...... Aspekte zur Poetik meines eigenen Schreibens und Treibens (1)
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Die Frage nach der Poetik zielt für den literarisch Schreibenden ganz automatisch auf die letztlich eigene Poetik. Trotzdem wäre eine panoramatische Orientierung im poetologischen Feld der Herausarbeitung und Standortbestimmung einer solchen eigenen Poetik nicht ganz abträglich. Anstatt nun aber "akademisch" eine Art Lexikonartikel über das, was Poetik bisher hieß, zusammenzustellen und die Zuhörerschaft zu langweilen, behelfe ich mich einer indirekten Herangehensweise, indem ich Stichworte zum eigenen literarischen Werdegang locker mit poetologischen Themen verknüpfe. Im Laufe meines Schreiberlebens habe ich etliche Aufzeichnungen und Exzerpte zur Poetik gemacht, die von mir als Bausteine, als Elemente einer künftigen eigenen, dann durchformulierten Poetik, die Hand und Fuß hätte, vorerst in Ordnern abgelegt und abgelagert wurden. Die seinerzeit etwas melagoman-frühreife Vorstellung, vielleicht eines Tages selber gar eine "Frankfurter Poetikvorlesung" halten zu dürfen, hat mich diesbezüglich ehrgeiziger gemacht, als es sinnvoll gewesen wäre. Viele jener bei Suhrkamp erschienenen 'Frankfurter Poetikvorlesungen'(2) war ich im Laufe der Jahre durchgegangen, wobei mich der subjektive Charme dieser Versuche bestach, da er mich von der Strenge philosophischer, aufs Allgemeine zielender Arbeit entlastete. Ich komme ursprünglich von der Philosophie her, die mir nicht genügte: In den kalten Hallen des Allgemeinen, Allgemeingültigen fühlte ich mich zum Wurm herabgedrückt, trotz aller Beschwörungen eines durch die Philosophie zu bewerkstelligenden "aufrechten Gangs". Mein Leben einem allgemeinen Muster, weniger einer Matrix als einer Patrix, zu unterwerfen, den Subjektverzicht oder gar den "Unterwerfungstod" (Horst-Eberhard Richter) auf mich zu nehmen, konnte mir nicht schmecken. Das "sustine et abstine" des Epiktet – zu deutsch: "trage und entsage" –, mundete mir zu bitter; die Kärrnerarbeit am Bau der Wissenschaften wurde mir durch die schlechten Aussichten am akademischen Arbeitsmarkt auch nicht gerade versüßt. "Ein Käfig ging einen Vogel suchen", heißt es bekanntlich einmal bei Kafka. Doch auch umgekehrt sucht manchmal der Vogel, besonders der Grünschnabel, seinen zu ihm passenden Käfig, immer dann, wenn er freiwillig sich einer allgemeinen Ordnung, einem allgemeinen Prinzip, einer Weltanschauung, Ideologie, Religion, aber auch einer "Ästhetischen Theorie" oder eben einer Poetik, einer "Schule" oder ganz einfach – was dann oft nicht "ganz einfach" wird – einem in diesen Dingen erfahreneren Menschen als "Meister" sich in selbstverschuldeter Unmündigkeit unterzuordnen bereit findet. Also könnte hinsichtlich der Fragestellung unseres diesjährigen Strobler Zusammentreffens zunächst einmal die Unterscheidung getroffen werden zwischen einer heteronomen und einer autonomen Poetik. Wirkliche "Naturtalente" sind selten, und kämen sie vor, würden sie im Laufe der schulischen Sozialisation bald beirrt werden. Kein Schreiber fällt geradewegs vom Himmel. Nicht nur legt sich nicht von selbst die vollentwickelte Sprache auf die Zunge des Kleinkindes, sondern auch das Schreiben will erlernt sein, was oft mühsam sich gestaltet. Zwar gibt es die pubertätstypischen Anflüge zu genialischem Dichten, doch schon diese Jünglingsversuche (was entspricht beim weiblichen Geschlecht dem "Jüngling" mit all seiner pathetischen Befrachtetheit?) sind epigonenhaft anderen Dichtern abgelauscht: Als Gymnasialschüler