst in grünlicher Beleuchtung. 8.15 MEZ : MPI für Biotechnologie, Ungererstr 12, 6. Stock : Labor IIc-8 : Level 4.
28.12.2007 20:41:19
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6.25 - MELDUNG. Junge Engel, Schule zu St. Nazaire, sind heute Abend von 8 bis 9 bei leichter Nachtfliegerei über dem Ahornboden [ Karwendelgebirge ] anzutreffen.
09.01.2008 15:16:31
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3.18 - Erinnerte mich an eine Geschichte, an eine Wüstengeschichte, die von Malcolm Lowry handelt, genauer von seiner Art und Weise zu schreiben und nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben notiert worden war. Malcolm Lowry, so der Erzähler der Geschichte, soll seine Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in Reichweite gewesen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Zugbillets beispielsweise, wenn er in einem Cafe oder in einer Bar Platz genommen hatte, um solange zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken gewesen war damit aufzuhören. - Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in die Wüste oder aufs Meer hinaus getragen worden? Wie viele Bücher haben sich so in Luft aufgelöst? – Ich stelle mir gern vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so : Lowry arbeitet nie wieder mit dem Bleistift. Er notiert seine feinen Gedanken in eine elektrische Maschine, nicht schwerer als eine Apfelsine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von Margerie Bonner, seiner Frau, programmiert und gewartet, verbindet Lowrys persönliches Notiergerät Tastatur und Äther, sobald sich ihr der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Jetzt schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man nun sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird.
20.01.2008 18:18:24
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21.12 - MELDUNG. Gefangen, mit flacher Hand aus dem Luftraum nahe Englischem Theater, ein Abendsegler. Der Künstler, Präzisionsschütze, Kroatien, Hos-Miliz. Begeistert, zur Vorsicht, Lali M., Schönheit, 27, aus Anou Nizzam, südliches Atlasgebirge.
04.02.2008 11:37:19
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1.18 - Einmal, in den Monaten der Vogelgrippe, kam mir bei kleineren Turbulenzen im Gang eines Flugzeuges eine uralte Lady entgegen, deren Gesichtzüge mich sofort an Coco Chanel erinnerten. Sie war von zierlicher Gestalt, trug einen dunklen Mantel, sportliche Schuhe und machte Schritte wie ein Matrose auf hoher See. Vor allem ihr schlohweißes Haar und ihr äußerst willensstarker Blick sind nah geblieben, auch ihr hellrot geschminkter Mund, der mindestens achtzig Jahre alt gewesen sein musste, und doch beinahe wirkte wie der Mund einer jungen Frau. Eines Abends, während ich einer Nachrichtensendung folgte, erinnerte ich mich an diese seltsame Frau, und ich stellte mir vor, wie sie aus der dritten Etage eines Mietshauses in den Keller steigt, um ein Rollwägelchen zu suchen, das sie dort - „für immer“ - abgestellt hatte, nachdem sie beim Einkaufen um ein Haar stürzte. Es ist also früher Morgen, es ist Winter und noch dunkel, als die alte Dame das Haus verlässt. Ich sehe sie mit vorsichtigen Schritten in ihrem dunklen Mantel und Winterstiefeln über die Strasse gehen. An der ersten Ampel biegt sie nach links ab, überquert einen Platz, folgt einer weiteren schmalen Straße, jetzt ist sie vor einem Supermarkt angekommen. Sie stellt ihr Rollwägelchen in der Nähe der Kasse ab, geht in die Getränkeabteilung und nimmt eine Flasche Wasser aus dem Regal. Sie trägt die Flasche zu ihrem Wägelchen, kehrt zurück, nimmt sich die nächste Wasserflasche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägelchen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heimweg über die Straße gezogen wird. - Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hauses angekommen. - Jetzt stellt sie das Wägelchen neben die Treppe, die zur Haustüre führt. - Jetzt ist sie mit einer der Flaschen im Haus verschwunden. - Zehn Minuten vergehen. Dann erscheint sie wieder auf der Strasse. Sie hat ihren Mantel ausgezogen, trägt eine graue Jacke und Sportschuhe. Kurz, für zwei oder drei Sekunden, hält sie sich am Geländer der Treppe fest.
