Wenn
dir jemand sagt, deine Herkunft sei zu gering, dann antworte (und antworte
auch dir): "Irgendwann muss man sich selber sein eigener Vater werden." Die
Herkunft ist nur der Zubringer, etwa der Bus, zur Felswand – klettern musst
du nun selber. Einem Kletterer, der sich tapfer dem Gipfel bereits nähert,
nun vorzuwerfen, er sei ja "nur" mit dem Bus oder "nur" zu Fuß angekommen
statt mit dem Privatjet oder Heli, ist lächerlich, kommt als "Einwand" gegen
den Wandbezwinger ja gar nicht in Betracht. So verhält es sich beim Denker
auch irgendwann einmal mit der Frage nach seiner "Herkunft": ob er nun zu
Fuß, mit Bus oder Bahn oder mit dem Privatjet ankam. Oder – so hätten es
manche Sonnenkinder am liebsten – am besten gleich vom Himmel
gefallen. Sollen diese zusehen, nicht von der Wand zu fallen!
Mit mentaler Arbeit ist es
durchaus möglich, ja wäre es unter Umständen ein Leichtes, sich über
innerlich Annagendes hinwegzusetzen. Auf einmal, etwa nach einer ausgiebigen
Nietzsche-Lektüre, sind "Probleme", die einen monatelang deprimierten, in
ihrer relativen Nichtigkeit erledigt. Zugleich erschrickt man, wie der
seelische Unrat einen schon wieder überschwemmt hatte, ohne dass man es so
recht merkte oder eine Kur dagegen anpackte. – Vielleicht erklärt sich die
LESESUCHT auch daraus, dass alle diese Lektüren als Antidota noch nicht
genug anschlagen, dass es eines kräftigeren Trunkes bedarf, um endlich über
das innerlich Quälende sich hinwegzusetzen und in ein gutes, beständig
produktives Fahrwasser zu kommen. Die ewige Lektüre, so sie uns nicht
wirklich zu einem stärkeren Leben verhilft, kann selbst Bestandteil
des Gesamtquälerischen sein. In bestimmten Lebensabschnitten ist es Gift,
sich etwa Buddha zu widmen, um die Last der Welt zu relativieren: das Abtun
der einen bedrückenden Welt als "Maya" kann ja auch ein Mittel sein, selber
sich – vermeintlich – zu kräftigen. Also doch, wie Nietzsche sagte, ist hier
der "Wille zur Macht" untergründig wirksam.
Wir
sollten nicht, wenn uns das Widrige förmlich entgegenschlägt und uns die
alltäglichsten Dinge quälen, uns davon deprimieren lassen, sondern es als
Anzeichen dessen werten, dass nun der ANSTIEG beginnt; es wird auf einmal
steil, wir seufzen und stöhnen, möchten eine Weile zurückfallen, ins Bett
zurück, in die Betäubung, in die Abwesenheit zum Schmerzenden, an irgendeine
Mutterbrust oder an einen uns als Nachen unserer Träumereien dienenden
soliden, sommersprossigen Freundesnacken oder uns unter eine Achsel
flüchtend, als kleines sich zusammenrollendes Kätzchen (das wir ja
nicht sind – machen wir uns solches nicht länger vor!); sich in die Illusion
zu wiegen, ohne irgendeine Leistung "gut" zu sein, ein "nettes Wesen" zu
haben, die Augen davor zuzudrücken, dass das nur ein schöner Glaube, nur ein
Wiegenlied ist, das wir uns, obwohl erwachsen, selber summen.
"Am SEIN zuerst arbeiten,
an SICH arbeiten …" – warum nicht eher an unseren WERKEN? Das SEIN wird sich
daraus schon ergeben: als Glücks-Schimmern, das vom Smaragd der Werke
abstrahlt.
