...... |
... |
Dies ist am 23. Mai 2006 aus den Medien bekannt: Über 170 Menschen sind bei Unruhen zwischen kriminellen Banden – rund 800 Häftlinge, die diesen Banden angehören, sollten in Hochsicherheitstrakte verlegt werden, weshalb deren Kompagnons Polizeistationen angriffen – und der Polizei in São Paulo zu Tode gekommen, davon über dreißig Polizisten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Polizei wegen des Verdachts, unbeteiligte Zivilisten hingerichtet zu haben. Im Fernsehen wird eine
Frau gezeigt, die außer sich ist vor Angst: ihr Mann und ihr Sohn sind beide
Polizisten. Die Angst dieser Ehefrau und Mutter ist gut zu verstehen, wenn
man sich vor Augen hält, dass vor Kurzem ein Polizist, der mit seiner Gattin
in einem Restaurant beim Essen saß, von zwei Maskierten aus nächster Distanz
in den Kopf geschossen wurde. Auch vollkommen Unbeteiligte wie ein
25-jähriger Musiker, dessen Familie und Freunde sagen, sein einziges
Verbrechen sei gewesen, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein,
finden sich unter den Opfern. 45.000, so Amnesty International Schweiz, kommen pro Jahr in Brasilien durch Gewalt zu Tode. Die Gründe sind vielfältig – der leichte Zugang zu den rund 18 Millionen Kleinwaffen im Land gehört sicher dazu –, doch die ungeheuren sozialen Unterschiede werden wohl der wesentlichste Grund sein. * Als ich mich Mitte März 2006 nach Recife aufmache – ich hatte gerade Peter Robbs Death in Brazil gelesen, in dem der Australier Robb, der zwanzig Jahre in Brasilien gelebt hatte, gleich zu Beginn, in Recife, schildert, wie er Opfer eines gewaltsamen Angriffs wird – ist mir etwas bang: mir ist klar, dass ich in eine gefährliche Stadt gekommen bin. Doch jetzt, um sechs Uhr morgens, am fast menschenleeren Flughafen, kommt es mir überhaupt nicht so vor. Die Frau an der Information empfiehlt mir ein Hotel in Boa Viagem, einem Stadtteil, der von einem kilometerlangen Palmenstrand gesäumt ist. Das Hotel ist ein zweistöckiges, unscheinbares Gebäude und liegt zwei Häuserblocks, die mit automatisch gesicherten Türen versehen und darüber hinaus von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht werden, vom Strand entfernt. Es ist sauber, das Zimmer klein, der Preis ausgesprochen günstig; der Eingang ist ständig beaufsichtigt: muss der Rezeptionist aufs Häuschen, tut er das erst, nachdem eine der Küchenhilfen seinen Platz eingenommen hat. Im nahen, in einem
Hinterhof gelegenen Internetcafe, das vorwiegend von (sehr lauten) Buben und
(ruhigen) Mädchen besucht wird, die sich an Videogames ergötzen, ist der
Eingang mit Eisengittern und Schloss gesichert. * In Maceio, vier Busstunden südlich von Recife, gehe ich eines Nachmittags auf dem Gehsteig so dahin, als mir auf der Straße ein Radfahrer mit einem Korb voller Coca-Cola-Flaschen entgegenkommt. Plötzlich knallt es und irgendetwas schießt an meiner linken Seite vorbei. Ich sehe – wie in Zeitlupe und als ob dies nicht wirklich sei, ich gar nicht beteiligt, sondern nur Zuschauer wäre –, dass an der Innenseite meines Oberarms ein kleines, dreieckiges Stück Fleisch weggerissen wird. Es schmerzt nicht, doch Blut spritzt nach allen Seiten, ich winkle den Arm an, trotzdem scheint die Blutung zuerst gar nicht zu stoppen und für einen kurzen Augenblick erfüllt mich hysterische Panik, durchfährt es mich, ich werde hier auf der Straße verbluten; es dauert mehrere Minuten bis ich den Blutstrahl stoppen kann. Was war geschehen? Eine Colaflasche war wegen der Hitze geplatzt und ein Glassplitter hatte mich getroffen. Der junge Radfahrer ist stehen geblieben, weiß aber nicht, was er tun soll; ein Passant ruft mit seinem Mobiltelefon die Ambulanz. Tourist sei ich, schreit er in den Apparat. Woher? erkundigt er sich bei mir. Aus der Schweiz, gibt er weiter. Nach zwanzig Minuten trifft die Ambulanz ein. Die Wunde wird gesäubert, ein Verband angelegt, Blutdruck und Puls werden genommen, meine Personalien notiert. Ich werde jetzt ins
nächstgelegene Spital gebracht, wo die Wunde genäht werden müsse, teilt man
mir mit. Ich verabschiede mich bei meinem Helfer mit dem Mobiltelefon, die
Sirene wird eingeschaltet, ich lege mich auf die Bahre und los geht’s. Ein paar Minuten dauert
das Vernähen der Wunde. Als ich mich wieder aufrichte, fragt die Ärztin, wie