las man Gryphius, Hölderlin, Trakl, Stefan George, Brecht, Hans Magnus Enzensberger – und dann wurde vielleicht in einem geheimen schwarzen Wachstuchheft in nachempfindender Weise der empfangene Ton und Rhythmus stimmgabelnachklingend aufgegriffen, für sich selber paramimetisch billig abgezweigt. Es war bereits der Schulunterricht, namentlich Deutschunterricht, der einerseits zu eigenen Schreib- und Dichtversuchen mich angeregt, andererseits mich aber auch konsterniert hatte. Dass die Verskunst eine komplizierte Lehre sei, hat mich selber damals das Schreiben frei-rhythmischer Zeilen als ein "verbotenes Schreiben" empfinden lassen. Sei es gesagt: Vermutlich durch Schiller-Dramen sowie durch die Bibel-Lektüre bin ich zu ersten – mehr noch dramatischen als lyrischen – Dichtversuchen gelangt, die Weltuntergänge zum Inhalt hatten. Wenn man einmal von den kindlichen Versuchen von früher absieht, Gelegenheitsgedichte und Texte komischer Natur zu schreiben, die noch herzhaft und unbekümmert um irgendwelche "Lehren" aus dem Vollen griffen, so wie es sich dem Kinderblick naiv darbot, ausschließlich auf den Effekt, auf das Gefallen, auf die Erheiterung und den Applaus des Publikums bedacht. Ohne auch nur das Wort "Gesamtkunstwerk" vernommen zu haben, stellte ich den Untergang von Atlantis als Bühnengeschehen dar und improvisierte gleichsam im "Orchestergraben" ausschweifend auf dem Klavier dazu, entwarf aber auch die Bühnenbilder und Choreographien. 'Atlantis oder Die Tilgung des Firmaments' waren diese Skizzen betitelt. Auf Atlantis, das unmittelbar vor dem Untergang stand, war ein kultischer Massenwahn ausgebrochen: Durch das Opfern von Menschen hoffte man, die Sterne ausradieren zu können, man wollte die "totale Nacht“ auf dem Himmel herstellen. Da es aber mehr Sterne auf dem Himmel gibt als Atlantier, versinkt die stolze, in sich abgeschlossene Insel, auf der ich die Erfindung des Teleskops anachronistisch vorwegnehmen ließ, zuerst im Blutvergießen, dann im Ozean, in einem Ozean voll Blut. Dass Atlantis einst eine Handelsmacht war, war den Atlantiern dieser Spätzeit in Vergessenheit geraten, die nur mehr den Blick auf den Sternenhimmel als einer ewigen, nicht zu Ende kommenden Aufgabe des Ausradierens sowie auf den Boden gerichtet hatten, auf dem sie sich bewegten und in ihren Häusern vor den "Racheengeln" des von der Priesterkaste beherrschten Staates verschanzten, aus denen sie von den Bütteln herausgetrieben wurden, die mattgoldene Augenbinden trugen, durch die aber Sehschlitze geschnitten waren. Es war ein auf den Kopf gestellter, pervertierter ägyptischer Totenkult: es war der Kult, nicht die Toten zu konservieren (was ja auch die Pyramidenspitze der altägyptischen Kollektivbemühung, förmlich deren hieratischen Staatszweck darstellte), sondern durch stellvertretendes Töten die Sterne – sonst oft Symbole für die dahingeschiedenen, in den Himmel nunmehr versetzten Seelen – vom Himmel wegzubekommen, "diesen glitzernden Schotter vom Firmament zu wischen". Warum? Weil diese Sterne einen unermesslichen Plural bedeuteten, eine Vielzahl anderer Welten. "Die Vollzähligkeit der Sterne" (Hans Blumenberg) sollte in den schwarzen Sack der Vernichtung, der Annihilation gelangen. Die späte Atlantis wollte einzig sein, einzig auf der Welt, einzig im All, funkelnd in der Nacht, von Bergerz-Mauern umgeben, auf einem schwarzen, ihren ganzen Horizont ausmachenden Ozean. Der Gottkönig dieses Staates hatte – in meinem Drehbuch – den Rat der Unterkönige ausgeschaltet und sich an die Spitze gesetzt. Er