Zumindest ist es ein
praktisch-dialektisches Verhältnis zwischen SEIN und WIRKEN. – Andererseits,
soviel sei den Freunden des SEINS konzediert, kommt ein SEIN noch nicht
unbedingt dann zustande, wenn wir lediglich Werk an Werk reihen, wenn wir
zum Fließband unserer eigenen Produktion werden. Es hat das mit dem SEIN
schon eine gewisse Richtigkeit; aber dem SEIN kann durch Werke
nachgeholfen werden. Es ist ein Parallelgedanke zu der alten lutherischen
Debatte der sogenannten "Werkgerechtigkeit"; Luthers Antwort war bekanntlich
einseitig: gnadenhalber sind wir, sind wir gerechtfertigt. Doch es
ist ja auch ein dialektisches In- und Nacheinander denkbar – rein praktisch
betrachtet: das Glücksgefühl, wenn wir etwas geleistet haben, das auch uns
selber zufriedenstellt, ist der Schimmer der "Gnade". So wie man von einem
großen Künstler manchmal sagt, er sei "begnadet". Das bedeutet nicht, dass
er nicht gearbeitet hätte.
Doch,
ich finde, VÖLLIG verkehrt wäre es, in sein SEIN (was ist das überhaupt?)
hineinzustarren, als käme erst DARAUS das Recht zu eigenen Werken … Oder
darauf zu warten, es förmlich zu ERKRIECHEN, dass irgend so ein angeblicher
"Meister des Seins" uns die "Erlaubnis" gibt, nun, da wir Seins genug
sind (das bestimmt
er, der Meister des Seins; nach welchen Kriterien? – und er
hält uns hin, bis wir alt werden …), zu schaffen. Die "Arbeit am Menschen"
ist mir daher verdächtig; warum reicht nicht einfach Arbeit? – Also
man arbeite, lerne (auch vor allem selbst, autodidaktisch, probiere, wähle,
verwerfe – wiederum selber –), lerne von jemandem "etwas ab", um
diesen guten Ausdruck, den auch Nietzsche verwendet, zu gebrauchen (und
wären es Gemälde alter Meister im Louvre), dann schließlich wage man sich
einmal doch hervor … Und das Werk mag ankommen, mag nicht ankommen, mag kaum
ankommen, es mag auch die Zeit dafür noch nicht reif sein, genug: man hat
etwas getan. Und bilde man sich nur nicht ein, ZUERST vollkommen werden zu
müssen, bevor man etwas schaffen dürfe. Mit Sartre es diesbezüglich halten,
der zu seinen Kritikern sagte: "Kritisiert meinetwegen dieses Buch –
Hauptsache, das nächste wird besser!"
Man muss nicht alles
SOFORT können – oder ZUVOR alles können wollen, bevor man "überhaupt
dürfe", sondern eine gewisse Munterkeit im Schritt sei doch
schließlich erlaubt. Dir übrigens von dir selbst erlaubt. Wie auch
eine Studienzeit limitiert auf vier, fünf, vielleicht sechs Jahre ist und
nicht in alle Ewigkeit fortgesetzt werden sollte: zumindest auf einem
anderen Niveau muss man sie fortsetzen, nicht mehr auf dem des
Studenten. "Studieren" muss man sein ganzes Leben, wir haben niemals,
solange wir leben, ausgelernt, Lernen IST gewissermaßen LEBEN und Leben ist
Lernen. Aber nicht mehr als ewig devotes und ZUGLEICH übermütiges,
überhebliches Studentchen: dieses Kennzeichen einer Unreife und
Unsicherheit, nämlich unterwürfig UND überheblich zu sein, abwechselnd
himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, das ist geradezu die Formel des
Sich-noch-nicht-gewonnen-Habens, wie sie den (auch den begabten)
Studierenden meist charakterisiert.
"Mit
'SEIN' meine ich: ihr müsset zuerst große Ficker und kulinarische Feinspitze
werden, Hobbyhaubenköche und Galane, bevor ihr etwas, außer banalerweise
Kinder, in die Welt setzen dürftet …", so spricht der uns verhindernde UND
verführen wollende "Meister" – der "Lehr- und Lebemeister". Und dann sagt er
auch noch die alte Banalität (ein Zahnrädchen steckt obendrein am Revers
seines Jacketts): "Zuerst muss der Mensch gehorchen, bevor er
befehlen
darf." Und da wir immer noch nicht zu begreifen scheinen, brüllt er uns ins
Gesicht (sein Atem stinkt, das merken wir erst jetzt): "Leben
heißt abgetötet werden! Wir alle wurden nicht, was wir einst werden
wollten." Soviel dieser "allseitige" Mensch auch kann, er kann
nichts ganz – er ist lediglich doch nur ein Bourgeois, der auf "Adel"
macht. Er ist auch in seinem Fach dann nicht auf der Höhe (er bedarf des
Bluffs, des Anschnauzens, ihm fehlt der generöse Luxus des Weisen, ja er ist
alles, nur eben kein Philosoph – auch wenn "Philosoph" sein ausgewiesener
Beruf ist). Lernen wir lieber daher auf eigene Faust! Die Bücher
stehen uns ja offen; wenn keine Lehrer uns zuträglich sind, dann halten wir
uns an die Bücher – oder an uns selber. Oder an die Natur. Werden wir unsere
eigenen Lehrer!