25.02.2008 13:19:28
feuer nelke zeit
Folgendes. Immer gegen 8 Uhr in der Früh brechen wir auf, Georges und ich. Wir gehn ein paar Schritte über die Rue de Javel, nehmen die 6er Metro durch den Süden, steigen dann um in Richtung Porte Dauphin, fahren mal unter, mal über der Erde im Kreis herum, bis es Abend oder noch später geworden ist. So kann man gut sitzen, zufrieden, durchgeschüttelt, Seite an Seite für viele Stunden, und Menschen betrachten, wie sie hereinkommen, Fahrgäste, wie sie im Waggon Platz nehmen, wie sie beschaffen sind, davon legen wir Verzeichnisse an, Georges ein Verzeichnis, und ich ein Verzeichnis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Verzeichnis aller Erscheinungen eines Raumes anzulegen, der nicht gerade erfunden wird, eines Raumes, der sich fortbewegt, der betreten und verlassen wird von Menschen im Minutentakt, das Verzeichnis eines Raumes, dessen Fenster sich von Sekunde zu Sekunde neu bespielen, weil es also unmöglich ist, das Verzeichnis eines wirklichen Raumes anzulegen, machen wir das so : in der ersten Stunde des Reisetages notieren wir ein Verzeichnis der zugestiegenen Krawatten, in der zweiten ein Verzeichnis der Schuhe und der Strümpfe, ein Verzeichnis, sagen wir, der Gehwerkzeuge und ihrer Bekleidung, dann ein Verzeichnis der Haartrachten, der Taschen, der Methoden sich im fahrenden Zug einen sicheren Stand zu verschaffen, der Gesprächsgegenstände, der Art und Weise sich zu küssen, zu streiten, oder aber ein Verzeichnis abseitiger Gestalten, ein Verzeichnis der Diebe, der Bettler, der Posaunisten, der Verwirrten ohne Ziel, je ein Verzeichnis der Sprachen und kleiner Geschichten, die wir aus der allgemeinen Bewegung zu isolieren vermögen. Von Zeit zu Zeit, während wir so fahren und notieren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Georges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel verschluckt, als lache er nur deshalb, weil er Mademoiselle Moreau wieder freilassen wolle. Dann weiß ich, Georges hat etwas gefunden, das er mir abends in irgendeinem Cafe, wenn wir fertig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser beider Köpfe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen aufbewahren lässt, vortragen wird, - „ Auf Krawatte gelb, zehnzwei, lebende Ameise, argentisch, kreuz und quer. Der Codename Servals war Louviers“, sagt Georges und hebt sein Glas. Fünf Gläser Pastis, fünf Gläser Wasser, - dann sind wir wieder leicht geworden, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, nehmen wir den letzen Überlandzug nach Norden oder den 11er nach Süden, dorthin, wo die Feuernelken blühn, und wenn es endlich Morgen geworden ist, steigen wir um, öffnen die Fenster und fahren nach Westen in unserer Windmaschine spazieren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewitter aufsteigen und Schwefel vom Himmel kommen und weißes Licht, das die Landschaft entzündet. So haben wir schon sehr schöne Gedanken über das Feuer gefangen und über das Schlagzeug in diesem gewaltigen Raum, der über uns hängt, einem Raum, dessen zentrales Verzeichnis von nicht menschlichen Maßen ist, so dass wir bald nur schweigen und auf entfernte Menschen schauen, auf Szenen im rasenden Vorüberkommen, auf Filme, die in unseren hin und her hastenden Augen derart kurze Filme sind, dass sie einer Fotografie sehr nahe kommen, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbewegt. Es ist ganz so, als würden wir an einer gewaltigen Aufnahme der Zeit vorüberkommen, an einer Fotografie, deren Gegenwart wir nicht berühren, weil wir nicht aussteigen können, ohne das Leben zu verlieren, weil wir zu schnell sind, weil wir in einer anderen Zeit sind.
koffertext - überarbeitet 2.3.2008 : - 15 Wörter
02.03.2008 14:52:20
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0.02 - Machte mich auf die Suche nach Spuren Benny Goodmans in den Google – Archiven. Hörte, er solle sehr heimlich in einem hölzernen Haus im Staate Louisiana leben mit einer Krankenschwester und einer Band uralter Männer. Anstatt einer Waldspur Benny Goodmans folgende wunderbare Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda entdeckt, die von einer seltsamen Blume handelt: „Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: - Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt.“ | stop | Regen. | stop | Habe seit Stunden ein sehr feines Lachen in meinem Ohr. - Ist es vielleicht möglich, das Geräusch fallenden Schnees zu malen?