ich jetzt zurück zum Hotel komme? Noch zweimal werde ich in der Folge ein staatliches Spital aufsuchen. In João Pessoa, einer Stadt von etwa 700.000 Einwohnern – da gab es nur eine Wache am Spitaleingang: ein älterer, mit einem Stock bewaffneter Mann –, um die Fäden entfernen zu lassen, und in Piripiri, einem Ort mit 60.000 Einwohnern, da gab es gar keine Wache, wegen einer Lebensmittelvergiftung. Übrigens: keiner meiner Spitalbesuche kosteten mich auch nur einen Cent. Sozialservice nennt sich das. * Parnaiba
(etwa 700.000 Einwohner) liegt am größten Delta der Americas, hier geht es
gemächlich zu, das Geldherausgeben im Supermarkt geschieht mit derart
aufreizender Langsamkeit, dass ich den Kerl an der Kasse durchzuschütteln
versucht bin; schwer vorstellbar, dass hier überhaupt einmal irgendetwas
passiert. Mein Hotel liegt am Strand, wenige Kilometer vom Ort entfernt. Ein älteres Ehepaar aus dem Süden des Landes und ich sind die einzigen Gäste. Verlassene Restaurants und Imbissbuden, vereinzelt ein paar Leute, die am Strand spazieren, ein Fischer, der Garnelen zum Kauf anbietet, ein Hund, der in der Mittagshitze die Straße überquert – eine Stimmung wie aus einem Westernfilm. * Meine nächste Station ist Teresina, die Hauptstadt des Staates Piaui, wo ich mich sicher fühle, bis mich Kalina, die hier an einer der Unis Englisch unterrichtet, darüber aufklärt, dass Teresina alles andere als sicher, weswegen es auch (wie andernorts in Brasilien) gesetzlich erlaubt sei, in der Nacht bei Rot einen rollenden Stopp zu machen, denn zu oft sei es vorgekommen, dass an solchen Rotlichtern Automobilisten überfallen worden seien. Zudem treffe sie ständig Vorsichtsmaßnahmen: Kehre sie erst spätabends nach Hause zurück, so rufe sie vorher dort an, damit jemand Licht mache und an der Türe stehe, wenn sie eintreffe. Im Übrigen stelle sie sich nie vor der eigenen Haustüre zum Ratschen auf die Straße, weil man so für Räuber und Diebe, die sich häufig auf Motorrädern an einen heranmachten, ein allzu willkommenes Opfer abgebe. Ob sie glaubten, die
Gewalt, die derzeit São Paulo heimsuche, könnte künftig auch in Teresina
möglich sein, wurden Studenten von Meio Norte, einer der wichtigeren
Zeitungen im Staate Piaui, gefragt. Die meisten konnten es sich nicht
vorstellen. Der
Direktor des Colégio Agricola, wo ich einen Vortrag über interkulturelle
Kommunikation halte, erzählt, er sei in den letzten zwei Jahren achtmal mit
einer Waffe bedroht und beraubt worden, einmal sogar am hellichten
Nachmittag, in einer Apotheke; die vorangegangenen vier Jahre jedoch kein
einziges Mal. Besser wäre wohl, meinte er trocken, wenn er künftig nur noch
in Shorts und Plastiksandalen und nicht mehr mit Krawatte herumlaufe Die nächsten paar Tage gehe ich, den Rucksack mit Geld und Wertsachen eng an mich gepresst, sehr viel vorsichtiger durch die Strassen. In Shorts und Plastiksandalen. * Meine Erfahrungen mit den Brasilianern sind fast ausschließlich positiv, ich erlebe sie als freundlich und hilfsbereit. Nervig finde ich eigentlich nur, dass einige wenige noch nie was von Schlangestehen gehört zu haben scheinen, doch diese laut auf Schweizerdeutsch zurecht zu weisen, hilft meist. Und dann die Strände, ein
Traum nach dem andern. Und die Musik. Forró und Calypso (und ganz besonders
die Companhia do Calypso), für mich, und zwar jederzeit. Einmal, an
einem Konzert der Solteirões do Forró, morgens um zwei, als es mir
vorkommt, als hätte ich einige der Songs schon von anderen Gruppen gehört,
erkundige ich mich bei meinen Nachbarn: Das sei so üblich bei Konzerten,
dass man, wenn man die eigenen Songs (so viele habe man häufig gar nicht)
gespielt habe, hernach die Hitparade rauf und runter dudle. Mich stört’s
nicht, im Gegenteil, ich kann gar nicht genug von diesen Rhythmen und
