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Katastrophen-Journalismus
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Die Uniformität ist atemberaubend: alle Massenmedien, weltweit, so scheint es, haben
exakt dies
elben Nachrichten- und Bilder-Präferenzen. Diese Gleichförmigkeit ergibt sich aber
nicht aus der beobachteten Wirklichkeit, sondern entsteht im Innern der Massenmedien,
in den Köpfen der Medienleute, nach ganz bestimmten Regeln.

Von Hans Durrer
(10. 09. 2008)

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(c) Blazenka Kostolna

Hans Durrer
contact [at] hansdurrer.com

geboren 1953 in Grabs (Schweiz), studierte Rechts-
wissenschaften (in Basel),
Journalistik (in Cardiff) und
angewandte Linguistik (in
Darwin); ist der Autor von
"Ways of Perception: On
Visual and Intercultural
Communication" (White
Lotus Press, Bangkok
2006).


Homepage

www.hansdurrer.com

 

 

 

 

Richard Munz.
Im Zentrum der Katas-
trophe. Was es wirklich
bedeutet, vor Ort zu helfen.
Campus, 2007, 246 S.
ISBN:
3593381230

 

 

 

 

 

"Ich denke, es dürfte
eine ziemliche Neuigkeit
für die Öffentlichkeit in
Europa sein, dass es
überhaupt gut ausgebildete
iranische Suchhunde und
hoch motivierte einheim-
ische Hundeführer gibt."

 

 

 

 

 

 

 

 

Wer die Medien über-
zeugen will, "dass es
bessere Kriterien für die
Beurteilung von Hilfs-
maßnahmen gibt als
spektakuläre Bilder oder
dramatische Geschichten",
verkennt ihr Wesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Wahr ist, dass die Medien
die Wirklichkeit, die in
den Medien vorkommt,
erst schaffen. Sie tun
dies, zuallererst, indem
sie auswählen, was sie
zeigen wollen und, vor
allem, was sie nicht
zeigen wollen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit einer Print-Auflage
von über 1 Million Exem-plaren schafft es die New
York Times,
dass die
Themen, die sie setzt,
von Medien rund um
den Globus aufgegriffen
werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

"Wer als Zuschauer
tagelang immer noch
eine 'Tagesschau' sieht
oder einen 'Brennpunkt'
oder ein 'ZDF-Spezial', der
mag irgendwann denken,
er habe nun wirklich alles
mitbekommen, was man
wissen muss: Und hat doch
das meiste nicht gesehen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Und wenn du redest,
achte darauf, dass eine
Kamera und ein Mikrofon
in der Nähe sind und dass
du die Rolle des selbstlosen
und unfehlbaren Helden
gut und überzeugend
darstellst."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Caminante, no hay camino, se hace camino al andar
Antonio Machado

   Wir leben in Glaubenssystemen. Wir glauben, was uns hilft, uns sicher und wohl zu fühlen. Und vor allem: wir glauben, was wir glauben wollen. Ganz verschiedene Systeme haben wir geschaffen (die Juristerei oder die Bürokratie – zum Beispiel), die alle ihren (hauptsächlich) gewollten Zweck erfüllen. So ernährt die Juristerei die Juristen – die Regierung Blair hat, gemäß dem Independent, in ihren neun Jahren an der Macht, mehr als 3.000 neue Strafgesetze geschaffen, was fast einem Strafgesetz (von all den andern Gesetzen gar nicht zu reden) pro Tag im Amt entspricht –, und die Bürokratie versorgt die Bürokraten. Nun haben diese vom Menschen (nicht von allen, doch wesentlich von denen, die daran verdienen) geschaffenen Systeme es so an sich, dass sie sich verselbständigen und wir alle nach und nach zu ihren Opfern werden. Man denke etwa ans Geld, das uns alle im Würgegriff hat. Oder man denke an die Massenmedien: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien" schreibt Niklas Luhmann in "Die Realität der Massenmedien". Und fährt fort: "Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf bauen, daran anschließen müssen."

