Caminante, no hay camino, se
hace camino al andar
Antonio Machado
Wir leben in
Glaubenssystemen. Wir glauben, was uns hilft, uns sicher und wohl zu fühlen.
Und vor allem: wir glauben, was wir glauben wollen. Ganz verschiedene
Systeme haben wir geschaffen (die Juristerei oder die Bürokratie – zum
Beispiel), die alle ihren (hauptsächlich) gewollten Zweck erfüllen. So
ernährt die Juristerei die Juristen – die Regierung Blair hat, gemäß
dem Independent, in ihren neun Jahren an der Macht, mehr als 3.000
neue Strafgesetze geschaffen, was fast einem Strafgesetz (von all den andern
Gesetzen gar nicht zu reden) pro Tag im Amt entspricht –, und die Bürokratie
versorgt die Bürokraten. Nun haben diese vom Menschen (nicht von allen, doch
wesentlich von denen, die daran verdienen) geschaffenen Systeme es so an
sich, dass sie sich verselbständigen und wir alle nach und nach zu ihren
Opfern werden. Man denke etwa ans Geld, das uns alle im Würgegriff hat. Oder
man denke an die Massenmedien: "Was wir über
unsere Gesellschaft, ja über die Welt in der wir leben, wissen, wissen wir
durch die Massenmedien" schreibt Niklas Luhmann in "Die
Realität der Massenmedien". Und fährt fort: "Andererseits
wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht
trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber
nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien
entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge
zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem
Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf bauen, daran
anschließen müssen."
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"Im
Zentrum der Katastrophe" heißt ein vom Notfallarzt
und Chirurgen Richard Munz im Campus Verlag erschienenes Buch, das im
Untertitel deutlich macht, worum es hier gehen soll: "Was es wirklich
bedeutet, vor Ort zu helfen". Im Vorwort schreibt Munz, der seit über 20
Jahren für verschiedene nationale und internationale Hilfswerke im Einsatz
ist: "Das Bild der Katastrophe, welches durch die
Berichterstattung der Medien in der Öffentlichkeit entsteht, beschränkt sich
meist auf oberflächliche Schlaglichter und sehr überzogene Darstellungen von
Opfern und Helfern. Leider werden dadurch oft völlig unrealistische
Erwartungen geweckt, die in der Wirklichkeit nur sehr selten erfüllt werden
können."
Was tatsächlich
"hinter den fett gedruckten Schlagzeilen" steckt,
schildert Munz anschaulich und liefert dabei nützliche und hilfreiche
Aufklärung. So erfährt man etwa, dass beim Erdbeben im iranischen Bam an
Weihnachten 2003 innerhalb von Stunden aus dem ganzen Land 9.000
Freiwillige des Iranischen Roten Halbmonds in die zerstörte Stadt geeilt
waren und unter anderem über 10.000 Verletzte in
weiter weg gelegene Krankenhäuser evakuiert hatten; dass indische Soldaten
bereits wenige Stunden nach dem Beben eingetroffen waren und Überlebende bei
ihren Suchaktionen unterstützten sowie Schwerverletzte
versorgten und evakuierten; dass acht iranische Suchhunde in den ersten
Tagen mehr als 200 Verschüttete aufgespürt hatten. Iranische Suchhunde?
"Ich denke, es dürfte eine ziemliche Neuigkeit für
die Öffentlichkeit in Europa sein, dass es überhaupt gut ausgebildete
iranische Suchhunde und hoch motivierte einheimische Hundeführer gibt",
schreibt Munz. Wohl wahr und auch einigermaßen
befremdlich, dass in den Massenmedien, die doch immer vorgeben, auf der
Suche nach interessanten Geschichten zu sein, davon nichts zu hören und
lesen war.
