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"...und dann ist der Kern zerplatzt"

Lise Meitner und Otto Hahn spalten das Atom
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(c) Zeichnung von Carola Schramm, Hahn-Meitner-Institut Berlin

Von Franz Wagner
(21. 10. 2003)

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Franz Wagner, Aurora-Redaktion

Franz Wagner

ist Redakteur des
Aurora-Magazins.
 

 

 

 

 

 



Lise Meitner
(1878 - 1968)

  Am 6. August 1945 explodiert eine Uranbombe mit der Sprengkraft von 12,5 Kilotonnen TNT über Hiroshima. Mehr als 100.000 Menschen sterben unmittelbar an den Folgen der Detonation, weitere hunderttausend in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten. Drei Tage später öffnet sich die Abwurfklappe einer B-29 ein zweites Mal und lässt "fat man" in die Tiefe fallen. Druck, Hitze und Radioaktivität verwandeln Nagasaki innerhalb von Sekunden in eine Wüstenlandschaft. Noch einmal 70.000 finden den Tod. Unauslöschliche Bilder brennen sich ins Gedächtnis der Überlebenden:

"Ich ging zur nächsten Ecke, und dort stand eine Straßenbahn. Ich ging hin und schaute hinein. Sie war vollbesetzt, und die Haltung der Menschen war ganz normal. Sie saßen oder sie standen und hielten sich an Bügeln fest, genau wie in den Augenblicken vor der Explosion. Nur dass sich alle in dieselbe Richtung lehnten – weg von der Detonation. Und alle waren schwarz verkohlt, ein rötliches Schwarz, und sie waren starr und steif."

"Da starker Wirbelsturm herrschte, begannen sich halbnackte und splitternackte Körper zu bewegen, dunkel gefleckt und blutüberströmt; zu Gruppen zusammengeschlossen wankten sie, wie die Geister der Verstorbenen, davon, um in wirrer Flucht dem Inferno zu entgehen. Einer nach dem anderen fiel zu Boden und starb; ... so schlimm waren sie verbrannt, dass die Haut sich abschälte und aus dem rohen Fleisch der Hände und Arme Blut sickerte und tropfte. Sie glichen Gespenstern."

   Schon einen Tag nach Bekanntwerden der schrecklichen Ereignisse, die das japanische Kaiserreich kurze Zeit später zur Kapitulation zwingen sollten, fielen Reporter und Fotografen in den kleinen schwedischen Ferienort Leksand ein und belagerten dort das Hotel von Lise Meitner, einer 67jährigen Physikerin aus Österreich, die schon 1938 vor den Nazis nach Schweden geflüchtet war und seitdem in der physikalischen Abteilung des neu gegründeten Nobel-Instituts in Stockholm arbeitete. Nach sieben einsamen Jahren Exil, in denen sich Meitner mehr als einmal heimatlos und isoliert empfunden hatte und sich über das "Gefühl des absoluten Alleinseins" beklagt, ist sie schockiert über den überraschenden Ansturm der Reporter, die sich nicht davon abhalten lassen, "lächerliche Schnappschüsse" von ihr zu machen.

Entsetzt bricht sie ihren Urlaub ab und versucht, die wartende Presse hinter sich zu lassen. Allerdings mit wenig Erfolg. Am Tag eins nach Hiroshima ist die Weltöffentlichkeit begierig zu erfahren, wer den entscheidenden Schritt zur Entwicklung einer so neuen und furchtbaren Waffe gesetzt hat. Und Lise Meitner, soviel ist zu diesem Zeitpunkt bekannt, arbeitete schon vor 1938 als führende Expertin auf dem Gebiet der Atomforschung und insbesondere der Radioaktivität. Doch weder fühlt sich die frühere Kollegin Otto Hahns informiert genug noch in der Stimmung, um auf die drängenden Fragen der Journalisten einzugehen. Umso schneller tauchen Gerüchte und wilde Spekulationen auf. So schreibt etwa die Stockholmer Zeitung Expressen, dass die "fliehende Jüdin" Meitner mit dem Geheimnis der Atombombe in der Tasche Hitler gerade noch entkommen sei und die Konstruktionspläne den Allierten übermittelt habe. Weitere, noch absurdere Artikel tauchen auf, und bald ist die Physikerin tief empört über den immer dreisteren Erfindungsreichtum der Presse. In einem Brief an ihre Schwester Frida schreibt sie:

"Die unglaublichen Übertreibungen u. die fast durchwegs unrichtigen Darstellungen der meisten Zeitungen haben mich halb krank gemacht. Was sind mir nicht für dumme und taktlose Bemerkungen in den Mund gelegt worden, von denen ich auch nicht eine einzige Silbe gesagt hatte. Reporter, denen ich am Telefon erklärte, ich wüsste von nichts und könnte daher auch nichts erzählen, haben erdichtete spaltenlange Interviews veröffentlicht. Wahrscheinlich ist es kindisch von mir, aber ehrlich gesagt, fühle ich mich durch den Schmutz gezogen."