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   "Im Zentrum der Katastrophe" heißt ein vom Notfallarzt und Chirurgen Richard Munz im Campus Verlag erschienenes Buch, das im Untertitel deutlich macht, worum es hier gehen soll: "Was es wirklich bedeutet, vor Ort zu helfen". Im Vorwort schreibt Munz, der seit über 20 Jahren für verschiedene nationale und internationale Hilfswerke im Einsatz ist: "Das Bild der Katastrophe, welches durch die Berichterstattung der Medien in der Öffentlichkeit entsteht, beschränkt sich meist auf oberflächliche Schlaglichter und sehr überzogene Darstellungen von Opfern und Helfern. Leider werden dadurch oft völlig unrealistische Erwartungen geweckt, die in der Wirklichkeit nur sehr selten erfüllt werden können."

Was tatsächlich "hinter den fett gedruckten Schlagzeilen" steckt, schildert Munz anschaulich und liefert dabei nützliche und hilfreiche Aufklärung. So erfährt man etwa, dass beim Erdbeben im iranischen Bam an Weihnachten 2003 innerhalb von Stunden aus dem ganzen Land 9.000 Freiwillige des Iranischen Roten Halbmonds in die zerstörte Stadt geeilt waren und unter anderem über 10.000 Verletzte in weiter weg gelegene Krankenhäuser evakuiert hatten; dass indische Soldaten bereits wenige Stunden nach dem Beben eingetroffen waren und Überlebende bei ihren Suchaktionen unterstützten sowie Schwerverletzte versorgten und evakuierten; dass acht iranische Suchhunde in den ersten Tagen mehr als 200 Verschüttete aufgespürt hatten. Iranische Suchhunde? "Ich denke, es dürfte eine ziemliche Neuigkeit für die Öffentlichkeit in Europa sein, dass es überhaupt gut ausgebildete iranische Suchhunde und hoch motivierte einheimische Hundeführer gibt", schreibt Munz. Wohl wahr und auch einigermaßen befremdlich, dass in den Massenmedien, die doch immer vorgeben, auf der Suche nach interessanten Geschichten zu sein, davon nichts zu hören und lesen war.

   Geschieht irgendwo auf der Welt eine Katastrophe, sehen wir zuerst Bilder vom Unglücksort in den Medien, hören und lesen wir Interviews mit Augenzeugen und Überlebenden, erfahren wir, dass Helfer auf dem Weg in das Katastrophengebiet seien. "Ein paar kurze Kameraschwenks über die Gruppe der Helfer, die schwer bepackt durch Abflughallen hetzt – das Logo der Organisation immer gut sichtbar , vielleicht noch einige hastige Worte von einem der Helfer, der zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr weiß als der hartnäckig fragende Journalist. Zu mehr bleibt keine Zeit, jede Minute zählt, so scheint es." Nur eben: "Bis die ersten ausländischen Helfer im Katastrophengebiet allerdings wirklich effektive Hilfe leisten können, werden noch mehrere Tage, oft sogar Wochen vergehen." Und woran liegt das? An den Entfernungen und an den logistischen Herausforderungen.

Munz erläutert dies am Beispiel des Tsunami vom 26. Dezember 2004. Am 29. Dezember, zwei Tage später also (wegen der Urlaubssituation zwischen Weihnachten und Neujahr), war das Rot-Kreuz-Team – ein Arzt, zwei Krankenschwestern, zwei Krankenpfleger, eine Laborantin – zusammengestellt; der Abflug mit einer eigens gecharterten Frachtmaschine war auf den 31. Dezember vorgesehen. 12 Tonnen Material wurden auf dem Flughafen Köln-Bonn verladen. Aus flugtechnischen Gründen konnte die Maschine erst am folgenden Tag starten. Das Ziel war Medan auf Sumatra. Zwischenstopp in Fujairah, Oman ("Sofort wurde eine Weltkarte aus einem Taschenkalender ausgepackt, um herauszufinden, in welchem Teil der Welt wir uns denn jetzt befanden und wie weit wir noch von unserem endgültigen Ziel in Indonesien entfernt waren"). Mangels Visa durfte niemand den Flughafen verlassen. Am nächsten Tag ging es weiter nach Colombo, Sri Lanka, zum Auftanken. Darauf Weiterflug nach Medan, wo jedoch der Flughafen gesperrt war, weil die vielen eingetroffenen Flugzeuge nicht entladen werden konnten und somit keine Standplätze zur Verfügung standen. Der Flugnavigator, mit Munz im Cockpit über eine Landkarte gebeugt, fragt diesen, wo sie jetzt landen sollen. Wegen der verbliebenen Reichweite blieb nur Malaysia übrig. Sie entschieden sich für Penang. "Das war am Abend des zweiten Januars. Inzwischen war eine Woche seit dem Tsunami vergangen. Und die Zeit der Improvisation schien erst zu beginnen."

