Ökonomen feiern den im
November 2006 verstorbenen Milton Friedman als "Champion der Freiheit",
"dessen Werk die Wirtschaft und die Welt verändert hat" (wie es in einer
ganzseitigen Anzeige in der New York Times heißt). Die Menschen des globalen
Südens hingegen werden Professor Friedman von der Chicagoer Universität als
das Auge eines menschgemachten Hurrikans in Erinnerung behalten
–
eines Hurrikans, der eine Schneise der Verwüstung durch ihre Ökonomien
schlug. Noch lange werden sie den Namen Friedman mit zwei Dingen in
Verbindung bringen: mit den chilenischen Reformen des Freien Marktes und den
"Strukturanpassungsprogrammen" in der so genannten 'Dritten Welt'.
Kurz nach dem Staatsstreich gegen die Regierung Allende am 11. September
1973 übernahmen chilenische Absolventen der Friedman-Schule (bald bekannt
unter dem Namen "Chicago Boys") das Ruder der chilenischen Wirtschaft und
führten, mit großem missionarischem Eifer, ein
Wirtschaftstransformationsprogramm durch. Angesichts seiner vielzitierten
Behauptung, politische Freiheit und Marktfreiheit gingen Hand in Hand,
müsste Friedmann, dem Guru, die Ironie eigentlich aufgefallen sein, dass in
Chile ausgerechnet die Bajonette einer der blutigsten Diktaturen
Lateinamerikas das Paradies des Freien Marktes durchsetzten.
Friedman hat Chile während der Pinochet-Diktatur besucht und die Bemühungen
des Regimes für eine radikale, exportorientierte, freie Marktwirtschaft
gewürdigt. Friedman pries den chilenischen Diktator Augusto Pinochet
–
weil er sich "aus Prinzip völliger Marktfreiheit" verpflichtet habe.
Friedman hielt Vorträge über 'Die Fragilität der Freiheit'
–
im Kontext Chiles dürfte dies wie purer Hohn geklungen haben. Friedman warf
seinen Kritikern vor, ihn wegen der Menschenrechtsverstöße des chilenischen
Regimes am liebsten "teeren und federn" zu wollen. Und dennoch war er stolz
darauf, der doktrinäre Geist hinter dem "chilenischen Wunder" (Friedman) zu
sein.
Das chilenische Experiment
Nachdem
die Friedman-Schüler mit Chile fertig waren, war das Land tatsächlich
radikal transformiert –
allerdings im negativen Sinne. Die Politik der freien Marktwirtschaft hatte
Chile zwei große Wirtschaftsdepressionen in nur einer Dekade beschert: 1974
bis 1975 (das Bruttosozialprodukt fiel um 12%) und 1982 bis 1983 (das
Bruttosozialprodukt fiel um 15%).
Die Ideologie des freien Marktes geht davon aus, dass freie Märkte zu einem
robusten Wirtschaftswachstum führen. Doch im Gegenteil, das
durchschnittliche Wirtschaftswachstum Chiles während seiner "Jakobinerjahre"
(Friedman-Pinochet-Revolution zwischen 1974 und 1989), lag bei nur 2,6%
–
gegenüber mehr als 4% in den Jahren zwischen 1951 u. 1971, als der Staat
noch eine weit größere Rolle in der chilenischen Wirtschaft spielte. Am Ende
der Periode der radikalen 'freien Marktwirtschaft' waren (soziale)
Ungleichheit und Armut signifikant gestiegen. Der Prozentsatz der Familien
unterhalb des "Existenzminimums" stieg zwischen 1980 und 1990 von 12 auf 15
Prozent. Der Prozentsatz derer, die unterhalb der Armutsgrenze, aber noch
über dem Existenzminimum lebten, stieg im selben Zeitraum von 24 auf 26
Prozent. Das heißt, in der Endphase des Pinochet-Regimes waren rund 40% der
chilenischen Bevölkerung –
also 5,2 von 13 Millionen Menschen
–
arm.
Sieht man sich die nationale Einkommensverteilung an, so sank der
prozentuelle Anteil, den die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung am
nationalen Einkommen hatten, von 20% auf 17%. Die 10 Prozent Reichsten im
Land konnten ihren Anteil am Nationaleinkommen hingegen dramatisch
verbessern –
von 36% auf 47%. Für Chiles Wirtschaftsstrukturen bedeutete diese
Kombination aus labilem Wachstum und radikalem Handelsliberalismus eine
"Deindustrialisierung im Namen von Effizienz und Inflationsvermeidung", wie
es ein Ökonom einmal formulierte. Der Anteil der Produktion am
Bruttosozialprodukt ging zurück. Ende der 60er Jahre hatte dieser Anteil im
Durchschnitt 26% betragen, Ende der 80er nur noch 20%. Viele
metallverarbeitenden Betriebe und verwandte Branchen des produzierenden
Gewerbes blieben auf der Strecke. Die Wirtschaft war exportorientiert
–
Schwerpunkt landwirtschaftliche Produkte und Ressourcenförderung.