Otto Hahn

(1879 - 1968)

   Nach einer kurzen Phase allgemeiner Verwirrung ist die Wahrheit aber nicht mehr aufzuhalten: Lise Meitner und Otto Hahn, dem kongenialen Forscherduo am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, gelang gegen Ende des Jahres 1938 die bahnbrechende Entdeckung, dass Atomkerne tatsächlich gespalten werden können. Otto Hahn, der weitaus bekanntere der beiden, ist wegen seiner Mitarbeit am Uranprojekt der Nazis ab Kriegsende als Gefangener in England interniert, doch Lise Meitner kann sich frei bewegen, und sie nutzt die Möglichkeit, ihr Stockholmer Exil zu verlassen und in die USA zu reisen, um auf Einladung der Washingtoner Universität einen Vortragszyklus über Kernphysik zu halten. Wieder wird sie – diesmal am New Yorker Flughafen – von einer Schar neugieriger Journalisten erwartet. Als sie auch hier nach ihrer spezifischen Rolle bei der Entwicklung der Atombombe gefragt wird, stellt sie endgültig klar, dass...

"...ich seinerzeit natürlich keine Ahnung hatte, dass meine rein wissenschaftlichen Untersuchungen zur Konstruktion einer Bombe führen würden. Und als diese Möglichkeit erkannt war, wünschte ich sehr, sie würde nicht realisierbar sein. Jetzt kann ich nur sehnlichst hoffen, dass die Menschen die Mahnung, die in einem so furchtbaren Zerstörungswerkzeug an sie gerichtet wird, nicht überhören werden."

 

 

 

(c) Hahn-Meitner-Institut Berlin

Lise Meitner und Otto Hahn in ihrem Chemie-Labor am Kaiser-Wilhelm-Institut, um 1920

   Meitner hat später noch mit Präsident Truman zu Abend gegessen, ist 1946 von US-amerikanischen Journalisten zur Frau des Jahres gewählt worden, bekam höchste wissenschaftliche Auszeichnungen, darunter den Enrico-Fermi-Preis, die Max-Planck-Medaille oder den Otto-Hahn-Preis für Chemie, nebenbei dutzende Ehrendoktorwürden; nach ihrem Tod ist sogar ein neues Element nach ihr benannt worden. Lise Meitner zeigte sich von alledem nie besonders beeindruckt. Sie blieb in ihrem 90-jährigen Leben immer kritisch und distanziert genug, um sich weder in politischer noch in wissenschaftlicher Hinsicht täuschen oder instrumentalisieren zu lassen; dazu kam ihre Fähigkeit der genauen Beobachtung – nicht nur von physikalischen Messwerten, sondern auch von Menschen. So schätzte sie etwa an Otto Hahn, mit dem sie seit 1907 mehr als dreißig Jahre lang zusammengearbeitet hatte, dessen "fast unzerstörbare Fröhlichkeit und Gemütsart, seine stete Hilfsbereitschaft und seine Freude an der Musik. War er besonders guter Laune, so pfiff er große Teile aus dem Violinkonzert von Beethoven und änderte manchmal absichtlich den Rhythmus des letzten Satzes, nur um über meinen Protest lachen zu können." Nach dem Krieg wird die Physikerin, die weder die Gabe noch die Neigung" hat, "Dinge nicht wissen zu wollen, weil sie zu bedrückend sind", manche Eigenschaften Hahns mit der gleichen Unbestechlichkeit beschreiben:

"Hahn ist über jeden Zweifel ein anständiger Mensch, mit vielen liebenswerten Eigenschaften: nur fehlt ihm die Nachdenklichkeit, und vielleicht auch eine gewisse Charakterstärke, Dinge die in normalen Zeiten nur kleine Schönheitsfehler sind, aber in so komplizierten Zeitverhältnissen, wie sie jetzt herrschen, von tieferer Bedeutung sind."

 

 



Hahn und Meitner im Sommer 1938 am KWI in Berlin kurz vor der Flucht Meitners nach Stockholm

Wie 'kompliziert' diese Zeitverhältnisse tatsächlich waren, erfuhr Meitner noch vor Beginn des Kriegs am eigenen Leib. Als der österreichische Pass der Physikerin durch den Anschluss an Nazi-Deutschland 1938 seine Gültigkeit verliert und sie ab sofort nicht mehr legal aus Deutschland ausreisen kann, verschlechtert sich ihr Status am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut von Woche zu Woche. Der am Institut beschäftigte Chemiker und Nationalsozialist Kurt Hess macht in der Kollegenschaft Stimmung gegen Meitner und spricht gegenüber Otto Hahn, der inzwischen zum Institutsdirektor aufgestiegen ist, davon, dass die Jüdin das Institut gefährde. Nach einer offiziellen Meldung über Meitner ans Reichsministerium für Wissenschaft und Volksbildung verliert Hahn die Nerven und bittet seine Kollegin, von jetzt an nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen. Danach überschlagen sich die Ereignisse. Meitner bekommt Angst vor einer Verhaftung und zieht im Juni 1938 ins Berliner Hotel Adlon, von wo sie sich in großer Eile um eventuelle Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten an ausländischen Universitäten erkundigt. Am 16. Juni erfährt sie von einem offiziellen Telegramm mit folgendem Wortlaut:

"Es wird für unerwünscht gehalten, dass namhafte Juden aus Deutschland ins Ausland reisen, um dort als Vertreter der deutschen Wissenschaft oder gar mit ihrem Namen und ihrer Erfahrung entsprechend ihrer Einstellung gegen Deutschland zu wirken."

Lise Meitner sieht ein, dass sie jetzt nur noch illegal über die Grenze kommen wird, bloß über welche? Als sie nach Tagen der Ungewissheit schließlich das Angebot bekommt, in Stockholm beim Aufbau einer physikalischen Abteilung mithelfen zu können, zögert sie keine Sekunde mehr und wagt – unterstützt duch einige niederländische Kollegen –, am 13. Juli 1938 den Übertritt nach Holland. Von dort besteigt sie Tage später ein Flugzeug in Richtung Dänemark und ist dabei in ständiger Sorge, unterwegs zu einer Landung in Deutschland gezwungen zu sein. Aber alles geht gut. Nach einem kurzen Aufenthalt bei Niels Bohr in dessen Kopenhagener Institut trifft Meitner Anfang August in Schweden ein.



