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Das Irrationale im Rationalen

Die Fotografien von Bernd und Hilla Becher sind so objektiv, sachlich und
dokumentarisch wie sentimental. Von naturwissenschaftlichen Analogien über den
kulturhistorischen Wert ihrer Arbeit wurde den Bechers mittlerweile alles zugesprochen.
Fest steht aber eins: Ihre Bilder sprechen für sich selbst.

Von Reinhard Winkler
(06. 08. 2007)

...



Reinhard Winkler
winkler.hawelka [at] aon.at

geboren 1965, Studium der
Germanistik und Geschichte
in Salzburg. Lebt und arbeitet
als Pressefotograf in Linz.
Freier Mitarbeiter der Ober-
österreichischen Nachrichten
und des Spotz-Magazins. Redaktionsmitglied der
Aurora.

 

 


(c) WDR

Bernd Becher,
(1931-2007) studierte
von 1953-1956 Malerei an
der Kunstakademie Stutt-
gart und von 1958-1961
Typografie an der Kunst-
akademie Düsseldorf.

 


(c) WDR

Hilla Becher,
geboren 1934 in Potsdam,
kam nach einer Ausbildung
als Fotografin 1958 an die
Kunstakademie Düsseldorf,
wo sie eine Fotografieab-
teilung aufbaute.

 

Biographie

Seit Anfang der 1960er Jahre
arbeitete das Künstlerehepaar
systematisch an einem foto-
grafischen Archiv industrieller
Bauten. Ausgehend von Indus-
triearchitektur (und Wohn-
häusern) im Siegener Gebiet,
im Ruhrgebiet und den Bene-
l
uxstaaten dehnten sie ihren
Tätigkeitsbereich auf die USA
und seit 1989 auch auf Osteu-
ropa aus. Die einzelnen Ob-
jekte – Wasser- und Förder-
türme, Gasometer, Hochöfen,
Fabrikhallen u. ä. – werden in
einem diffusen Licht von erhöh-
tem Standpunkt mit einer
Großformatkamera aufge-
nommen und in typologischen
Reihen und Tableaus präsen-
tiert. In den 1970er Jahren,
nach ihrer ersten Buchveröf-
fentlichung ("Anonyme Skulp-
turen. Eine Typologie techni-
scher Bauten", Düsseldorf
1970) wurden Bernd und Hilla
Becher gleichermaßen in den
Diskurs der Concept Art und
Minimal Art als auch in den
Kontext künstlerischer Doku-
mentarfotografie integriert
(vgl. die Ausstellung "New
Topographics"); ihr Anliegen
blieb jedoch ein primär dokum-
entarisch-archivalisches: das
der Bewahrung und Überlie-
ferung von Relikten einer
bereits vergangenen Indus-
triekultur.

Die konzeptionelle Arbeits-
methode des Ehepaars übte,
nicht zuletzt durch Bernd
Bechers Lehrtätigkeit an der
Düsseldorfer Kunsthochschule
(1976–1996), großen Einfluss
auf mehrere Generationen
von Fotograf/innen aus (bei
Becher studiert haben u. a.
Andreas Gurksy, Thomas Ruff,
Jörg Sasse), so dass von
einer "Becher-Schule"
gesprochen wird.
(Quelle: Medienkunstnetz.de)


Linktipp

Nachruf auf Bernd
Becher in der
FAZ.


Buchtipps
 

Bernd/Hilla Becher.
Hochöfen.
Verlag Schirmer/Mosel,
2002. 272 S.
ISBN:
3888143527

 

Rolf Sachsse.
Silo für Kokskohle/Zeche Hannibal/Bochum-
Hofstede, 1967
.
Fischer, 1999, 71 S.
ISBN:
3596118700

   Kein Foto eines Förderturms der Bechers ist wie das andere. Jedes einzelne ist maßgeschneidert und dem dargestellten Objekt angepasst. Dinge, die mit den abgelichteten Fördertürmen nicht unmittelbar zu tun haben, findet man in den Fotos relativ selten.

Die Fotografien von Bernd und Hilla Becher sind den Gegenständen, die sie zeigen, so nahe, wie es das Medium Fotografie zulässt. Und kein Medium zeigt Wirklichkeit präziser als Fotografie:

"Ein industrieller Großbau bezieht seine Faszination aus der Präzision. Hinter dem wilden Gewirr aus Röhren und Eisenkonstruktionen verbirgt sich eine weder zeichnerisch noch malerisch authentisch darstellbare Präzision."