Andererseits: der
SCHNEE-LEOPARD hat doch ein Sein!
Doch wenn dir jemand (etwa
ein Schauspiel-Lehrer, oder eine Geliebte deiner Jugendjahre) zuruft: "SEI!
SEI endlich!", was sollst du dann tun, was kannst du in einer solchen
Situation dann tun?
Zu einem 60 Kilo schweren
Mann sagt jemand: "SEI 80 Kilo, auf der Stelle!" Wie soll er das machen?
Soll er sich aufblähen? Sich in sich zusammendrücken, um auf diese Weise
"sich schwer zu machen"?
"SEI!" (als Aufforderung)
bedeutet: gehe aus dir heraus, VERKÖRPERE dich, ERSCHEINE!" Gerufen, wie zu
einem Geist: "Erscheine!" Komm' aus deiner Ecke heraus, zeige dich!
Und dann sagt der
Schauspiellehrer (vielleicht an Stanislawskij geschult): "Ich sehe nichts …
Wie lange soll ich noch warten? Na?! Wird´s? – Nein, untalentiert.
Der Nächste bitte!" (Und dann sind wir vor den Kopf geschlagen.)
Dabei ist, nach Nietzsche
auch, das SEIN des Schauspielers ein prekäres. Unsicheres. Mediales! Ja, es
kann bei ihm (an uns allen, mehr oder weniger?) sogar von einem "Mangel an
Sein" gesprochen werden. Und dieses soll dann auf der Stelle, in Anbetracht
einer Rolle, herausgezogen werden – aus jenem Nichts.
Es
sollen einige daran zugrunde gegangen sein, dass man ihnen sagte, sie hätten
"zuwenig Sein". Ihr Verhängnis war, dass sie glaubten, dass es so etwas
überhaupt gäbe. Dass es eine AUTORITÄT diesbezüglich gäbe. Dass vom Spruch
dieser Autorität ihr Wert, ihr Sinn abhinge. Sie schnappten danach,
vergeblich, sie schnappten danach, das ihnen abgesprochene Sein wurde vor
ihren aufschnappenden Mäulern immer höher gehängt, wie man "den Brotkorb
höher hängt" – und dann hatte
man sie. Sie waren darauf dressiert, ziemlich schnell, von einem SEINSGEBER
abzuhängen: und er, der sich einen "begnadeten Lehrer" schimpft, hielt jenen
SEINSKORB, in dem nichts war, immer höher. Nein, sie schnappten von selbst,
sie schnappten nach Luft … Sprangen hoch, schnappten, sprangen hoch,
schnappten – und konnten sich nie erringen. – Was war das für ein Lehrer?! –
Er sei verworfen! (Und trotzdem springen diese noch immer hoch.)
Es gibt zumindest eine
Ausnahme, will mir scheinen (es mag etwas romantisch klingen): der Mut zur
LIEBESERKLÄRUNG! Hier musst du aus dir heraustreten, oder wenn wir so sagen
wollen: zu deinem Sein kommen. Dein Sein in die Waagschale werfen. Sonst
hast du deine Chance verloren. Wie die junge hübsche Wanderschauspielerin in
Jules Boissières Opiumraucher sagt: "Aber die jungen Männer liebten
mich, ohne dass sie den Mut hatten, es auszusprechen und, da sie nichts
sagten, hörte ich oft in der Stille des Augenblicks ihre Herzen schlagen."
Keiner nahm es auf sich, ihrem Wander- und Abenteuerleben, das mit Armut und
Unstete verbunden war, zu folgen: "enttäuscht von den Beschwerden, die sie
für die Liebe auf sich nehmen müssten, abgeschreckt von meinem Traum und
verzehrt, weil sie mich nur leicht berührt hatten, wieherten sie nach dem
ehrbaren heimischen Stall, wo ihre Familien friedlich und satt verdauten!" |