Wilhelm Ostwald
(1853 - 1932)



Ludwig Boltzmann
(1844 - 1906)



Ernst Mach
(1838 - 1916)


Die Vorgeschichte

1897 war Lise Meitner 19 Jahre alt und angehende Maturantin, als die Wiener Universität, in der sie selbst ab 1901 inskribieren sollte, zum Schauplatz für eine erbittert geführte Auseinandersetzung zwischen dem Chemiker und späteren Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald auf der einen Seite und dem 53-jährigen Professor für Physik, Ludwig Boltzmann auf der anderen wurde. Die entscheidende Frage war: Ist unsere Wirklichkeit tatsächlich aus Atomen aufgebaut? Was ist ein Atom überhaupt? Woraus besteht es? Welche Größe und welches Gewicht besitzt es? Ostwald vertrat den Standpunkt, den früher schon sein Wiener Kollege Ernst Mach eingenommen hatte: Der Begriff des Atoms sei für die Physik vollkommen überflüssig, denn bisher habe noch niemand experimentell zeigen können, dass es wirklich existiert. Ludwig Boltzmann, den Lise Meitner während ihres Studiums wegen seines uneitlen und begeisterungsfähigen Charakters sehr zu schätzen gelernt hatte, war dagegen von der Existenz allerkleinster Teilchen überzeugt und führte etwa bestimmte Messgrößen wie Druck, Temperatur und Volumen von Gasen auf Stöße zwischen den beteiligten Atomen zurück.

Freilich reichten theoretische Überlegungen allein nicht aus, um eingefleischte Skeptiker wie Ernst Mach auf seine Seite zu ziehen. Jedesmal, wenn in Machs Gegenwart von Atomen die Rede war, putzte dieser seinen Gesprächspartner mit der nicht besonders freundlich gemeinten Bemerkung herunter: "Habens’ schon eins g’sehn?" Natürlich hatte das Atom damals noch niemand direkt beobachtet, doch deuteten verschiedene empirische Messreihen mit steigender Gewissheit darauf hin, dass das sprichwörtlich "Unteilbare" (griech. atomos) doch nicht nur als Hirngespinst in den Köpfen der Physiker herumspukte.

   Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gingen die Befürworter des Atomismus gewöhnlich davon aus, dass man sich die kleinsten gemeinsamen Einheiten, aus denen sich unsere Welt zusammensetzt, als massive, winzige Kügelchen vorzustellen hatte, in die weder etwas eindringen noch herauskommen sollte. Im Jahr 1896 machte der Franzose Henri Becquerel jedoch eine folgenschwere Entdeckung: Beim Arbeiten mit uranhaltigen Mineralien konnte er eine außergewöhnlich intensive Strahlung nachweisen, die offenbar direkt aus dem Uran zu kommen schien. Sofort tauchte ein ganzes Bündel an Fragen auf: Was war die Ursache für diese Strahlen? Wie lange hielten sie an? Woher bezogen sie ihre Energie? Gemeinsam mit ihrem Mann Pierre fand die aus Polen stammende Marie Sklodowska-Curie dafür eine Antwort, welche revolutionärer nicht hätte sein können: Diese vom Uran ausgehende Strahlung, die von ihr "radioaktiv" genannt wird, hat absolut nichts mit äußeren Einflüssen wie Temperatur, Feuchtigkeit oder chemischer Verunreinigung zu tun; die gemessene Radioaktivität ist vielmehr eine ursprüngliche Eigenschaft des Urans, und sie stammt aus dem innersten der Materie, aus den Atomen selbst. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer erklärt die enorme Bedeutung dieser Entdeckung so:

"Mit der Strahlung konnten auf einmal Atome untersucht werden, es gab einen experimentellen Zugang zu den Bausteinen der Materie, die jetzt nicht mehr unnahbar waren – und nicht nur das: Diese für alle menschlichen Zeiten als unteilbar und unveränderbar geltenden Atome, sie konnten offenbar Energie nach außen abgeben, sie sonderten etwas ab. Sie waren überhaupt nicht unwandelbar, wie man seit der Antike dachte, sie waren vielmehr umwandelbar, und diese Idee gewann an Überzeugungskraft, als die Curies bald feststellten, dass neben dem Uran auch Thorium und andere chemische Elemente radioaktiv sind."

Auch Lise Meitner war fasziniert von den geheimnisvollen neuen Eigenschaften des Atoms, und schon kurz nach ihrer Promotion 1906 – Meitner war erst die zweite Frau an der Wiener Universität, die den Doktortitel in Physik erhielt –, beginnt die junge und auch zwei Jahre später noch immer unbezahlte Assistentin mit ihren ersten Experimenten im Bereich der Radioaktivitätsforschung. Als Max Planck, der Begründer der Quantentheorie, sich kurzfristig in Wien aufhält, um über seine neuesten Erkenntnisse zu referieren, ist die Tochter eines wohlhabenden Wiener Rechtsanwalts derart fasziniert von Plancks Persönlichkeit, dass sie den folgenschweren Entschluss fasst, an dessen Berliner Universität zu übersiedeln, um dort "ein wirkliches Verständnis für die Physik" zu gewinnen. Folgenschwer ist diese Entscheidung deshalb, weil Lise Meitner von der Zeit ihres Aufbruchs im Herbst 1907 bis zu ihrem Tod 1968 nie mehr dauerhaft nach Wien zurückkehren und statt dessen Berlin zu ihrem neuen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt wählen wird.