Und weiter: "Je präziser die Päzision der Gegenstände abgebildet wird, desto stärker ist ihre magische Wirkung." Wem das zu kompliziert ist: Es geht nur darum, den Motiven fotografisch gerecht zu werden.

   Nachdem ich in der Landesgalerie Linz lange und konzentriert die unüberschaubare Anzahl an Fotos von Fachwerkhäusern und, parallel dazu, der Zeche Concordia von Bernd und Hilla betrachtet hatte, die in begleitenden Texten als "reichhaltig, immer wieder neu einnehmend an Blickwinkeln, einladend zur Reflexion ästhetischer, geschichtlicher und technischer Momente" usw. rezensiert werden, und die doch letztlich, also im Grunde ihres Zeigens, nichts als und vor allem Fachwerkhäuser, und parallel dazu, nichts als und vor allem Fördertürme, Fördermaschinenhallen, Aufbereitungsanlagen, Wasserbehälter, Kokskühltürme, Koksofenbatterien, Schwachgasgeneratoranlagen, Teleskopgasbehälter und Nebengebäude der Zeche Concordia präsentieren, sah ich durch eines der großen Fenster des Landesmuseums unten auf der Straße ein Mädchen mit Kirschen zwischen den Fingern, die sich im nächsten Moment, als das Mädchen die Beifahrertür eines alten Autos öffnete, als Autoschlüssel entpuppten. Oder habe ich dieses Bildchen in einem Buch von Peter Handke gelesen?

Wieviel Schärfe verträgt das Auge?

Es ist eine Art von Pedanterie des Blicks, die sich da in den weitläufigen Räumen der Landesgalerie auftut, in der alle Details auf allen Betrachtungsebenen verschwimmen, weil die Welt oder zumindest jener Ausschnitt von ihr, den uns die Bechers präsentieren, bis zur Durchsichtigkeit deutlich wird. Und da gibt es mehrere Ebenen des Betrachtens: die Industriearchäologie, die Architektur, die Ingenieurskunst, die Wissenschaft und schließlich den großen Bereich der Kunst. Weiters: Jedes Bild steht für sich selbst. Je drei bis sechs Bilder sind in Gruppen zusammengefasst, die wiederum als ein Bild lesbar sind. Und letztlich ist die gesamte Ausstellung ein System zusammengehörender Fragmente: Dietmar Tollerian, Architekturfotograf, mit dem ich die Ausstellung im Landesmuseum besuchen durfte, nennt diese Möglichkeit des vergleichenden Sehens: Matrix.

   Zwei Zitate der Bechers aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und zu einem hübschen Widerspruch gegenübergestellt:

"Wenn man etwas frontal fotografiert, schafft man damit die größtmögliche Präsenz, und die Gefahr, dass man subjektiv ist, ist so am geringsten. Wir brauchen Klarheit, keine Sentimentalität."

Der Industriebau als Jetzt-Gegenstand. Die Bechers waren stark genug und ließen sich nicht ablenken von den Unzeit-Gegenständen, die, wie die Schlagzeilen und Reklametafeln der Wirtschaftswunderzeit, nichts tun, als ins Auge zu springen. Die Jetzt-Gegenstände, Motive abseits dessen, was allgemein als Sehenswürdigkeit gilt, stehen freilich nicht von vornherein frei da man muss sie angehen. Am besten frontal.

Andererseits:

"Wir waren all die Jahre von Verlustängsten getrieben. Es war für mich das auslösende Erlebnis, im Siegerland, wo ich aufgewachsen bin, zu sehen, dass die Anlagen, welche die Mentalitöt der Gegend prägten und dort die Basis für die Wirtschaft bildeten, allmählich verschwanden. Die Erzbergwerke und Hochöfen waren das Herz der Gegend. Dieses Erlebnis des Verschwindens war der Auslöser für alles weitere."

   Diese beiden Aussagen beschreiben das Paradoxon der Becher'schen Arbeit. Ihre Fotografien sind so objektiv, sachlich und dokumentarisch wie sentimental: An den einstigen Orten und Stätten ihrer Kindheit, der Zeit der äußersten Langeweile, erlebten sie, erwachsen geworden, ihr tiefstes Daseinsglück: Fotografisch hielten sie Objekte fest, die das Bild ihrer ersten Lebensjahre bestimmten, und sie hielten sie in einer Zeit fest, als diese Objekte endgültig von der Bildfläche zu verschwinden begannen.