07.03.2008 10:50:51
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0.12 - Am späten Abend, um 22 Uhr und 28 Minuten präzise, verzeichnet der Google – Index 2.850.000 Ergebnisse für die Suche nach Albert Camus in 0,15 Sekunden und für das Wort Sonne 31.500.000 Einträge in 0.03 Sekunden. Ist es Menschen möglich einen Zeitraum von 0.15 Sekunden vorzustellen? Könnte ich, wenn ich übte, ein Gefühl entwickeln für die Zeitdifferenz zwischen 0.15 Sekunden und 0.03 Sekunden? Wie lange Zeit müsste ich mit lauter Stimme sprechend zählen, bis ich die Zahl 850.000 erreicht haben würde? Könnte ich soweit zählen, ohne einmal schlafen zu müssen? – Kurz nach Mitternacht. Ich scanne die Fotografie einer indischen Frau, die vielleicht nie erfahren wird, dass die Aufnahme ihrer Person unter der Bezeichnung darjiling.gif der Elektrosphäre zugefügt worden ist. - Das feine Geräusch der Motoren, die den Lichtschlitten ziehen. 7 Uhr 28 in Tibet. Lhasa.
17.03.2008 21:05:35
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5.10 - Lieber James Salter, als ich heute Nacht am Schreibtisch saß und in Ihren wunderbaren Erzählungen las, habe ich eine kleine Spinne bemerkt, die mich beobachtete, jawohl, sie saß auf dem Feinsten der Blatthaare eines Elefantenfußbaumes, der neben meiner Computermaschine steht, und beobachtete mich aus mehreren winzigen schwarzen Augen, und ich habe überlegt, was dieses Wesen wohl in mir sieht und für einen kurzen Moment habe ich darüber nachgedacht, ob Spinnen vielleicht hören, - ich lese oft laut vor mich hin, das sollten sie wissen -, und ich wunderte mich, dass ich so viele Jahre gelebt habe, ohne der Frage nachzugehen, ob Spinnen über Ohrenpaare oder doch wenigstens über einen zentralen Gehörgang, wo auch immer, verfügen. Ich saß also am Schreibtisch und las und die kleine getigerte Spinne, von der ich Ihnen erzähle, seilte sich zur Tastatur meiner Computermaschine ab. Ich hatte den Eindruck, dass ihr diese Luftnummer Freude machte, weil sie ihre Landung immer wieder hinauszögerte, indem sie den Faden, der aus ihr selbst herausgekommen war, verspeiste, demzufolge verkürzte. Vielleicht hatte sie bemerkt, dass ich sie betrachtete, das ist denkbar, weil ich aufgehört hatte, laut zu lesen für einen Moment, um nachzudenken, vielleicht wollte sie, um sich mir darzustellen, auf meiner Augenhöhe bleiben. Das war genau in dem Moment als Marit nach ihrer letzten Nacht auf unsicheren Beinen die Treppe heruntergekommen war, Marit, die doch eigentlich seit Stunden schon tot gewesen sein musste. Marit setzte sich auf eine Treppe und begann zu weinen. Sicher werden Sie sich erinnern an Marit, wie sie auf der Treppe sitzt und weint, weil sie wusste, dass sie eine weitere letzte Nacht vor sich haben würde. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pause gemacht, weil ich erschüttert war, weil das Gift nicht gewirkt hatte. Ich saß vor meinem Schreibtisch und überlegte, ob auch sie, James Salter, erschüttert waren, als Marit so langsam, auf unsicheren Beinen die Treppe herunterkam. Und während ich an Sie und Ihre Schreibmaschine dachte, beobachtete ich die Spinne, die mit ihren sehr kleinen Beinen, den Faden, an dem sie hing, betastete. Ist das nicht ein Wunder, eine Spinne wie diese Spinne? Haben Sie schon einmal bemerkt, dass es nicht möglich ist mit einer elektrischen Schreibmaschine zwei Buchstaben zur gleichen Zeit, also übereinander, auf das Papier oder den Bildschirm zu schreiben? Immer ist einer vor, niemals unter dem anderen. Mit herzlichen Grüßen. Louis.
27.03.2008 16:38:00
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18.15 - Eine U-Bahnlinie soll einmal vor langer Zeit Europa verbunden haben mit dem nordamerikanischen Kontinent. Sie folgte dem 55. Breitengrad unter atlantischen Gesteinen, nahe Bryant Park, Manhattan, stieg man zu. Dann fuhr man los. Man fuhr zwei Tage und drei Nächte, Zeit, viel Zeit, Geschichten zu erzählen. Wenn Nacht geworden war unter dem Meeresboden, schlief man auf Hängematten gebettet tief und fest, war wieder Tag geworden, saß man plaudernd vor den Fenstern zu den Steinen. Am letzten Abend der Reise endlich wurde getanzt bis spät in die Nacht. Schon mitteleuropäischer Zeit, servierte man über offenen Feuern gebratene Täubchen. Die waren prall gefüllt mit Karpfenzungen. Dann war’s fünf und Morgen über Budapest. Metro Vörösmarty tér stieg man aus und jeder ging seiner Wege. – 2 Uhr 25 in Tibet. Lhasa.