Marie Curie
(1867 - 1934)

Max Planck
(1858 - 1947)


Das Atommodell nimmt Gestalt an

Als sich der gerade frisch habilitierte Chemiker Otto Hahn im Oktober 1907 auf die Suche nach einem Assistenten für die experimentelle Arbeit mit radioaktiven Substanzen macht, ist die Existenz des Atoms mittlerweile unumstritten. Das 1897 von John Joseph Thompson aufgespürte Elektron und das im Gegensatz dazu positiv geladene Proton sind eindeutig als dessen Bestandteile identifiziert. Noch ist aber nicht bekannt, wo diese Bausteine im Atom platziert sind oder wie sie sich zueinander verhalten. Erst um das Jahr 1912 wird der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford herausfinden, dass die Atome in ihrem Innern fast vollständig leer sind, mit Ausnahme eines im Vergleich dazu winzigen, positiven Kerns, um den sich die Elektronen herum bewegen, nicht unähnlich einer miniaturisierten Ausgabe eines Planetensystems – zumindest der damaligen Vorstellung entsprechend.

Ein Jahr, bevor Meitner und Hahn mit ihrer langjährigen Zusammenarbeit beginnen und in einem ziemlich schäbigen Raum des Kaiser-Wilhelm-Instituts, der früher als Holzwerkstatt gedient hatte, ihre Forschung an radioaktiven Substanzen aufnehmen, löst ein bisher unbekannter Angestellter des Berner Patentamts ein weiteres großes Rätsel des Atoms: Albert Einstein. Am Beginn des Jahres 1906 erscheint ein Nachtrag zu dem wohl berühmtesten Fachartikel der Wissenschaftsgeschichte, welcher drei Monate zuvor unter dem Titel "Zur Elektrodynamik bewegter Körper" bei den Annalen der Physik eingereicht worden war. Als Autor sowohl des vorangegangenen Texts als auch des jetzigen Anhangs stellte Einstein darin die besonders kühne Behauptung auf, dass "jeder Masse eine Energie zukommen muss" – oder populärer formuliert: E = mc2 .

Ernest Rutherford
(1871 - 1937)
 

 

 

Albert Einstein
(1879 - 1955)

 Was Einstein damit ausdrücken wollte, wird später auch am Beispiel der Hiroshima-Bombe wieder deutlich werden: Jede Art von Materie – Steine, Pflanzen, ein Blatt Papier, oder auch der Mensch selbst –, stellt einen ruhenden Speicher riesiger Mengen an Energie dar, die im Normalfall jedoch nicht freigesetzt werden kann, weil die Atomkerne gewöhnlicher Elemente wie Kohlenstoff, Sauerstoff oder Eisen sich unmöglich spalten lassen. Nur ganz wenige, besonders schwere Kerne, wie zum Beispiel der des Urans oder des Plutoniums, sind derart instabil, dass sie unter bestimmten Umständen relativ leicht auseinanderbrechen können. Dadurch wird ein Teil jener Energie frei, die normalerweise die Protonen und Neutronen in ihrem Kern zusammenhält. Multipliziert man nun eine kleine Menge an spaltbarer Materie – die Bombe über Hiroshima kam mit lediglich 25 Kilogramm hoch angereichertem Uran aus – mit der enorm großen Zahl c2, also dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit, entsteht eine ungeheure Menge an Energie. Um beim Hiroshima-Beispiel zu bleiben: Um die Detonationswirkung von 25 Kilogramm spaltbarem Uran mit rein konventionellen Mitteln zu simulieren, wären rund 12 Millionen Kilogramm eines chemischen Sprengstoffs (in der Regel TNT) nötig.

Als Lise Meitner 1909 zu einem Kongress nach Salzburg kommt und Einstein dort seine neue Theorie vorträgt, ist sie "überrascht und überwältigt" von dessen weitreichender Bedeutung: Durch Einsteins Gleichsetzung von Energie und Materie, vor allem aber durch die Erkenntnis, dass derart viel Energie aus einer winzig kleinen Masse entstehen kann, wird Meitner klar, warum Elemente wie Radium, Uran, Thorium oder auch das von ihr und Otto Hahn später entdeckte Proactinium so lange und so intensiv strahlen können, ohne scheinbar den geringsten Verlust an Gewicht zu erleiden. Wie hatte es Einstein formuliert? –

"Gibt ein Körper Energie in Form von Strahlung ab, so verkleinert sich seine Masse um E/c2."

Mit anderen Worten: Ein Brocken Uran auf dem Untersuchungstisch könnte tausende Jahre strahlen und selbst dann wäre erst ein winziger, kaum messbarer Teil seiner Masse in elektromagnetische Energie umgewandelt worden. Einstein, so schien es, hatte offensichtlich den Zugang zu einer schier unerschöpflichen Energiequelle gefunden – was natürlich noch nicht hieß, dass dieses Potential jemals praktisch verwertbar sein würde. Für Ernest Rutherford etwa war der Gedanke von der Nutzbarmachung atomarer Ressourcen über lange Zeit bloß ein "dogs moonshine", eine törichte Spinnerei, die man völlig vergessen konnte. Tatsächlich wusste man auch in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg noch immer viel zu wenig über den inneren Aufbau des Atoms, um sich über irgendwelche „Kernbrennstoffe“ der Zukunft den Kopf zu zerbrechen. Gerade der Atomkern nämlich, aus dem die Strahlung sämtlicher radioaktiver Elemente kommen musste, war bis zum Ende der zwanziger Jahre weitgehend unerforschtes Territorium.