war der Mono-Theós. In der finalen Szene sehen wir ein letztes Häuflein Aufrechter und dem nekrophilen Massenwahn Un-Erlegener, die mit einem Ruderboot sich absetzen können, mit ungewisser Zukunft in der Weite des Meeres dahinschaukeln. Denn der spätatlantische Tilgungswahn war so weit gegangen, auch die Erdkarten und Archive des Welthandel treibenden Atlantis zu verbrennen und damit das geographische sowie navigatorische Wissen der großen atlantidischen Vergangenheit. Ich war damals, 1977, vierzehn Jahre jung und besuchte die vierte Klasse des Akademischen Gymnasiums in Salzburg. Erst ab 1978 wurde mir allmählich die Dimension der nationalsozialistischen Vergangenheit bekannt. Unser Haushalt, ein Lehrerhaushalt, der drei Generationen beherbergte ("Urahne, Großmutter, Mutter und Kind / In dumpfer Stube beisammen sind"), war konsequent fernseherlos, autolos und der Plattenspieler, den wir nebst einer einzigen Schallplatte mit Johann-Strauß-Walzern ('An der schönen blauen Donau') von einer Großtante geschenkt bekamen, funktionierte nicht. Jeder Versuch meiner beiden älteren Brüder, sich lange Haare wachsen zu lassen, wurde beschnitten – einmal von der Großmutter frühmorgens, als sie noch schliefen; mit der Schere schnitt sie ihnen ganz einfach die wieder einmal zu lang gewordenen "Zotten" ab. Über den massivhölzernen Betthäuptern der "Buben" waren kleine Kruzifixe, die oben einen kleinen Ring hatten, an einem Nagel befestigt und konnten perpendikulär von uns aus Langeweile in Bewegung gesetzt werden, sodass mit der Zeit auf den Betthäuptern halbkreisförmige Kratzspuren entstanden. Am verbotensten war, diese Kreuze um den Nagel rotieren zu lassen – wurden wir dabei erwischt, setzte es Körperstrafen. Knien auf Holzscheitern, Einsperren in den Kohlenkeller, Hiebe mit dem Pracker aufs entblößte Hinterteil, Ohrfeigen sowieso. Jene etwa 13 Zentimeter langen Kreuze waren, wie ich erst kürzlich herausgefunden habe, Brustkreuze, sogenannte Pektoralien von Frontgeistlichen aus dem Ersten Weltkrieg. Das Makabre daran war zusätzlich, dass zu Füßen des Angenagelten sich ein silberner Totenkopf auf schwarzem Grund befand. Ohne damals auch nur von den Totenkopfverbänden der SS gehört zu haben, erfüllte mich ganz besonders vor diesen kleinen Totenköpfen bereits im Vorschulalter nur Grauen. "Das werden einmal eure Sterbekreuze sein", sagte die Großmutter mütterlicherseits, uns zu beruhigen, die bei uns im Haus lebte und den Großteil des Haushalts besorgte, eine "Kriegerwitwe", deren beiden Söhne in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges gefallen waren, zu uns Jungen, die wir übrigens in den Betten dieser unserer gefallenen Onkel jede Nacht dem gütigen und gestrengen Auge des Herrgotts sowie der Schutzmantelmadonna anvertraut wurden, schliefen oder dösten, verbotene Polsterschlachten veranstalteten oder an unseren Geschlechtsteilen einen würdigen Ersatz für das Feldgeistlichenkreuze-Bewegen zu entdecken begannen. Einen freilich noch verboteneren Ersatz. Es versteht sich von selbst, dass später Thomas Bernhard mein "Zungenlöser" werden würde – aber Bernhard begann ich erst 1984 zu lesen, mit 21 Jahren; es war das skandalisierte Buch 'Holzfällen', das mir zeigte, dass Opfer sich auch per Literatur rächen, subjektive Niederlagen in objektive Triumphe wenden konnten, dass Retourkutschen machbar sind. Ich las dann etwa drei Jahre hindurch der Reihe nach alles von Thomas Bernhard – ganz besonders in dem Buch 'Ursache' fand ich zahlreiche Parallelen zu dem häuslichen Klima, in dem auch wir aufwuchsen. Ein