03.04.2008 16:42:53
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6.45 - Gestern, am späten Abend, habe ich einen kleinen Text über Hände geschrieben. Weil ich einen Text über Hände und Finger notierte, beobachtete ich, während ich schrieb, meine eigenen, arbeitenden Hände und Finger, wie sie die Tastatur der Maschine bedienten, ohne dass ich ihnen bewusst Anweisung erteilte. Einmal konnte ich nicht weiter und deshalb machte ich eine kleine Pause und betrachtete zunächst meine linke, dann meine rechte Hand. Sie ruhten Seite an Seite auf der Tastatur der Maschine und warteten. Sie warteten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktieren würde, was aufzuschreiben ist. Ich könnte jetzt vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warteten, mein Gedächtnis zu entlasten, weil ich alle Sätze, die ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, kurz zuvor in meinem Kopf ausgedacht oder erinnert habe, aber ich habe, was ich schrieb, nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich wusste und weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notiere und notierte. Ich betrachtete also meine Hände und weil ich sehr lange Zeit nicht weiter wusste in meinem Text, habe ich in Natalie Sarrautes wunderbarem Buch Kindheit gelesen. Nach einer Stunde schaltete sich mein Computer aus und ich konnte auf dem Bildschirm folgende Zeile lesen : no signal. going to sleep.
09.04.2008 17:07:53
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1.05 - Auf Haiti, einer Insel, essen Menschen, sobald sie ein Gefühl des Hungers verspüren, Plätzchen, das heisst, sie essen sonnengetrocknete Scheiben von Lehm, der mit Magerine und einer Hand voll Salz in Metallfässern verrührt worden ist. Dann haben die Menschen Schmerzen, aber keinen Hunger für drei Stunden. Wenn sie auf die Strasse gehen, um der Welt von ihrem Hunger, der bald wiederkommen wird, und ihren Schmerzen im Bauch zu erzählen, werden sie von Soldaten der UN und Polizisten ihres Landes erschossen. | stop | Von meinem Fernsehbildschirm abgenommen. | stop | 20 Uhr 12 Minuten in Port-au-Prince, Ayiti.
22.04.2008 17:05:18
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0.02 - In einem Reisebericht notiert Ludwig Hohl : 8 Uhr 30. Meer. - Meer leer. | stop | Beobachtungszeit = Belichtungszeit. | stop | In der vergangenen Nacht wieder den Traum vom Mann gemacht, der vor einem Aquarium sitzt und einen Schwarm dunkelblauer Fische betrachtet. Als ich hinzutrat, hörte ich, dass der Mann mit leiser Stimme Zahlen flüsterte. Ich fragte ihn, was er denn berechnen würde, und der Mann antwortete, dass er die Fische zähle, dass er sich nicht sicher sei, ob es sich bei dem Schwarm blauer Fische, um einen Schwarm aus 1556 oder aus 1557 Einzelpersonen handele. | stop | Ist das wilde Spiel der Polarlichter am Himmel aus einer Tiefe von 70 Metern unter der Meeresoberfläche vor Neufundland noch zu erkennen?
28.04.2008 15:50:36
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0.25 - Verehrter Mr. Flaubert, gestern, am späten Nachmittag, knisterte ein feiner Regen ans Dachfenster meines Zimmers und ich habe mich auf den Rücken gelegt und ihr ägyptisches Reisetagebuch geöffnet, eine sehr feine Arbeit, detailliert, das Abschiednehmen, ihre langsam vorausreisenden Koffer. Während Sie gerade an Bord der Canja Memphis passierten, bin ich eingeschlafen, vielleicht weil ich müde war von einer viel zu kurzen Nacht. Als ich wieder wach wurde, knisterte der Regen noch immer gegen das Fenster, und ich erinnerte mich, ihnen erzählen zu wollen, dass ich seit vorgestern, 15 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, Augenpaare sammle, die meine elektrische Seite besuchen. Vermutlich werden Sie mich für einen seltsamen Vogel halten, weil ich Augen paarweise zähle, ihre Existenz und woher sie kommen und welche Brillen sie tragen und die Zeit messe, die sie mit meinen Wörtern verbrachten. Gestern Abend um 22 Uhr 17 Minuten und 11 Sekunden hatte ich Besuch aus Shanghai. In großer Entfernung lurten also ein Paar Augen, verweilten, kaum zu glauben, sechs Sekunden auf meinen Zeilen, dann waren sie wieder weg. Ich habe mir gedacht, dass diese hastigen Augen vielleicht meine Schriftzeichen nicht entziffern konnten, dass sie deshalb nur zwei oder drei Atemzüge lang bei mir verweilten. Ja, lieber Flaubert, das könnte sein, nein, ich hoffe, dass es so gewesen ist. Später Abend schon wieder. Werde jetzt weiter lesen in Ihrer ägyptischen Reise, während die Augenzählmaschine arbeitet, ohne dass ich mich auch nur einmal für sie bewegen müsste. Ihr Louis, mit allerbesten Grüßen.