James Chadwick
(1891 - 1974)

Der in England geborene Assistent Rutherfords, James Chadwick, ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken, und nach 15 Jahren intensiver Forschung gelang es ihm 1932, neben dem Proton ein weiteres Teilchen im Kern zu identifizieren: das Neutron. Für die experimentelle Physik war die Entdeckung eines zusätzlichen, diesmal allerdings ungeladenen Materiebausteins ein seltener Glücksfall. Denn schon bald erkannte Enrico Fermi – der italienische Wissenschaftler wird ein Jahrzehnt später für den Bau des weltweit ersten Atomreaktors verantwortlich sein –, dass sich das Neutron auf Grund seiner fehlenden elektrischen Ladung hervorragend als "Sonde" zur Untersuchung des Atomkerns einsetzen lässt. Schon bald fahndet Fermi nach geeigneten Neutronenquellen und richtet deren Strahl systematisch auf alle bekannten chemischen Elemente. Es zeigt sich, dass viele der Neutronen widerstandslos durch das Atom hindurchfliegen, einige aber treffen auf den Kern und werden von diesem entweder gestreut oder eingefangen. Dauert der Beschuss lange genug an, passiert etwas, was in den Jahrhunderten zuvor nur die Alchemisten für möglich hielten: Die Umwandlung eines Elements in ein anderes.

Enrico Fermi
(1901 - 1954)

Für den italienischen Physiker war dies allerdings nicht schwer zu erklären: Nimmt der Atomkern ein zusätzliches Neutron auf, versucht der Kern seine Stabilität wiederzuerlangen und sendet zunächst ein negativ geladenes Betateilchen aus. Im nächsten Schritt verwandelt sich das eingefangene Neutron in ein Proton, wodurch sich die Atomzahl um den Wert 1 erhöht. So wird beispielsweise aus Silber (Ordnungszahl 47) zwar nicht Gold (79), aber doch zumindest das nächsthöhere Element nach Silber, das Cadmium (48). Abschließend wandte sich Fermi dem bis dahin letzten und schwersten Element im Periodensystem zu, dem Uran (92). Auf Grund seiner bisherigen Resultate war zu erwarten, dass durch den Neutronenbeschuss ein völlig neues, noch schwereres Element entstehen sollte, ein sogenanntes "Transuran" mit der Ordnungszahl 93. Zwar erhielt Fermi einige interessante Resultate und deutete sie als das gesuchte – heute unter dem Namen "Neptunium" bekannte – Transuran; dennoch war seine Interpretation falsch, und es sollten noch weitere vier Jahre vergehen, bis Meitner und Hahn eine alternative Hypothese vorschlugen.

 

 

 

Otto Hahn und Lise Meitner


Die Berliner Zeit bis 1933

   Nach einer kurzen Unterbrechung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, während der sie freiwillig als Röntgenschwester in verschiedenen Frontlazaretten des ersten Weltkriegs arbeitete, kehrt Lise Meitner schon im September 1916 nach Berlin zurück. Kurz darauf wird sie zur Leiterin der Physikalisch-Radioaktiven-Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts bestellt und versucht – zunächst allein, dann wieder gemeinsam mit dem aus dem Krieg heimgekehrten Otto Hahn –, das neue Element Proactinium aufzuspüren – was den beiden Forschern schließlich auch gelingt. In den zwanziger Jahren arbeitet Meitner zunehmend unabhängig von Hahn, hält 1922 ihre Antrittsvorlesung ("Die Bedeutung der Radioaktivität für kosmische Prozesse") und wird nach Hedwig Kohn die erst zweite Physikprofessorin Deutschlands.

Immer noch hat sie als Frau mit diversen Schikanen und Kuriositäten zu kämpfen. Die Berliner Presse etwa schreibt noch im selben Jahr, dass ein "Fräulein Meitner eine Vorlesung über kosmetische (sic!) Physik" abgehalten habe, und als ein Redakteur des Brockhaus-Lexikons bei "L. Meitner" um einen Artikel über Radioaktivität bittet und erfährt, dass es sich dabei um eine Autorin handelt, reagiert dieser eingeschnappt und lässt der Berliner Universität ausrichten, dass er nicht daran denke, eine Frau mit dieser Aufgabe zu betrauen. In der Kollegenschaft genießt Meitner jedoch schon lange einen hervorragenden Ruf, den sie neben ihren wegweisenden Arbeiten – Max Planck bezeichnet sie einmal als "die verdienteste Forscherin nächst [Marie] Curie" – auch ihren teils einflussreichen Mentoren und Förderern verdankt. Privat ist die schüchterne Wissenschaftlerin, die bis zu ihrem Lebensende sämtliche Heiratsanträge konsequent zurückweist, inzwischen materiell abgesichert genug, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können, von der sie regelmäßig Spaziergänge in die Berliner Umgebung unternimmt. Am wohlsten fühlt sie sich aber nie in der Stadt, sondern erst, "wenn ich so ganz eingeschlossen von Bergen bin", und so vergeht nur selten ein Urlaub, den sie nicht in einem ihrer bevorzugten Wanderreviere in den Tiroler Bergen verbringt.