Teil meiner eigenen Geschichten aus meiner ersten ernstzunehmenden Schreibzeit handelt von der nacherlebenden Aufarbeitung meiner Kindheitssituation. Was mir schließlich klarer wurde: Es war nicht nur meine Kindheitssituation, sondern die vieler anderer meiner Generationsgenossen. Diese milieusoziologische Erkenntnis würde ich doch als ein Anzeichen von Reife an mir festhalten. Poetik hat es auch damit zu tun, das eigene Schreiben weniger zu messen als zu vergleichen mit schreibenden Vorgängern und Zeitgenossen, aber auch sich von den Wissenschaften, besonders der Geschichte informieren zu lassen. Das eigene Schreiben nicht auf Genie-Weise absolut zu setzen, sondern relativieren, in Beziehung setzen zu können zu einem weiteren literarischen Feld. Die Figur des "Poeta doctus" als Leitbild sogar manchmal, dem der Typus des "Polyhistors" in der Gelehrsamkeit entspricht. Sosehr ich mich immer gegen das "Brechen" von Menschen zur Wehr setzte und setze, muss ich doch erkennen, selber schließlich ein im Medium vielfältigster Reflexionen gebrochener Schreibercharakter geworden zu sein. Mehr ein Leser als ein Schreiber. Wochenlang oft nur gelesen – nicht nur "literarische" Literatur, sondern auch wissenschaftliche aller Art im Selbststudium – und nicht eine einzige Zeile selber geschrieben. Oft war und bin ich nur dieser "Gar-nix", der Leser halt, der manchmal pro Tag vierzehn Stunden am Stück durchgelesen hat, so den ganzen Freud beispielsweise sich einverleibend. Lesen als Ausdauersport. Bei diesen Studien, die keine akademisch geregelten, sondern Privatstudien sind, verliere ich noch immer mein eigenes Schreiben wochenlang aus den Augen. Sie als "Arbeit" zu bezeichnen fiele mir nicht ein, als Mühe schon. Warum tut sich ein Mensch dieses an? Bevor ich diese Frage beantworten werde, möchte ich mein bisheriges Schreiberleben in fünf, teilweise noch immer ineinanderspielende Stadien teilen:
Der Traum des Stadiums 4, mich neu zu erschaffen, mir gleichsam einen neuen Leib, eine durch "Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten" regenerierte Geschichte mir erschreiben zu können, mich mit einer Schutzhaut zu überziehen, mich lückenlos einzulackieren, mir existenziale Massivität oder auch einen ideoplastischen Astralleib-zu-Lebzeiten zu erlesen und zu erschreiben, keiner "Sinnlosigkeit" – und sei es auch nur der geringsten – eine Chance in meinem Leben mehr gebend, alles in einen poetischen Kosmos integrieren, rückholen zu können – dieses "apokatastatische" (3) Konzept ist an ein Ende gelangt, ist gescheitert. Und es wäre dem auch mit verstärktem Fleiß nicht nachzuhelfen. "Eine gefallene Schreibfeder muss man gleich aufheben, sonst wird sie zertreten." (Goethe, 'Maximen und Reflexionen') Sie ist bei mir längst von mir selber, durch meine Säumigkeit, Planverweigerung, Verlotterung zertreten und zertrampelt. Naturgemäß bot die Tagebuch-, die Journalform sich ganz von selbst an, ein solches Kontinuum sich einzubilden.(4) Aber auch die Briefform, vor allem, wenn das Du, dem ich solche Briefe schrieb, ein Du der Liebe war. Vielleicht bin ich in diesen Monaten, manchmal Jahren sogar des Briefe schreibenden Verliebtseins wirklich in meine Texte eingewickelt wie eine Rose gewesen. Eine schwebende, über alles hinweggleitende, immerglühende Existenz. Auch der Tag spielte sich mit seinen Begebenheiten ihr zu, der eudämonische Zufall war oft ihr hold.