02.05.2008 10:43:03
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3.26 - Das Seltsame an den Nachtbüchern ist, dass man sie nur nachts und nur unter freiem Himmel lesen kann. Ich war deshalb bis kurz nach Zwei im Palmengarten am See und hörte den Spinnen zu beim Seilen, und lauschte den Panthern bei leiser Fresserei und anderen angenehmen Dingen, die man so macht, wenn man bemerkt, dass man ein Panther geworden ist in einer Vorsommernacht. Dann ging ich nach Hause und legte das Nachtbuch, das von einer Chinesin erzählt, die sich wundert, dass sie eine Chinesin ist, ins Regal zu den anderen Nachtbüchern zurück. Sitze jetzt auf dem Sofa und die Fenster sind weit geöffnet und ein Falter flattert in einer Lampionlampe herum und notiere eine kleine wilde Geschichte. Diese Geschichte geht so: Irgendwann, sagen wir im Sommer, sagen wir morgens. Ein Spieler steht am Fenster. Er schaut in Richtung des gegenüberliegenden Hauses. Die Sicht ist gut. Kein Nebel. Kein Dunst. Ein oder zwei Vögel, Laternenhöhe, auf und ab. Jetzt richtet der Spieler den Revolver gegen die Schläfe. Alle Kammern der Waffe sind munitioniert. Der Spieler wartet ab. Glühender Kopf. Film zurück, mal bunt, mal nicht. Brillanter Streifen. Verlässt ein Mann das Haus, schießt sich der Spieler eine Kugel in den Kopf. Game over. Ende. Fin. Verlässt eine Frau das Haus, hat der Spieler einen Tag gewonnen. Es ist dann ein Tag leichten Genießens, ein Tag aber auch der Unruhe sobald Abend geworden ist. Jetzt schläft der Spieler. Dann wacht der Spieler auf. Wieder steht er am Fenster, wieder ist früher Morgen und wieder ist Sommer. Die Maschine lässt sich nicht anhalten, auch die Zeit nicht, - Revolver gegen Stirn. Entweicht dem Haus eine Katze, wird eine Kugel entnommen. Jede weitere Katze entnimmt der Revolvertrommel eine weitere Kugel. Sechs Katzen bedeuten eine Frau. Frauen und Katzen bringen Glück. Natürlich lässt sich das unendlich verfeinern. Eine rote Katze erzwingt eine zweite Aufführung noch an demselben Morgen. Kommt ein Nashorn aus dem Haus, hört der Spieler für immer auf zu spielen. Ein Nashorn mit drei Hörnern und der Spieler wird Priester. Wir sehen, die Bedingungen des Spielers ein Priester zu werden, sind eindeutig definiert. Kein Entkommen. Kein Ausweg. Ein Liebhaber konzentrierten Lichts. Cinema Paradiso.
10.05.2008 17:47:52
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0.01 - Entdeckte während eines Spaziergangs im Eingangsbereich einer luxuriösen Wohnanlage eine Regenmaschine. Eine Regenmaschine, werden Sie vielleicht fragen, was ist denn das? Nach Beobachtung, - eine halbe Stunde -, lässt sich Folgendes notieren. Eine Regenmaschine regnet je für drei Sekunden genau dorthin, wohin ein ordentlicher Regen, der vom Himmel kommt, nicht fallen kann, weil ihn ein Dach, beispielsweise, daran hindert. Eine Regenmaschine hingegen regnet auch unter Dächern oder in Hauseingängen oder in Wohnungen, und auch dann, wenn es gerade einmal nicht vom Himmel regnet, regnet sie im Takt einer Minute. Dieser Regen einer Regenmaschine, wie ich sie vorgefunden habe, ist also ein besonderer Regen, ein Regen, der sich gegen Personen richtet, gegen Straßenbürger, gegen Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf. Organisierter Regen, sagen wir, Regen gegen den Schlaf und diese Dinge