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   In den Massenmedien kommen solche Geschichten kaum vor. Das hat wesentlich damit zu tun, dass Massenmedien andere Aufgaben haben, als uns darüber aufzuklären, wie die Dinge so sind (obgleich sie es gelegentlich auch tun). Ihre Hauptaufgabe ist, den Medieneigentümern zu einer Gewinnsteigerung (nein, ein Gewinn reicht heutzutage nicht mehr) zu verhelfen. Anders gesagt: Wer die Medien überzeugen will, "dass es bessere Kriterien für die Beurteilung von Hilfsmaßnahmen gibt als spektakuläre Bilder oder dramatische Geschichten", verkennt ihr Wesen. Zum einen, weil dies vielen Medienleuten durchaus bekannt ist. Dann aber auch, weil Medienleute wissen, was die Chefredaktion zuhause will – eben spektakuläre Bilder und dramatische Geschichten. Und nicht zuletzt, weil die Informationsaufgabe der Massenmedien nur eine Aufgabe unter anderen ist (die Unterhaltung ist ungleich wichtiger) und zudem immer hinter ihrer Hauptaufgabe, der Sicherstellung der Rendite, zurückzutreten hat.

"Nach Katastrophen im Ausland wird von den Heimatredaktionen aus Kostengründen … meist der Journalist losgeschickt, der zufällig mit seiner Kamera in der Nähe des Geschehens ist. Sachkenntnis wird in diesen Situationen immer noch für eher nebensächlich gehalten."

Dass den Kosten mehr Gewicht beigemessen wird als der Sachkenntnis, das ist ja nicht nur bei den Medien so. Keine Frage, Sachverstand ist wichtig, doch für eine Organisation (ob Medien oder humanitär) gibt es Wichtigeres – dass der eigene Betrieb so geschmiert wie möglich weiter läuft, zum Beispiel.

   Als ich als frischgebackener Rot-Kreuz-Delegierter, das war 1993, meinte, ich würde jetzt bestimmt da eingesetzt, wo ich über die meiste Erfahrung verfügte, wurde ich schnell eines Besseren belehrt: anstatt nach Südostasien, wo ich mich – ich hatte einige Jahre dort gelebt – recht gut auskannte und wo es auch eine Rot-Kreuz-Delegation gab, wurde ich nach Malawi geschickt, das ich zuerst auf der Karte suchen musste; anstatt im Bereich Information eingesetzt zu werden (ich verfügte über mehrjährige Erfahrung aus Buchverlagen und hatte da unter anderem eine Journalismus-Buchreihe herausgegeben), kam ich als "délégué terrain" zum Einsatz. Dass ich mich ins Rot-Kreuz-System einfügen lernte, war wichtiger als meine Sachkenntnis.

Doch bleiben wir bei den Medien: die Annahme, dass Medien, wenn sie es denn wirklich wollten (und einige wollen das in der Tat und geben sich auch entsprechend Mühe), die Wirklichkeit abzubilden vermöchten, wird zwar allgemein angenommen, ist deswegen jedoch noch lange nicht wahr. Wahr ist, dass die Medien die Wirklichkeit, die in den Medien vorkommt, erst schaffen. Sie tun dies, zuallererst, indem sie auswählen, was sie zeigen wollen und, vor allem, was sie nicht zeigen wollen. Sie definieren Bezugspunkte, stellen Ordnung und Sinn her, geben Kontext vor. Die Realität wird ersetzt durch eine Medienrealität – und diese wird zu einem Selbstgänger, da sich die Medien vorwiegend daran orientieren, was andere Medien machen. Besondere Bedeutung kommt hier der New York Times zu: mit einer Print-Auflage (wochentags) von gerade einmal 1.240.420 Exemplaren (Stand: 31. März 2007) schafft sie es, dass die Themen, die sie setzt, von Medien rund um den Globus aufgegriffen werden (und dass entsprechend ganz viele andere Themen auf der Strecke bleiben).