Geschieht irgendwo auf der
Welt eine Katastrophe, sehen wir zuerst Bilder vom
Unglücksort in den Medien, hören und lesen wir Interviews mit Augenzeugen
und Überlebenden, erfahren wir, dass Helfer auf dem Weg in das
Katastrophengebiet seien. "Ein paar kurze
Kameraschwenks über die Gruppe der Helfer, die schwer bepackt durch
Abflughallen hetzt – das Logo der Organisation immer gut sichtbar
–,
vielleicht noch einige hastige Worte von einem der Helfer, der zu diesem
Zeitpunkt auch nicht mehr weiß als der hartnäckig
fragende Journalist. Zu mehr bleibt keine Zeit, jede Minute zählt, so
scheint es." Nur eben: "Bis die ersten
ausländischen Helfer im Katastrophengebiet allerdings wirklich effektive
Hilfe leisten können, werden noch mehrere Tage, oft sogar Wochen vergehen."
Und woran liegt das? An den Entfernungen und an den logistischen
Herausforderungen.
Munz erläutert dies am
Beispiel des Tsunami vom 26. Dezember 2004. Am 29. Dezember, zwei Tage
später also (wegen der Urlaubssituation zwischen Weihnachten und Neujahr),
war das Rot-Kreuz-Team – ein Arzt, zwei Krankenschwestern, zwei
Krankenpfleger, eine Laborantin – zusammengestellt; der Abflug mit einer
eigens gecharterten Frachtmaschine war auf den 31. Dezember vorgesehen. 12
Tonnen Material wurden auf dem Flughafen Köln-Bonn verladen. Aus
flugtechnischen Gründen konnte die Maschine erst am folgenden Tag starten.
Das Ziel war Medan auf Sumatra. Zwischenstopp in Fujairah, Oman ("Sofort
wurde eine Weltkarte aus einem Taschenkalender ausgepackt, um
herauszufinden, in welchem Teil der Welt wir uns denn jetzt befanden und wie
weit wir noch von unserem endgültigen Ziel in Indonesien entfernt waren").
Mangels Visa durfte niemand den Flughafen verlassen. Am nächsten Tag ging es
weiter nach Colombo, Sri Lanka, zum Auftanken. Darauf Weiterflug nach Medan,
wo jedoch der Flughafen gesperrt war, weil die vielen eingetroffenen
Flugzeuge nicht entladen werden konnten und somit keine Standplätze zur
Verfügung standen. Der Flugnavigator, mit Munz im Cockpit über eine
Landkarte gebeugt, fragt diesen, wo sie jetzt landen sollen. Wegen der
verbliebenen Reichweite blieb nur Malaysia übrig. Sie entschieden sich für
Penang. "Das war am Abend des zweiten Januars.
Inzwischen war eine Woche seit dem Tsunami vergangen. Und die Zeit der
Improvisation schien erst zu beginnen."
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In den Massenmedien kommen
solche Geschichten kaum vor. Das hat wesentlich damit zu tun, dass
Massenmedien andere Aufgaben haben, als uns darüber aufzuklären, wie die
Dinge so sind (obgleich sie es gelegentlich auch tun). Ihre Hauptaufgabe
ist, den Medieneigentümern zu einer Gewinnsteigerung (nein, ein Gewinn
reicht heutzutage nicht mehr) zu verhelfen. Anders gesagt: Wer die Medien
überzeugen will, "dass es bessere Kriterien für
die Beurteilung von Hilfsmaßnahmen gibt als
spektakuläre Bilder oder dramatische Geschichten",
verkennt ihr Wesen. Zum einen, weil dies vielen Medienleuten durchaus
bekannt ist. Dann aber auch, weil Medienleute wissen, was die Chefredaktion
zuhause will – eben spektakuläre Bilder und dramatische Geschichten. Und
nicht zuletzt, weil die Informationsaufgabe der Massenmedien nur eine
Aufgabe unter anderen ist (die Unterhaltung ist ungleich wichtiger) und
zudem immer hinter ihrer Hauptaufgabe, der Sicherstellung der Rendite,
zurückzutreten hat.