(5) Ernst Bloch schrieb einmal von den Versuchen des Menschen, "menschenähnlich" zu werden. Ich hatte von irgendeinem Zeitpunkt weg einmal geglaubt, "noch kein richtiger Mensch" zu sein und am Menschsein – auch durch Aufnehmen von Bildungsgut – "arbeiten" zu sollen. An der Wurzel ist ein Empfinden von Mangel. Einen Schaden abbekommen zu haben, an dem ich aber arbeiten könne, aus dem ich mich herausarbeiten könne. Warum einen Schaden abbekommen? Ich war versucht, auch durch Vorbilder in Literatur und Wissenschaften verleitet, die Ursache für jenen Schaden nicht in mir, sondern in anderen zu suchen – oder im kapitalistischen Wirtschaftssystem, im noch weiterwirkenden Faschismus, verursacht zu sehen durch das Werk meiner Erzieher (ich hatte z.B. meine eigene Mutter als Volksschullehrerin und musste sie in der Schule vor den anderen Kindern siezen). Ich sah den Schaden nicht durch die Konstitution meines sterblichen und unvollkommenen Körpers, meiner vielleicht nur durchschnittlichen Intelligenz, nicht durch die Schwerkraft, nicht durch meine Gene, nicht durch die "Erbsünde" bedingt. "Entfremdung" war und ist ein Wort für mich, das noch immer gilt – in allen seinen Dimensionen. Es hat in meiner Kindheit auch eine sich über zwei Jahre hinziehende sexuelle Missbrauchsgeschichte durch einen Klavierlehrer gegeben, dies nur am Rande. Mein Leben begann ich ab einem gewissen Alter – dem der von anderen ertappten Geschlechtsreife – als ein "beschädigtes" wahrzunehmen. Ich führte ein neurotisches, halbentjungfertes, selbstbeschädigendes, melusinenhaftes Leben bisexuell-prägenitalen Verzaubertseins, das unter den vitalen Möglichkeiten eines erwachsenen Mannes blieb. Wenn mir jemand helfen wollte, musste ich ihn von mir stoßen; mir ist in Kernfragen – denn die sind die bis in den Kern, den es vielleicht gar nicht gibt, beschämenden – noch nie zu helfen gewesen. Alles galt es auf eigenem Wege mir geradezu zu erstalken. Wenn ich in Bibliotheken ging, dann beutemachend. Alle diese Beschäftigungen mit Literatur und Philosophie, Psychoanalyse sowie Mythologie waren auch verbohrte, verzwickt-und-verzwackte, skrupulöse Selbstheilungsversuche sowie Paranoia-Verwischungsversuche im Hexenkessel der Vorwürfe, die mir von meiner Umgebung wegen dieser "brotlosen Studien" zunehmend gemacht wurden. Am schwersten fällt mir, mir mein eigener Einband zu sein. Es gelingt mir nur unter allergrößter Selbstüberwindung, meine sicher hunderten, um nicht zu sagen tausenden Notizen – jede für sich geschliffen – in Buchform einzusargen, obwohl ein solches Festbegräbnis, wie es eine Buchveröffentlichung jedesmal darstellt, etwas Erhebendes auch hätte. Statt etwas zu vernichten, ist es besser, es zu veröffentlichen. Die Hälfte meiner Tagebücher aus meinen Lebenszwanzigerjahren habe ich, da ich ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte, in Stücke gerissen und entsorgt. Als Fragmentarist oder sagen wir Notizenmacher sind meine Vorbilder: Georg Christoph Lichtenberg, Nietzsche, Paul Valéry, Ludwig Hohl, Elias Canetti, Peter Handke auch. Zwar sind meine Notizen für sich geschliffen, wie Projektile oder Blitze aus meinem brütenden Denken hervorgeschossen und treffen auch, aber sie zu gruppieren ist ein Lebenswerk für sich schon. Ludwig Hohl hatte in seiner Genfer Kellerwohnung jahrzehntelang auf Wäscheleinen seine Notizseiten aufgehängt, sie immer wieder umhängend, davor sinnend, rauchend, trinkend. "Alkohohl" wurde er bereits genannt. Er konnte sich nicht entschließen, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen, denn es gibt keine. Er hatte dieses Problem lange meditiert, vielleicht auch von seiner Zuneigung zu Spinoza auf den Gedanken gebracht, die