Eine abgemilderte Form des Friedmanismus
Anfang
der 90er Jahre endete in Chile die radikale Friedman-Pinochet-Ära der
ökonomischen Konterrevolution, und die so genannte 'Concertation' kam an die
Macht. Das war eine Mitte-Links-Koalition, die gegen klassische Friedmansche
Regeln verstieß und –
zum Zwecke einer besseren Einkommensverteilung
–
die öffentlichen Ausgaben erhöhte. Der Anteil der Chilenen in Armut sank von
40 auf 20 Prozent. Diese Veränderung stärkte die Binnennachfrage und führte
in der Post-Pinochet-Phase zu einer durchschnittlichen jährlichen
Wachstumsrate von rund 6 Prozent.
Allerdings war die sozialdemokratische Regierung nicht gewillt, sich mit der
Oberschicht anzulegen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik blieb in ihren
Grundzügen unangetastet –
auch der ökonomische Schwerpunkt auf Ausfuhr (von Landwirtschaftsprodukten
und Naturressourcen) blieb. Die Fokussierung auf den Export von
Primärprodukten hat zu enormen Umweltbelastungen geführt. Die Küsten Chiles
sind überfischt. Dieses Phänomen geht Hand in Hand mit der Verbreitung von
Farmen für Frischwasserlachs und Muscheln weiter im Innern, die das
ökologische Gleichgewicht stören. Eine boomende Holzexportindustrie betrieb
die Ausbreitung von Baumplantagen
–
zu Lasten der natürlichen Wälder. Chile steht auf Platz zwei der am meisten
abgeholzten Länder Lateinamerikas
–
direkt hinter Brasilien. Ökologie-Management gilt in Chile allgemein als
ineffektiv und wird durch exportorientierte Wachstumszwänge kontinuierlich
hintertrieben.
Die "Revolution" wird exportiert
Chile
war das Versuchskaninchen. An Chile hat man das Paradigma des Freien Marktes
getestet. Anfang der 80er Jahre wurde dieses Paradigma auf andere Länder der
so genannten 'Dritten Welt' übertragen
–
via IWF und Weltbank. Rund 90 Ökonomien in sogenannten 'Entwicklungsländern'
und ehemaligen sozialistischen Ländern wurden so nach und nach den
"Strukturanpassungs-Programmen" des Freien Marktes unterworfen. Von Ghana
bis Argentinien wurde der staatliche Einfluss auf die Wirtschaft drastisch
gekappt, Staatsunternehmen im Namen der Effizienz in private Hände gegeben,
protektionistische Importbeschränkungen für Waren aus dem (globalen) Norden
völlig abgeschafft, Restriktionen für ausländische Investitionen aufgehoben
und die einheimische Wirtschaft durch eine Export-first-Politik eng an den
kapitalistischen Weltmarkt gekoppelt.
In den 90ern sollte eine Politik der strukturellen Anpassungsprogramme
(SAPs) die Ökonomien der so genannten Entwicklungsländer beschleunigt auf
die Globalisierung vorbereiten. Diese Politik hat den meisten dieser Länder
genau dieselbe Ungleichheit, Armut und Umweltproblematik beschert wie damals
Chile (abzüglich des mäßigen Wachstums in Chile nach Ende der
Friedman-Pinochet-Ära). Der Weltbank-Chefökonom für Afrika gesteht: "Wir
haben nicht gedacht, dass die Humankosten dieser Programme so hoch sein
könnten und die ökonomischen Erfolge so lange brauchen würden". Die SAPs
gerieten derart in Verruf, dass Weltbank und IWF sie rasch umbenannten.
Schon Ende der 90er war von 'Armutsreduzierungsstrategie-Papieren' die Rede.
Freier
Markt und die Politik der Strukturanpassungen sind mittlerweile
institutionell so verankert, dass ihre Herrschaft immer weitergeht
–
obgleich inzwischen allgemein anerkannt ist, dass sie nicht funktionieren.
Das Vermächtnis des Milton Friedman wird den so genannten
'Entwicklungsländern' noch lange erhalten bleiben. Es gäbe daher keine
passendere Inschrift für Milton Friedmans Grabstein als folgende Zeilen aus
Shakespeares 'Julius Caesar': "Das Böse, das die Menschen tun, lebt nach
ihrem Tode weiter, das Gute wird meist schon mit ihren Knochen begraben".
Dieser Artikel wurde uns freundlicherweise
von
Zmag.de zur
Verfügung gestellt. Die Übersetzung
stammt von Andrea Noll. |