Besonders von ihren Studenten wird Meitner hoch geschätzt. Einer ihrer Doktoranden schreibt später, dass er an der Berliner Universität vor allem gelernt habe, Probleme rechtzeitig zu erkennen und sich gewissenhaft und hartnäckig um eine Lösung zu bemühen. Großes Gewicht legt die Physikerin dabei auf die individuelle Betreuung ihrer Studenten, worüber sie selbst einmal vermerkt, dass in der Verantwortung des Wissenschaftlers auch die "menschliche Gesamtentwicklung" der nachwachsenden Forsch-ergeneration liege. Nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 nehmen Lise Meitners pädagogische Ambitionen aber ein jähes Ende. Auf Grund des neu geschaffenen, nationalsozialistisch inspirierten Gesetzes zur "Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" wird der inzwischen 55-jährigen Professorin schon im September desselben Jahres jede weitere Lehrtätigkeit untersagt – natürlich sind die bürokratischen Hemmnisse nur ein Vorwand für das wahre Motiv ihres Ausschlusses: Meitner ist jüdischer Abstammung.

 

 

 

 

Frédéric Joliot und Irène Curie
(um 1934)


Die Atomspaltung

   Die Entdeckung des Neutrons löste in den darauffolgenden Jahren hektische Aktivitäten auf seiten zahlreicher Forschungsteams überall in Europa aus. Neben Enrico Fermi in Rom bestrahlten beispielsweise auch Frédéric und Irène Joliot-Curie – eine Tochter Marie Curies –, oder eine Gruppe um Willibald Jentschke in Wien das Uranatom mit einem Strahl von Neutronen. Doch niemand erzielte brauchbare Resultate. Egal, wie lange das Uran dem Neutronenbeschuss auch ausgesetzt war, das gesuchte neue Element 93 ließ sich einfach nicht identifizieren. Statt dessen hatte etwa Irene Curie den Eindruck, "dass im bestrahlten Uran das halbe Periodensystem enthalten ist." Das war mehr als seltsam. Offenbar verhielt sich das Uranatom völlig anders als jedes Element, das man bisher untersucht hatte.

Auf Grund dieser verwirrenden Resultate, aber auch, weil Lise Meitner sich nach dem Wegfall ihrer Lehrverpflichtung wieder stärker der Forschung widmen wollte, bat sie ihren Kollegen Otto Hahn um eine Wiederauffrischung ihrer früheren Zusammenarbeit. Gemeinsam wollte man die Experimente der anderen Teams wiederholen und sich an eine möglichst sinnvolle Deutung der Ergebnisse machen. An vorderster Stelle stand natürlich die entscheidende Frage, in welche chemische Substanz sich das Uran nach seinem Beschuss mit Neutronen tatsächlich verwandelt hatte. Hier war also zunächst der Chemiker gefragt – und Lise Meitner wusste, dass sie sich auf die höchst präzisen Messungen ihres Kollegen bisher immer hatte verlassen können. Auch diesmal zeigte Hahn sein ganzes Können. Ein Zeitzeuge berichtet, dass sich im Verlauf der Untersuchungen immer deutlicher abzeichnete,...

"...dass das keine Transurane waren. Was waren es dann für Elemente? Da die Substanzen außerordentlich schwach waren, war das eben schwierig. Die ganze Analyse, die Hahn ausgeführt hatte, war mit unwägbaren und meist auch unsichtbaren Mengen der Substanzen gemacht. Nur aus der Strahlung und aus der Halbwertszeit dieser Strahlung konnte er sie identifizieren! Das war der Grund, warum alles so langsam und so schwierig ging."

 

 

 

 

 

 

Niels Bohr
(1885 - 1962)

   In der Tat hatte sich der in Frankfurt am Main geborene Institutsdirektor mehr als verausgabt und ganze vier Jahre gebraucht, um Lise Meitner, der Physikerin im Team, etwas zum Interpretieren zu geben. Doch kurz bevor Hahn die ersten abschließenden Ergebnisse bekannt geben kann, wird der Druck der Nazis auf Meitner unmenschlich groß. Kurz vor dem vermeintlichen Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Laufbahn muss die Professorin ihr geliebtes Berliner Institut verlassen und nach Schweden flüchten. Ohne ein einziges Möbelstück, ohne ihre reich ausgestattete Bibliothek, vor allem aber ohne ihr lebenswichtiges Klavier muss sich die leidenschaftliche Musikerin auf den Weg nach Stockholm machen. Von jetzt an kann sie nur noch aus der Ferne beobachten, wie der immer spannendere Wettlauf um die Entdeckung der Kernspaltung ohne sie geführt wird. Trotzdem reißt der Kontakt zu ihrem Kollegen nicht ganz ab. Brieflich hält Otto Hahn sie ständig auf dem Laufenden. Kurz vor Weihnachten 1938 erreicht Lise Meitner folgende Nachricht:

"Liebe Lise, [...] Wie schön und aufregend wäre es jetzt gewesen, wenn wir unsere Arbeiten wie früher gemeinsam hätten machen können. Du wärst vielleicht über die Unmenge von Versuchen etwas entsetzt gewesen, weil wir uns nie die Zeit lassen konnten oder zu können glaubten, alles bis zum Ende zu messen. [...] Nach unseren [...] Beweisen schließen wir, daß wir als Chemiker den Schluß ziehen müssen, daß die drei genau studierten Isotope kein Ra sind, sondern vom Standpunkt des Physikers aus Ba [Barium]. [...] Wir wissen dabei selbst, daß es eigentlich nicht in Ba zerplatzen kann. [...] Wir können unsere Ergebnisse nicht totschweigen, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd sind. Du siehst, Du tust ein gutes Werk, wenn Du einen Ausweg findest."