Notizen "more geometrico" anordnen zu können, schließlich aber musste er doch sich mit Heraklit behelfen, dass die schönste Ordnung in einem "Haufen durcheinandergeworfener Dinge" bestünde. Nicht grundlos hatte Lichtenberg seine Aufzeichnungen 'Sudelbücher' genannt. Nicht im Detail wird gesudelt, sondern in der "Architektur" des ganzen. Es wird kein Turm draus, nur eine ewig vor sich hinrottende Babylonische Baustelle. Übrigens kannte auch Nietzsche dieses Problem: mit immer schlechteren Augen aus der Vielzahl seiner Aufzeichnungen den Hauptbau eines Welt und Werte umstürzenden Werkes 'Der Wille zur Macht' aufzuziehen. In meiner Trilogie 'Steine und Bausteine' habe ich mich selber an diesen Problemen – teilweise ironisch und meinen glücklicherweise vorhandenen jederzeitigen Hang zur Groteske nutzend – abgearbeitet. Ich fasse dies in einem meiner Lieblingssätze zusammen: Das Schwierigste an der Schriftstellerei ist die Stellerei. Da mir immer noch seit der Phase 2 (ich nannte sie das pubertäre "Geniestadium") ein philosophisches Hauptwerk, ein Groß-Essay mit dem Titel 'Die Ethik der Unabgeschlossenheit' vorschwebt, zu dem ich bisweilen Materialien, Bausteine herantrage, wird meine Erleichterung nur darin zu finden sein, immer schwerelosere Gedanken als Luftballons, als Seifenblasen vor mir aufsteigen zu lassen. Der Fragmentarismus ist also für mich das Naheliegende, meiner Emmentalernatur gemäß. Ein weiterer Behelf – wenn ich so als Coach in eigener Sache mich mal instruieren darf – wäre die modernere Vorstellung, künftig in Projekten zu denken, also auch – wie Raimund Bahr – zu einem Textfabrikanten zu werden. Nicht mehr mich als ohnmächtiger Zauberer(6) in den zeichenübersäten Schutzmantel des Schreibens hüllend, sondern mich auf Projekte einlassend, diese beginnend und an ein Ende führend – und müsste ich die Deadlines immer erst im letzten Augenblick erhecheln. Also trotz aller Unabgeschlossenheits-Vorgaben doch auf den Abschluss drängend, den andererseits doch so lustvollen Schlusspunkt setzen könnend. Einen erwachsenen Liebesroman könnte ich zum Beispiel nicht schreiben. Erschwingbar ist mir aber die Groteske. Hier war die Begegnung mit dem Werk von Witold Gombrowicz das schlechthin mich Freisetzende. Noch immer empfehle und verschenke ich seinen Roman 'Ferdydurke', als mein definitives Lieblingsbuch. Dieser Autor hatte es zustande gebracht, mich, diesen Tanzmuffel, stundenlang nachts alleine auf einer Parkbühne tanzen zu lassen. Gerade in 'Ferdydurke' nahm ich eine Reihe interessanter Symmetrien wahr, die literaturwissenschaftlich noch nirgendwo analysiert worden sind. Und ich nehme solche Symmetrien auch bei meinem eigenen Erzählen wahr, das leider so selten geschieht und doch weitaus origineller ist als das Aphorismen-Schreiben. Ein guter Aphorismus ist ja so beschaffen, dass er jederzeit auch von einem anderen guten Aphoristiker stammen könnte. Der Aphorismus steht der Philosophie noch nahe, die auch dem Allgemeinen mehr als dem Besonderen gewidmet ist; zwar ist er ein Splitter des Besonderen, der aber ins Allgemeine fällt. Das oft erst nachträgliche Entdecken der Symmetrien, der Kreise, die sich schließen, der Entsprechungen im Schreiben von Erzählprosa selbst, ist faszinierend. Diese Figuren tun sich von selber auf, sie sind wie der Lohn für die Bemühung, drangeblieben zu sein. Oder in der Selbstbehextheit durch das Schreiben werden im Schreibprozess selber plötzlich diese Figuren erkennbar bzw. tun sich auf. Nur in diesen Momenten bin ich mir ganz sicher, doch ein Autor zu sein. Denn hier gelingt es mir, ins Neue vorzustoßen und nicht das Altbekannte und Vorausgeplante nur zu reduplizieren. Um diese vielleicht noch etwas änigmatisch klingenden "inneren Geometrien" erzählender Prosa zu konkretisieren, möchte ich aus einem kürzlich entstandenen Erzähltext eine Passage bringen:
Bevor ich diese im Wesentlichen selbsterlebte Geschichte schrieb, war mir noch nie der Gedanke gekommen, das Trauma des Bruders, vom Links- zum Rechtshänder "umsatteln" zu müssen, mit dem Armverlust des Großvaters mütterlicherseits in Beziehung zu setzen – der frühe Tod des Großvaters war wiederum ein Trauma der Mutter, die mit vierzehn ihren Vater verloren hatte. So kann in diesem Fall Schreiben plötzlich heimliche familienbiographische Lineamente sichtbar machen, die Textur des von Sigmund Freud so genannten "Familienromans". Zum Abschluss möchte noch eine leidige Frage kurz angesprochen werden: die Frage der schriftstellerischen Existenz. Witold Gombrowicz meinte, man würde zum Schriftsteller, indem man nur lange genug "Schriftsteller spiele". Wirst du gefragt: "Kannst du vom Schreiben leben?", weichst du in die Poetik aus; sollst du deine Poetik formulieren, sprichst du stattdessen ausführlich vom Prekären des "Berufs Schreiben". Die Frage, ob der Schriftsteller "vom Schreiben leben" könne, ist eine durchaus gemeine, die andere Leute nichts angeht, es sei denn, sie wollten einem Geld geben oder einen Auftrag. Mit dieser Frage halten sie sich schadlos, zwar einen womöglich langweiligen Beruf, keinen Wunschberuf gewählt zu haben, aber immerhin dafür über ein geregeltes Einkommen zu verfügen. Wirklich prominenten Schriftstellern wird diese Frage auch nicht gestellt. Vom Schriftsteller wird wenigstens erwartet, dass er, wenn er auch mit seinem Schreiben noch nichts Nennenswertes verdiene, so doch seinen Wunschberuf gewählt habe. Man erwartet – und nicht nur sein Publikum erwartet das –, dass er seinen Schriftstellerberuf existenzialisiere, ihn als sogenannte "Berufung" lebe. Dieser Jargon, der von "Berufung" spricht, erinnert an den Klerus, in dem bei Priestern auch von deren "Berufung" gesprochen wird, obwohl es viele recht langweilige Priestergestalten gibt, deren innere Flamme längst erloschen ist oder nie vorhanden war. Dass man in den Schriftstellerberuf jedoch einfach hineinrutschen, hineinschlittern könnte, sich in ihm auf einmal vorfinde, wird selten erörtert oder einbekannt. Raimund Bahr z. B. nennt sich einen "Textfabrikanten", Günter Herburger setzte fürs Schreiben eigene "Bürozeiten" fest, Hermann Lenz sprach von Schriftstellerpärchen, die zusammen "eine Schriftstellerei aufmachen". Auch gibt es manchmal "Werkstattgespräche" mit AutorInnen. Alles Versuche, das Herstellen von Literatur mit Analogien aus anderen Produktionsverhältnissen und Arbeitswelten zu legieren und zu konkretisieren. Alexandre Dumas etwa schrieb seine Bestseller möglicherweise nicht alleine selbst. Gar 51 Bücher in den 1840er Jahren? Es wird öfters behauptet, dass er seine Romane im großen Umfang von anderen schreiben ließ und dann nur kurze Passagen hinzufügte oder Streichungen vornahm und abschließend das Manuskript großzügig mit dem Siegel seiner Autorschaft versah.