Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Sind wir noch bei Trost?

Einige Gedanken zu gewissen politischen Tendenzen der Gegenwart

Wollen wir allen Ernstes eine scheußliche Welt verwirklichen – eine noch viel scheußlichere
als die jetzige, die schon scheußlich genug ist, aber wenigstens manchen Lichtblick enthält? Wollen
wir uns wirklich verschwören zu einer Arbeitsgemeinschaft der Verbitterten und Unerbittlichen? Wäre das
ein Ideal, für das es wert wäre zu leben, zu kämpfen, auch gegebenenfalls zu sterben? Oder glauben
wir, es müsste alles noch viel schlimmer werden, dass es einmal wieder besser werden könnte?
Sind wir so verzweifelt inzwischen? Ist der Frust so groß, dass wir niemandem, der noch
lebt und sich freut, dieses Leben und diese Freude gönnen können?

Von Peter Hodina
(01. 06. 2009)

...




(c) Reinhard Winkler

Peter Hodina
peterhodina [at] hotmail.com

geboren 1963 in Salzburg.
Studium der Theologie, Philo-
sophie, Politikwissenschaft
und Publizistik in Salzburg.
Lebt und arbeitet als freier
Autor in Gallneukirchen
(Österreich) und Berlin.

Preise
Harder Literaturpreis
(2000). Förderpreis der
Rauriser Literaturtage (2004).

Veröffentlichungen
Die Meuterei der Lemminge
,
Essay (Hecht-Druck, 2001).

Homepage
Peter Hodina

 

 

 

 

 

Ein Kennzeichen der Ver-
rohten ist, dass sie immer
nur in Gruppen denken,
nicht in Personen. Alles
aus Gruppenzugehörigkeiten
ableiten: sich selbst, doch
auch ihre Opfer. Der Ein-
zelne tritt für sie nicht in
Erscheinung, auch sie
selber fühlen sich nicht
mehr als Einzelne.

 

 

 

 

 

 

 

Eine menschliche Gesell-
schaftswelt, die ausschließ-
lich "Kampf ums Dasein",
"bellum omnium contra
omnes" geworden wäre,
wäre ziemlich unerträglich.
An jeder Straßenecke, selbst
wenn man bloß einkaufen
oder sich die Beine vertreten
möchte, müsste man sich
auf Raufereien gefasst
machen.

 

 

 

 

 

 

Manche Jugendliche, im
Frieden aufgewachsen und
den Nervenkitzel suchend,
auch im Gefühl ihrer wach-
senden Kräfte, liebäugeln
mit einer solchen Welt, in
der die Kampfkünste
zuoberst stünden.

 

 

 

 

 

 

 

Es wäre sicherlich ein
 extremer Standpunkt, zu
wünschen bzw. zu fordern,
dass die Gesellschaft in
eine des Kampfes aller
gegen alle als des wahren
Naturzustandes
übergeführt würde.

 

 

 

 

 

 

 

 

Was sämtliche dieser
Leute verkennen, ist die
Funktionsweise totalitärer
Systeme. Dass dies büro-
kratische
Systeme sind. Dass
dort die Opfer nach endlos
langen Listen eingefangen
werden, abgeholt in ihren
Wohnungen, meist zu früher
Morgenstunde. Dass eine
Gruppe abkommandierter
bewaffneter Schergen, roh
und dumm, eventuell einem
Einstein oder Mozart ohne
weiteres den Kopf
einschlagen können.

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn die Hyänen sich
zusammenrotten würden
und auf eine "Schwarze
Liste", eine Proskriptionsliste
sämtliche Löwen setzten,
dann würden sie den König
der Tiere, der das schönste
und stärkste Tier ist, zur
Strecke bringen, erledigen.

 

 

   "Denn sie wissen nicht, was sie tun" – im Vollsinne von "wissen", nämlich es spüren – und zwar vollständig (könnte je einer den Schmerz des Andern stellvertretend übernehmen?). Wenn sie (die Täter) es in diesem Vollsinne wüssten, sie könnten es nicht tun. Sie tun es, also wissen sie es nicht und spüren es noch weniger. Spürten sie es aber, spürten sie bewusst im vollen Sinne die Qualen ihrer Opfer, dann WÄREN sie ja selber ihre eigenen Opfer auf der Stelle. Sie wissen also wirklich nicht, was sie tun, was sie da anrichten. Werden sie es nachträglich noch einmal spüren, zu spüren bekommen? Wer an ein "Jüngstes Gericht" glaubt oder ans Karma, glaubt es, ohne Rachsucht, sogar voll vorauseilendem Mitgefühl. Ihnen und uns allen wäre zu wünschen die Wandlung, die Verwandlung. – Doch so viele spüren ja nicht einmal sich selber. Wie sollten sie Andere dann spüren? – Bekommen sie aber umgekehrt diese Anderen zu spüren, so oder so, dann spüren sie immerhin sich noch.