Melodien kriegen. * Es ist ein nationaler Feiertag, als ich in Sobral eintreffe, die Stadt wirkt ausgestorben. Mit einem Motorradtaxi mache ich mich auf die Suche nach einem Supermarkt, der geöffnet hat. Der ältere Motorradfahrer kennt einen. Und zudem eine sehr gute Bäckerei. Als wir nach wenigen Minuten einen Platz überqueren, erfassen meine Augen eine verlassene Häuserschlucht, die mich an Domodossola gemahnt, kurz darauf ist mir, als befände ich mich in der Schweiz, in Glarus. Ich habe keine Ahnung, was diese Assoziationen hervorruft, mag auch gar keine Erklärungen suchen, nicht zuletzt, weil ich weiß, dass es keine Gewissheit geben kann, dass höchstens mehr oder weniger plausible Interpretationen möglich sind – und solche interessieren mich für einmal nicht. Doch ist das Leben überhaupt aushaltbar ohne Orientierungspunkte? Was mir in Sobral zugestoßen ist, ist mir bestimmt schon unzählige Male passiert, ohne dass ich es speziell beachtet hätte. Des Nachts, in Hotelzimmern mit zum Lesen ungenügendem Licht, strecke ich mich nun regelmäßig auf dem Bett aus und lasse aus dem Unterbewussten aufsteigen, was da hochkommen will – Bildeindrücke von hier und da, nichts scheint miteinander in erkennbarem Bezug zu stehen. Es ist dies eine faszinierende, doch vor allem zutiefst verstörende, mit viel Angst verbundene Erfahrung. Es gebe keinen Sinn im Leben außer dem, den ich ihm selber gebe, habe ich einmal gelesen. Ein einleuchtender Satz, auch wenn ich ihn gefühlsmäßig ablehne, denn mir scheint, es sei nicht an uns, den Sinn des Lebens nach Lust und Laune zu erfinden, sondern ihn in dem zu entdecken, was ist. Es gibt Momente, in denen das gelingt. Und weil dem so ist, schaff ich es immer weniger, unsere erfundene Wirklichkeit (von den Ideen eines "heiligen" Landes bis zu den Prinzipien, auf denen die Wissenschaft gründet) wirklich ernst zu nehmen. "It is possible to think this: without a reference point there is meaninglessness. But I wish you’d understand that without a reference point you are in the real", schreibt Sharon Cameron in Beautiful Work: A Meditation on Pain. Als die brasilianische Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft zum ersten Mal zum Zuge kommt, machen Schulen, Ämter und Läden frühzeitig zu, damit sich alle die Übertragung im Fernsehen ansehen können. Viele tun das in Restaurants, und nicht wenige haben sich für diesen Anlass den nationalen Fussballdress angezogen. Fußball vereint, und dieser Identitäts-Kitt ist wohl nötig, damit das Land nicht noch ganz auseinander bricht. Doch Fußball trennt auch, wie man an den Straßenschlachten nach den Spielen häufig sehen kann. Mit anderen Worten: Wenn wir die Welt, die wir uns erfunden haben, allzu ernst nehmen, wendet sie sich gegen uns. * In Camocin treffe ich auf einen jungen Anwalt aus São Paulo, der mir vom Leben dort erzählt. Komme er spätabends nach Hause und sehe in seinem Wohngebiet verdächtige Gestalten, fahre er so lange um die Häuser, bis sich diese Typen wieder aus dem Staub gemacht hätten. Nie würde er seinen Wagen in die Tiefgarage fahren, wenn Unbekannte davor herumlungerten. Im Fernsehen läuft ein Bericht über die Schweiz: Die brasilianische Fußballmannschaft ist gerade zum Trainingslager in Weggis eingetroffen. Waffennarren seien die Schweizer, sagt der Kommentator. Bilder von einem Schützenfest werden gezeigt, erwähnt wird auch, dass in jedem Schweizer Haushalt ein Gewehr zu finden ist. Dabei, und das kann der Reporter fast gar nicht fassen, gebe es in der Schweiz pro Jahr nicht mehr als 43 Gewaltopfer, also etwa soviel wie in São Paulo an einem Wochenende. Es versteht sich: Was ich über die Gewalt im Lande höre und lese, bleibt nicht ohne Wirkung, beeinflusst mich. Nach einbrechender Dunkelheit traue ich mich immer weniger aus dem Hotel, obgleich ich doch aus der Kriminologie weiß, dass die meisten Gewalttaten Beziehungsdelikte sind, dass sich also Opfer und Täter von Gewaltdelikten fast immer kennen. Nur eben: dies zu wissen, beruhigt nur wenig. Und überhaupt: was ist mit Raub, Diebstahl, Entwendung etc.? Gerade berichtete das Fernsehen, dass innerhalb weniger Tage zwanzig – oder waren es fünfzig? – Studenten unter Androhung von Gewalt ihre Handys abgenommen wurden. Andererseits, und vor allem: Mir ist doch in den drei Monaten, die ich jetzt hier unterwegs bin, absolut gar nichts passiert. In einer Kleinstadt am Strand, etwa sechzig Kilometer von Fortaleza, frage ich einen Franzosen, der dort ein Restaurant betreibt und seit Jahren im Land lebt, wie denn er mit der Gewalt hier lebe. Nun ja, sagt er, der Ort hier sei ja nicht mit Fortaleza zu vergleichen und überhaupt, man gewöhne sich eben daran. Auch, weil es da ja noch
ganz anderes gibt: angenehme, lebensfrohe Menschen (nein, nicht alle
Brasilianer sind so, doch viele und prozentual sicher mehr als es
lebensfrohe Schweizer gibt), Forró, Calypso und sagenhafte Sandstrände so
weit das Auge reicht. Und, nicht zu vergessen: das beste Frühstück der Welt. |