"Nach
Katastrophen im Ausland wird von den Heimatredaktionen aus Kostengründen
… meist der Journalist losgeschickt, der zufällig mit seiner Kamera in
der Nähe des Geschehens ist. Sachkenntnis wird in diesen Situationen
immer noch für eher nebensächlich gehalten."
Dass den Kosten mehr
Gewicht beigemessen wird als der Sachkenntnis, das ist ja nicht nur bei den
Medien so. Keine Frage, Sachverstand ist wichtig, doch für eine Organisation
(ob Medien oder humanitär) gibt es Wichtigeres – dass der eigene Betrieb so
geschmiert wie möglich weiter läuft, zum Beispiel.
Als ich als
frischgebackener Rot-Kreuz-Delegierter, das war 1993, meinte, ich würde
jetzt bestimmt da eingesetzt, wo ich über die meiste Erfahrung verfügte,
wurde ich schnell eines Besseren belehrt: anstatt nach Südostasien, wo ich
mich – ich hatte einige Jahre dort gelebt – recht gut auskannte und wo es
auch eine Rot-Kreuz-Delegation gab, wurde ich nach Malawi geschickt, das ich
zuerst auf der Karte suchen musste; anstatt im Bereich Information
eingesetzt zu werden (ich verfügte über mehrjährige Erfahrung aus
Buchverlagen und hatte da unter anderem eine Journalismus-Buchreihe
herausgegeben), kam ich als "délégué terrain" zum
Einsatz. Dass ich mich ins Rot-Kreuz-System einfügen lernte, war wichtiger
als meine Sachkenntnis.
Doch bleiben wir bei den
Medien: die Annahme, dass Medien, wenn sie es denn wirklich wollten (und
einige wollen das in der Tat und geben sich auch entsprechend Mühe), die
Wirklichkeit abzubilden vermöchten, wird zwar allgemein angenommen, ist
deswegen jedoch noch lange nicht wahr. Wahr ist, dass die Medien die
Wirklichkeit, die in den Medien vorkommt, erst schaffen. Sie tun dies,
zuallererst, indem sie auswählen, was sie zeigen wollen und, vor allem, was
sie nicht zeigen wollen. Sie definieren Bezugspunkte, stellen Ordnung und
Sinn her, geben Kontext vor. Die Realität wird ersetzt durch eine
Medienrealität – und diese wird zu einem Selbstgänger, da sich die Medien
vorwiegend daran orientieren, was andere Medien machen. Besondere Bedeutung
kommt hier der New York Times zu: mit einer Print-Auflage
(wochentags) von gerade einmal 1.240.420
Exemplaren (Stand: 31. März 2007) schafft sie es, dass die Themen, die sie
setzt, von Medien rund um den Globus aufgegriffen werden (und dass
entsprechend ganz viele andere Themen auf der Strecke bleiben).
Die Uniformität ist
atemberaubend: alle Massenmedien, weltweit, so scheint es, scheinen
dieselben Nachrichten- und Bilder-Präferenzen zu haben. Diese
Gleichförmigkeit ergibt sich nicht aus der beobachteten Wirklichkeit,
sondern entsteht im Innern der Massenmedien, in den Köpfen der Medienleute,
nach Regeln. Das gilt ebenso für dokumentarische Filme. Auch diese entstehen
im Kopf einer Produzentin oder eines Redakteurs. Als gelungen empfindet ein
Filmemacher seinen Film, wenn er es fertig bringt, seine vorgefertigten
Ideen überzeugend zu illustrieren.