"Deine Sünden sind dir vergeben" – viel therapeutischer jedoch: "Deine Verfehlung ist gewichen" (Jesaia 6, 7, übersetzt von Martin Buber).(1)

   Die in Bezug auf das Leiden ihrer Opfer gefühllosen Täter sind zugleich Zeugen ihrer eigenen Tat; sie sehen ihre Opfer nur von außen. Haben diese in extremer Weise objektiviert. Waren vielleicht schon lange, von Kindesbeinen an gewohnt, kannten nichts anderes, als keine einfühlende Verbindung zur Außenwelt zu haben. Sie hörten gleichwohl die Schreie der von ihnen Verletzten, sahen deren Abscheu, deren von Angst und Ekel gezeichneten Gesichter, sahen, wie diese sich abzuwenden versuchten, hörten die Vorwürfe, die Proteste, doch immer nur wie durch eine Panzerplatte getrennt, wie in einem Guckkasten zappelnde, an Seidenfäden aufgeknüpfte Flöhe. Gegenseitig rempelten sich die zur Schändung bereiten Kumpane an und lernten zu lachen, wenn einer dieser Seidenfäden wieder angezündet worden war. Des Einzelnen Lachen war immer ein gequältes gewesen – zu sehr spürte er die Trennung von der Welt als Makel. Erst als die Kumpane im Namen der Rohheit zusammenfanden, konnten sie diesen Makel mangelnder Humanität besser verdrängen, bis die FRAGE verschwand. Die FRAGE, was dieses sich vor Schmerzen krümmende andere Wesen IST, was es empfindet. Mehr noch: nicht WAS es empfindet, sondern WER es ist, der empfindet. Der Andere wurde ihnen nicht zum DU. Sondern nur zu einem "Du (und dann kommt ein jeweiliges Schimpfwort oder ein Wort, das ohne jede Berechtigung zu einem Schimpfwort gemacht wird)!"

Ein Kennzeichen der Verrohten ist, dass sie immer nur in Gruppen denken, nicht in Personen. Alles aus Gruppenzugehörigkeiten ableiten: sich selbst, doch auch ihre Opfer. Der Einzelne tritt für sie nicht in Erscheinung, auch sie selber fühlen sich nicht mehr als Einzelne – immer nur als Einzelne(r) einer Gruppe. Auch der Zuschlagende handelt im Namen seiner Gruppe, handelt verhetzt im Namen seiner Gruppe, in sich jedoch hegt er einen höchst privaten Groll, der so ein Ventil gefunden hat. Der als privater Groll kaum mehr kommuniziert wird. Dessen Spur sich unter den marschierenden Stiefeln der Gruppe verlaufen hat.

   Eine menschliche Gesellschaftswelt, die ausschließlich "Kampf ums Dasein", "bellum omnium contra omnes" geworden wäre, wäre ziemlich unerträglich. An jeder Straßenecke, selbst wenn man bloß einkaufen oder sich die Beine vertreten möchte, müsste man sich auf Raufereien gefasst machen. Es wäre ein höchst umständlich gemachtes Leben – eines permanenter Reibungen; statt ein funktionierendes von hoher komfortabler Zivilität ein Leben des Faustrechts, nur für junge starke Schläger zu bestehen. Wir alle müssten uns in Kampfkünsten üben, in denen wir uns vielleicht niemals hatten üben wollen, weil uns andere Künste viel mehr gefallen hatten. In einer vom Faustrecht verunstalteten und verstellten Welt kämen wir fast überhaupt nicht mehr vom Fleck. Selbst nur durch einen Park zu gehen, geschähe schon unter Gefahr für Leib und Leben. Man müsste andauernd spontane Arrangements treffen, mit den jeweiligen Bandenführern, die einem begegneten, Kontrakte schließen, Schutzgelder entrichten. Oder eben selber, so gut es geht, ein solcher Bandenführer oder Raubritter werden. Oder aber ein bewaffneter Einzelkämpfer, ganz allein auf sich gestellt. Es wäre ein Leben wie das von Tieren auf freier Wildbahn. Der Mensch unterschiede sich kaum mehr vom Tier. Das Zivilisationsniveau wäre recht niedrig.