"Einmal waren wir in Nordfrankreich, wo wir einen wunderbaren Förderturm gefunden hatten. Als wir dort ankamen, war das Wetter diesig und das Licht nicht perfekt, so dass wir uns entschieden, die Aufnahem um einen Tag zu verschieben. Aber als wir am nächsten Tag wiederkamen, war der Förderturm abgerissen, der Staub lag noch in der Luft."

Vielleicht ist also das Wesen dieses fotografischen Werks ein Widerspruch. Das Beschreiben ohne Enthusiasmus. Ein Foto zeigt einen  Förderturm. Na und? Aber hat Fotografie ihren Zweck nicht genau dann erfüllt, wenn ich zu dem, was am Foto zu sehen ist, sagen kann: "Na und?" Die Schwäche der Fotografie, dass sie "nur" Wirklichkeit ablichten kann, ist ihre Stärke.

"Über die Dinge und nicht mit den Dingen Bilder machen", so formulierte Heinrich Riebesehl, Kollege und Zeitgenosse der Bechers, sein fotografisches Programm. Ein Leitsatz, der auch auf die Bechers übertragen werden kann. Die Bechers fotografierten in der Tradition des beginnenden 20. Jahrhunderts. Allerdings stand der Raum, in den die Fotografen August Sander oder Eugène Atget hineinfotografieren konnten, im Großen und Ganzen frei; die Bechers mussten sich diesen Raum 60 Jahre später erst fotografisch schaffen, ihn sich wieder holen; in den 60er Jahren, der Blüte der subjektiven Fotografie, standen sie mit ihrer Ästhetik in Opposition zum Zeitgeist.

   Die Festlegung auf das Kameraformat, die statische Arbeit vom Stativ, kontinuierliche Lichtverhältnisse, die frontale Erfassung der Objekte, der leicht erhöhte Aufnahmestandpunkt, die Übertragung architektonischer Gesetzmäßigkeiten auf den Bildaufbau und schließlich die Entscheidung für Schwarz und Weiß. "Fotografische Inszenierung" kann auch heißen: sich den Spielraum eng stecken, der Fotograf nimmt sich zurück und lässt die Objekte für sich selbst sprechen.

Erst die endlosen Serien wurden vom allgemeinen Kunstverstand schließlich als "Konzept" und also Kunst rezipiert. Hilla Becher bezeichnet Wiederholung und die Variationen der Wiederholungen als "Musik". Die Ähnlichkeiten der Objekte sind groß. Erst wenn sie eng beieinander stehen, sieht man die feinen Unterschiede, Eigenheiten. Noch einmal ein kleiner poetischer Einschub von Peter Handke:

"Von der öden Wiederholung zur seligmachenden Wiederholung: die Freude des Wiederholens wird erst möglich, wenn ich, ins Ungewisse aufgebrochen, ratlos bin."

   Um das Paradoxon weiterzuspinnen: die Konsequenz, mit der die Bechers ihre Objekte ablichten, ist Manie und Disziplin, unendliches Fernsehen und Nahsehen in einem. Jede Gruppe von Bildern bringt Ordnung und Chaos zum Ausdruck, die Stringenz der Verschiedenartigkeit genau so wie die Unübersichtlichkeit der Vielfalt.

Von naturwissenschaftlichen Analogien über den kulturhistorischen Wert ihrer Arbeit wurde den Bechers mittlerweile alles zugesprochen. Und auch dass die Bilder über sich hinausweisen, behauptet ein ansonsten hervorragender Bild- und Interviewband von Susanne Lange mit drei melodramatischen Pünktchen im Titel: "Was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen ..."

Sind die Motive der Bechers also Objekte einer Handlung oder nur Passanten der Geschichte? Ist das die der Wirklichkeit entsprechende Fotografie? Vielleicht so: Die Bilder erzählen keine schöngeistigen Geschichten, sie beschreiben eine Vielzahl von Passanten im Lauf der Welt, und diese Beschreibungen stehen für sich und leuchten. Dazu die Bechers: " Es geht uns darum zu zeigen, dass es in der Welt der Industrie Aspekte gibt, die nicht rational sind. Dass etwas, das rational oder funktional beginnt, irrational enden kann."

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