Die Wirklichkeit ist medial
nicht vermittelbar, der Informationsanspruch der Medien, angesichts der
Anzahl von Berichterstattern
vor Ort (große Zeitungen verfügen meist gerade mal
über zwei Korrespondenten für den ganzen afrikanischen Kontinent – einen in
Nairobi oder Kairo, einen in Kapstadt oder Johannesburg) sowie der Sendezeit
(bei CNN gelten drei Minuten als Hintergrundbericht) mutet eigentlich
grotesk an. Doch es gilt auch, was Herbert Riehl-Heyse in der Süddeutschen
Zeitung nach den Anschlägen vom 11. September 2001
geschrieben hat: "Es sind, ganz ohne Zweifel, auch
große Stunden der Aufklärung, die wir in diesen
Tagen erleben [...] Es ist diesmal überdurchschnittlich viel zu erfahren
gewesen [...] Gleichzeitig schaffen 70 Stunden Fernsehberichterstattung aber
auch die Illusion von Aufklärung. Wer als Zuschauer tagelang immer noch
eine 'Tagesschau' sieht
oder einen 'Brennpunkt'
oder ein 'ZDF-Spezial'
[...], der mag irgendwann denken, er habe nun wirklich alles mitbekommen,
was man wissen muss: Und hat doch das meiste nicht gesehen [...]."
Wer in den Massenmedien
präsent sein will, passt sich diesen an. Kaum einer, der sich in der
Gegenwart von Medienleuten (und speziell einer Kamera) nicht bemühen würde,
sich von seiner vorteilhaftesten Seite zu zeigen; kaum ein Public
Relations-Mensch, der bei der Verbreitung seiner Propaganda nicht auf die
zeitlichen Einschränkungen, denen Journalisten sich unterwerfen müssen (die
Tagesschau kann nicht warten), Rücksicht nehmen würde.
Für Hilfsorganisationen
gilt nicht nur die Maxime, so Munz: "Tue Gutes und
rede darüber", sondern auch: "Und wenn du redest,
achte darauf, dass eine Kamera und ein Mikrofon in der Nähe sind und dass du
die Rolle des selbstlosen und unfehlbaren Helden gut und überzeugend
darstellst." Dazu kommt, dass Medien und Hilfsorganisationen (die ja auf
Geldspenden und deswegen auf Medienpräsenz angewiesen sind) nicht selten
Hand in Hand arbeiten: "Oft sind die Medien bei
ihrer Arbeit auf die logistische Unterstützung der Helfer angewiesen, um
wirklich direkt am Geschehen präsent sein zu können. Und diese bekommen sie,
weil sich die Helfer im Gegenzug gute Publicity versprechen." Die
"embedded journalists" gab es lange bevor man von
ihnen hörte.
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"Humanitäre
Hilfe ist das, was ihr mit uns macht, wenn es uns so richtig dreckig geht
und wenn wir uns nicht dagegen wehren können" zitiert Munz einen ruandischen
Arztkollegen, und kommentiert: "In diesem Zitat
kommt der drastische Widerspruch zwischen den Klischees in der
Mediendarstellung, die wir hier bei uns über Katastrophen und die
nachfolgenden Hilfsoperationen immer noch pflegen, und der Wirklichkeit vor
Ort, wie sie die Betroffenen erleben, sehr deutlich zum Ausdruck." Sicher,
das auch, doch der Ruander bezog sich ja nicht auf die Mediendarstellung,
sondern auf seine Sicht der Dinge vor Ort. Weshalb denn auch zu fragen wäre,
ob professionelle humanitäre Hilfe wirklich so sinnvoll ist, wie Munz die
Leser glauben machen will. Dies wiederum ließe
sich besser beurteilen, wenn Journalisten, der Sache und der Aufklärung
verpflichtet, mit Neugier, kritischer Distanz und der nötigen Zeit
ausgestattet, berichten würden, was sich wirklich vor Ort zuträgt. Sicher,
solcher Journalismus ist die Ausnahme, doch es gibt ihn, auch in den
Massenmedien, man muss ihn nur zur Kenntnis nehmen wollen.
Erstveröffentlichung in
"Die Gazette",
Nummer 17, 15. März 2008 |