(7) Bei Dumas hätten wir dann wirklich im gar nicht mehr ironischen Sinne einen klassisch kapitalistischen Textfabrikanten des 19. Jahrhunderts, der andere, anonym bleibende Mitarbeiter beschäftigt, möglicherweise sogar ausbeutet. Herburgers Konzept dagegen gleicht einer Ich-AG, die sich mit Hilfe der Bürofiktion stabilisiert, die "Schriftstellerei" von Lenz hingegen einer Offenen Handelsgesellschaft. Dann gibt es auch noch manchmal den dezidiert sich proletarisch verstehenden Autor, der sich einen "Arbeiter" nennt und seine Produktion entsprechend rationalisiert und übergeordneten revolutionären Maßgaben unterwirft, sie in diesem Sinne effektiviert. Bei der "Werkstatt" ist noch Zünftig-Handwerkliches im Spiel oder sie ist der bildenden Kunst angelehnt: Die "Werkstatt" wäre somit das Atelier des Autors, das vielleicht gar nicht räumlich bestehen muss, sondern nur im Kopf "vorhanden" sein kann. Der Reiseschriftsteller führt sowieso meist nur eine kleine, transportable Habe mit sich und bezieht eine Menge verschiedener Unterkünfte, einschließlich die unter freiem Himmel. Diese Beispiele mögen genügen, um feststellen zu können: Die soziale Lage, "Stellung" des Autors ist eine prekäre, nicht klar festlegbare. Nur sekundär werden aus anderen Berufsbranchen habituelle Muster und Rollen je nach Neigung entlehnt. Vom Dandy oder dem Poète maudit haben wir übrigens noch gar nicht gesprochen. Eine selbsterlebte Anekdote noch: Auf dem Höhepunkt Wirtschaftskrise des Jahres 2008 zogen viele Kunden aus Angst vor einer Hyperinflation ihre Sparguthaben von den Banken ab, der sogenannte "Bank-Run" stand im Bereich des Möglichen. Sie versuchten an diesen Tagen, ihre Sparvermögen z.B. in Gold sicherer anzulegen; sehr bald rückten die Geldinstitute kein Gold mehr heraus. Ich hingegen hatte damals vor, in der Raiffeisenkasse von Gallneukirchen ein Sparbuch zu eröffnen und brachte in meiner Tasche einen Betrag von 15.000 Euro mit. Man denkt: Die Banken könnten doch froh sein, wenn zur Abwechslung einer mal in diesen unsicheren Zeiten nicht sein Konto auflöst, sondern sogar eines – und sei es gegen jede Vernunft – eröffnen möchte. Doch dieser vermeintlich simple Routinefall gestaltete sich zu einer halbstündigen Prozedur, weil auf einmal verlangt worden war, dass der Kunde seinen Beruf angeben müsse. Als ich "Schriftsteller" angab, begann für den jungen Schalterangestellten und mich ein mühsames, ja schweißtreibendes nicht so heiteres Beruferaten. Den Beruf des Schriftstellers gab es nämlich ganz einfach nicht! Auf seiner Screen überblickte der Bankangestellte eine wohl dreistellige Liste von unterschiedlichen Berufen – darunter so entlegene Berufe, dass ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal von ihnen überhaupt gehört hatte –, jedoch keinen Schriftsteller, Autor, Dichter ja sowieso nicht. Wieder einmal machte ich die mich vor den Kopf stoßende Erfahrung, keinen "gescheiten" Beruf zu haben. Der Bankangestellte half mir aus der Klemme, indem er mich nach 20-minütigem gemeinsamen Herumprobieren schließlich mit meiner nur sehr zögernden Einwilligung unter "holzverarbeitende Industrie" einordnete. Wohl war mir dabei nicht. Thomas Bernhard, um ein starkes Beispiel zu nehmen, hätte also ohne eine solche Lüge in Oberösterreich auf dem Land im Jahre 2008 kein Raika-Sparbuch eröffnen können. Anders herum: Wäre Franz Kafka vor Gericht gestanden, hätte es geheißen: "Der Beschuldigte, Dr. jur. Franz Kafka, Versicherungsangestellter", nicht Schriftsteller – und hätte er bis dahin schon seine unsterblichen Werke verfasst gehabt. Höchstens "Versicherungsschriftsteller" wäre als Berufsbezeichnung gerade noch durchgegangen. Über seinen sogenannten "Brotberuf" schrieb Kafka an Milena Jesenská allerdings: "Mein Dienst ist lächerlich und kläglich leicht ... ich weiß nicht wofür ich das Geld bekomme".(8)
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