Die Uniformität ist atemberaubend: alle Massenmedien, weltweit, so scheint es, scheinen dieselben Nachrichten- und Bilder-Präferenzen zu haben. Diese Gleichförmigkeit ergibt sich nicht aus der beobachteten Wirklichkeit, sondern entsteht im Innern der Massenmedien, in den Köpfen der Medienleute, nach Regeln. Das gilt ebenso für dokumentarische Filme. Auch diese entstehen im Kopf einer Produzentin oder eines Redakteurs. Als gelungen empfindet ein Filmemacher seinen Film, wenn er es fertig bringt, seine vorgefertigten Ideen überzeugend zu illustrieren.

  Die Wirklichkeit ist medial nicht vermittelbar, der Informationsanspruch der Medien, angesichts der Anzahl von Berichterstattern vor Ort (große Zeitungen verfügen meist gerade mal über zwei Korrespondenten für den ganzen afrikanischen Kontinent – einen in Nairobi oder Kairo, einen in Kapstadt oder Johannesburg) sowie der Sendezeit (bei CNN gelten drei Minuten als Hintergrundbericht) mutet eigentlich grotesk an. Doch es gilt auch, was Herbert Riehl-Heyse in der Süddeutschen Zeitung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 geschrieben hat: "Es sind, ganz ohne Zweifel, auch große Stunden der Aufklärung, die wir in diesen Tagen erleben [...] Es ist diesmal überdurchschnittlich viel zu erfahren gewesen [...] Gleichzeitig schaffen 70 Stunden Fernsehberichterstattung aber auch die Illusion von Aufklärung. Wer als Zuschauer tagelang immer noch eine 'Tagesschau' sieht oder einen 'Brennpunkt' oder ein 'ZDF-Spezial' [...], der mag irgendwann denken, er habe nun wirklich alles mitbekommen, was man wissen muss: Und hat doch das meiste nicht gesehen [...]."

Wer in den Massenmedien präsent sein will, passt sich diesen an. Kaum einer, der sich in der Gegenwart von Medienleuten (und speziell einer Kamera) nicht bemühen würde, sich von seiner vorteilhaftesten Seite zu zeigen; kaum ein Public Relations-Mensch, der bei der Verbreitung seiner Propaganda nicht auf die zeitlichen Einschränkungen, denen Journalisten sich unterwerfen müssen (die Tagesschau kann nicht warten), Rücksicht nehmen würde.

Für Hilfsorganisationen gilt nicht nur die Maxime, so Munz: "Tue Gutes und rede darüber", sondern auch: "Und wenn du redest, achte darauf, dass eine Kamera und ein Mikrofon in der Nähe sind und dass du die Rolle des selbstlosen und unfehlbaren Helden gut und überzeugend darstellst." Dazu kommt, dass Medien und Hilfsorganisationen (die ja auf Geldspenden und deswegen auf Medienpräsenz angewiesen sind) nicht selten Hand in Hand arbeiten: "Oft sind die Medien bei ihrer Arbeit auf die logistische Unterstützung der Helfer angewiesen, um wirklich direkt am Geschehen präsent sein zu können. Und diese bekommen sie, weil sich die Helfer im Gegenzug gute Publicity versprechen." Die "embedded journalists" gab es lange bevor man von ihnen hörte.

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   "Humanitäre Hilfe ist das, was ihr mit uns macht, wenn es uns so richtig dreckig geht und wenn wir uns nicht dagegen wehren können" zitiert Munz einen ruandischen Arztkollegen, und kommentiert: "In diesem Zitat kommt der drastische Widerspruch zwischen den Klischees in der Mediendarstellung, die wir hier bei uns über Katastrophen und die nachfolgenden Hilfsoperationen immer noch pflegen, und der Wirklichkeit vor Ort, wie sie die Betroffenen erleben, sehr deutlich zum Ausdruck." Sicher, das auch, doch der Ruander bezog sich ja nicht auf die Mediendarstellung, sondern auf seine Sicht der Dinge vor Ort. Weshalb denn auch zu fragen wäre, ob professionelle humanitäre Hilfe wirklich so sinnvoll ist, wie Munz die Leser glauben machen will. Dies wiederum ließe sich besser beurteilen, wenn Journalisten, der Sache und der Aufklärung verpflichtet, mit Neugier, kritischer Distanz und der nötigen Zeit ausgestattet, berichten würden, was sich wirklich vor Ort zuträgt. Sicher, solcher Journalismus ist die Ausnahme, doch es gibt ihn, auch in den Massenmedien, man muss ihn nur zur Kenntnis nehmen wollen.

Erstveröffentlichung in "Die Gazette",
Nummer 17, 15. März 2008

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