Nach dem Lesen dieser Zeilen ist die Exilantin "ganz aufgeregt vor Erstaunen" und langsam wird ihr klar, dass diese Resultate einen völlig neuen wissenschaftlichen Weg eröffnen mussten – "aber wie sehr waren wir in den früheren Arbeiten in die Irre gegangen." Ebenso wie die beiden maßgeblichen Atomphysiker ihrer Zeit, Ernest Rutherford und Niels Bohr, war nämlich auch Lise Meitner bis zu diesem Tag der festen Überzeugung gewesen, dass ein Atomkern unmöglich gespalten werden kann. Wollte man den äußerst kompakten, von massiven Kräften zusammengehaltenen Kern mit einem einzigen Neutron auseinanderbrechen, wäre das in etwa so, als würde man einen Kieselstein auf einen Felsblock werfen in der Hoffnung, dass dieser dadurch in zwei Teile auseinanderfällt. Eine solche Vorstellung war einfach zu absurd, als dass ein vernünftiger Physiker sie in Erwägung ziehen konnte.

Fritz Straßmann
(1902 - 1980)

Auch Otto Hahn und dessen neuer Assistent Fritz Straßmann sind sich dieser Tatsache bewusst, wenn sie im Brief an Meitner davon sprechen, dass der Atomkern "eigentlich nicht zerplatzen kann." Trotzdem haben die beiden Chemiker Barium in der Probe des bestrahlten Urans gefunden, und das ist deshalb so entscheidend, weil diese Substanz weit davon entfernt ist, das gesuchte schwere Transuran zu sein – im Gegenteil: Barium besitzt ungefähr die halbe Masse des Urans, und das lässt am Ende nur einen Schluss zu: Das ursprüngliche Atom muss durch den Neutronenbeschuss in zwei leichtere Bruchstücke zerfallen, also: gespalten worden sein.

Nun aber ging es ans Interpretieren und hier im besonderen um das Problem: Wie kann ein Kieselstein einen Felsblock spalten? Immer und immer wieder legt sich Lise Meitner diese Frage vor, aber sie kommt einfach nicht weiter. Ein neues Weltbild zaubert man nicht einfach so aus dem Hut. Mit dem Brief in der Tasche fährt sie deshalb zunächst an die schwedische Westküste nach Kungälv, um dort mit einer guten Freundin und mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch das Weihnachtsfest zu verbringen.

 

 

 

Otto Robert Frisch
(1904 - 1979)

Ebenso wie seine Tante ist auch Otto Frisch Physiker und seit 1934 Mitarbeiter an Niels Bohrs Institut in Kopenhagen. Genau das hatte Lise Meitner seit ihrem erzwungenen Weggang aus Berlin gesucht: Ein paar vertraute Gesichter, vor allem aber einen Gesprächspartner, dem sie begreiflich machen konnte, über welche Fragen sie sich die letzten Tage ergebnislos den Kopf zerbrochen hatte. Nach einem ersten gemeinsamen Frühstück, das der Neffe auf eindringlichen Wunsch seiner Tante zunächst mit dem Brief von Hahn beginnen musste, brachen beide zu einem Spaziergang in der stillen schwedischen Winterlandschaft auf. Frisch erinnerte sich später in seinen Memoiren, dass er Skier angeschnallt hatte, während seine Tante "ihre Behauptung bewies, dass sie zu Fuß gerade so schnell vorwärts kam."

   Nach kurzer Diskussion kamen die beiden auf das von Niels Bohr eingeführte "Tröpfchenmodell" des Atomkerns zu sprechen, welches besagt, dass schwere Kerne sich annähernd wie Flüssigkeitstropfen verhalten, sich also – ähnlich wie ein wassergefüllter Luftballon – dehnen und stauchen lassen. Nach Bohrs Theorie musste jeder dieser „Tropfen“ außerdem eine Oberflächenspannung besitzen, wodurch der Atomkern trotz seiner Beweglichkeit stabil blieb und nicht plötzlich auseinanderfiel. Das Problem, auf das Meitner und Frisch nun gestoßen waren, bestand in der extremen Größe dieser Spannung, die unter ihrem anderen Namen – der "starken Kernkraft" – den Atomkern vor dem Auseinanderfliegen bewahrt. Entsprechend ihres Namens ist diese Kraft oder Spannung derart hoch, dass ein Aufbrechen des Kerns – oder ein Zerplatzen des Tröpfchens – nicht möglich scheint.

 

 

 

Otto Hahn

Andererseits, so überlegten die beiden, besteht jeder Atomkern immer auch aus einer mehr oder weniger großen Zahl von Protonen, die auf Grund ihrer gleichartigen Ladung die Tendenz besitzen, sich gegenseitig abzustoßen. Im Atomkern existieren somit zwei entgegengesetzte Kräfte: Die Abstoßungwirkung der Protonen und die anziehende Wirkung der starken Kernkraft. Beide Kräfte heben sich im Normalfall exakt auf, wodurch das Flüssigkeitströpfchen in einem ständigen Gleichgewicht zwischen Explosion und Implosion verharrt. Meitner und Frisch kamen nun auf die Idee, dass in einem besonders schweren – und damit protonenreichen – Kern wie dem des Urans auf Grund der zunehmenden Ladung die Oberflächenspannung insgesamt herabgesetzt sein müsste. Analog dazu kann man sich wiederum den wassergefüllten Ballon vorstellen, dessen Haut umso dünner wird, je größer und schwerer der Ballon ist. In diesem Zustand reicht dann unter Umständen ein winziger Stoß mit dem Finger (oder mit einem einzelnen Neutron) aus, um die Wasserbombe – das heißt, den Atomkern – zerplatzen zu lassen. Am Weihnachtstag des Jahres 1938, mitten im tief verschneiten Wald, kommen Lise Meitner und ihr Neffe zu folgendem Schluss:

"Wenn in dem hochgeladenen Urankern – in dem durch die gegenseitge Abstoßung der Protonen die Oberflächenspannung stark vermindert ist – durch das eingefangene Neutron die kollektive Bewegung der Kerne genügend heftig wird, so kann sich der Kern in die Länge ziehen; es bildet sich eine Art ‚Taille’, und schließlich erfolgt eine Trennung in zwei ungefähr gleich große, leichtere Kerne, die dann wegen ihrer gegenseitigen Abstoßung mit großer Heftigkeit auseinanderfliegen."

 

 

 

Lise Meitner

   An sich war damit das Rätsel der Kernspaltung gelöst, doch nicht nur das: Meitner und Frisch konnten noch während ihrer Wanderung ableiten, dass die beiden Bruchstücke des Urans theoretisch um einiges leichter sein mussten als das ursprüngliche Atom, und zwar genau um 1/5 der Masse eines Protons. Wohin diese Masse verschwunden war, leuchtete den beiden Forschern sofort ein: Gemäß Einsteins Theorie war ein Teil des Kerns in Energie umgewandelt worden, und zwar in sehr viel Energie. Demnach erzeugte ein einziges Atom bei seiner Spaltung ungefähr 200 Millionen Elektronenvolt (MeV) – ein ungeheurer Betrag, wenn man bedenkt, dass ein massiver Kern wie der des Urans aus über 230 Kernteilchen besteht und dann bloß 20% eines einzigen dieser Teilchen als Strahlung frei wird. Otto Frisch erinnert sich später, dass er und seine Tante derart erschrocken über diese überraschende Erkenntnis waren, dass sie den Rest der Strecke schweigend zurücklegten.

Zu Beginn des neuen Jahres erfuhren Otto Hahn in Berlin und Niels Bohr in Kopenhagen von der Kernspaltung; beide waren sich der Bedeutung dieser Entdeckung sofort bewusst (Hahn erhielt dafür 1946 den Nobelpreis für Chemie), und weil der "Vater der Quantenmechanik", als der Bohr später auch bezeichnet wurde, gerade auf dem Sprung zu einer Reise in die USA war, konnte er schon am 26. Januar auf der Tagung der American Physical Society sowohl über die Arbeiten Otto Hahns als auch über deren Deutung durch Meitner und Frisch berichten. Schon innerhalb kürzester Zeit waren dutzende Forscherteams in aller Welt den faszinierenden Möglichkeiten der Kernspaltung auf der Spur und noch im selben Jahr erschienen knapp hundert wissenschaftliche Fachpublikationen über das neue Forschungsgebiet.

  Besonderes Aufsehen erregte aber bereits im Januar 1939 eine Entdeckung, die fast gleichzeitig – und unabhängig voneinander – von Otto Hahn, Frédéric Joliot in Paris und Leo Szilard in New York gemacht worden war: Wird ein Urankern mit Neutronen beschossen, so entsteht bei der folgenden Spaltung nicht nur eine enorme Menge an Energie, sondern darüber hinaus ein oder mehrere zusätzliche Neutronen, die als sog. "Sekundärneutronen" für die Spaltung weiterer Urankerne sorgen – wodurch wieder Neutronen entstehen, die wieder neue Kerne spalten und so weiter. Auf Grund dieser Entdeckung sollte es nicht mehr lange dauern, bis die erste sich selbst erhaltende atomare Kettenreaktion in die Tat umgesetzt worden war: Am 2. Dezember 1942 gelang es einem Team unter der Leitung von Enrico Fermi, in Chicago den ersten "Atommeiler" der Welt in Betrieb zu nehmen. In Form eines Telegramms erhielt Präsident Roosevelt eine einzige verschlüsselte Zeile als Nachricht über den Erfolg: "Der italienische Steuermann ist in die neue Welt eingefahren." In den späten fünfziger Jahren wird Lise Meitner über diesen – tatsächlichen oder scheinbaren – Triumph des forschenden Geistes schreiben: "Die Wissenschaft ist gewiss nicht schlecht, nur wir Menschen sind es leider."

A propos: Otto Frisch emigrierte 1939 nach England und wirkte später am US-amerikanischen Atombombenprojekt in Los Alamos mit.

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Literatur

Detlef Bald. Hiroshima, 6. August 1945. Die nukleare Bedrohung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999.
David Bodanis. Bis Einstein kam. Die abenteuerliche Suche nach dem Geheimnis der Welt. Stuttgart, München: Deutsche Verlagsanstalt, 2001.
Ernst Peter Fischer. Einstein & Co. Eine kleine Geschichte der letzten hundert Jahre in Porträts. München, Zürich: Piper, 1997.
Erwin Münch (Hg.). Tatsachen über Kernenergie. 3., überarbeitete Auflage. Essen: Girardet, 1983.
Michael Schaaf. Heisenberg, Hitler und die Bombe. Gespräche mit Zeitzeugen. Berlin; Diepholz: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, 2001.
Lore Sexl; Anne Hardy. Lise Meitner. rowohlts monographie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2002.
Spektrum der Wissenschaft - Biographie. Einstein. Das neue Weltbild der Physik. 2/2002.
Mark Walker. Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe. Berlin: Siedler, 1990.
 

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