Manche Jugendliche, im Frieden aufgewachsen und den Nervenkitzel suchend, auch im Gefühl ihrer wachsenden Kräfte, liebäugeln mit einer solchen Welt, in der die Kampfkünste zuoberst stünden. Computer-Rollenspiele (ob Morrowind oder – komplexer, gestaltenreicher – Degenesis) leben von solchem Phantasma. Oder auch Killerspiele, Kriegs-Simulationen (wie Call of Duty). Es ist aber ein anderes, diesem Phantasma vor dem Bildschirm zu frönen, als es draußen in der realen Wirklichkeit vorzufinden. Die Figuren, die man in Killerspielen abschießt, empfinden keinen Schmerz. Sie äußern zwar Schreie des Schmerzes und liegen dann – erledigt – in einer Blutlache da, aber es handelt sich um einen simulierten, einen einprogrammierten Schmerz. Mit anderen Worten: Das sind nicht ECHTE Menschen, sondern nur Attrappen, das sind nicht ECHTE Morde, sondern nur simulierte. Die meisten Spieler sind ja soweit bei Trost, dass sie unterscheiden können zwischen simulierter und wirklicher Welt. Bei einigen aber fehlt diese Fähigkeit, diesbezüglich zu unterscheiden.

   Es wäre sicherlich ein extremer Standpunkt, eine extreme Ideologie, zu wünschen bzw. zu fordern, dass die Gesellschaft in eine des Kampfes aller gegen alle als des wahren Naturzustandes übergeführt würde. Man KÖNNTE es so sehen – ich halte das übrigens auch seitens der Naturwissenschaften, etwa der Verhaltensforschung für höchst anfechtbar, ob wirklich dieser ununterbrochene Lebenskampf das Hauptthema der Natur wäre. Es gibt doch jede Menge Beispiele, wo verhältnismäßig untüchtig erscheinende Tiere – und nicht nur Parasiten – sich über Dutzende Millionen Jahre erhalten und behaupten konnten, darunter auch Tiere von beträchtlicher Größe. Ich nenne hier stellvertretend nur die Tapire und Kängurus, die es seit 50 Millionen Jahren schon gibt. Defensiv strukturierte Säuger, doch durchaus fähig, wenn es nötig würde, sich zu wehren – und dann mit Vehemenz. Ein Ausschlag des Roten Riesenkängurus mit seinem Stützschwanz – mit seinem Stützschwanz, der schließlich auch als Schlageschwanz taugen kann –, ist imstande, einem Verfolger alle Knochen zu brechen. Ebenso besitzt der gleichmütige Tapir die Fähigkeit zur hemmungslos alles ihm Feindliche niedertrampelnden, ja direkt rasenden Rache, die so legendär wie selten ist. Überhaupt fürchtet der Tapir das Feuer nicht.

Ich glaube übrigens dann doch, dass der Mensch noch etwas anderes als nur ein Tier ist, bzw., wenn ein Tier, dann ein ganz besonderes, sich von den übrigen Tieren ziemlich unterscheidendes. Zum Tierzustand zurückkehren zu wollen, sich gar davon die Heilung (sei es der überzivilisierten, neurotischen Seele, sei es die ökologische der Erde) zu versprechen, halte ich für so abwegig wie masochistisch. Und wieder wäre es nur eine Maske, Maskierung: der Mensch, der sich so zum "Tier" machte, wäre immer noch ein Mensch, der "Tier sein" (was er dafür hält) spielt. Nicht mehr.

   Hypothetisch aber – als bloßes Gedankenspiel, also um jenen Gedanken, jene Ideologie des totalen Lebenskampfes durchzuspielen – räume ich ein, die Anhänger eines derartigen Faustrechts könnten eventuell recht haben. Schnell, ich meine übereilt (die Zwischenschritte überspringend) langen solche Anhänger des Faustrechts bei der Befürwortung des Krieges um des Krieges willen oder bei der Ideologie der Waffen-SS, von "Todesschwadronen" oder ähnlichem an. Eine Töte- und Sterbefreudigkeit. "Todesverachtung", wie es einmal genannt wurde – und vielleicht nach über 60 Jahren wieder, wo wir das nicht brauchten und es uns auch nicht abgegangen ist, von Ewiggestrigen in unseren Sprachgebrauch erneut eingeschleppt wird.

Was sämtliche dieser Leute verkennen, ist die Funktionsweise totalitärer Systeme. Dass dies bürokratische Systeme sind. Dass dort die Opfer nach endlos langen Listen eingefangen werden, abgeholt in ihren Wohnungen, meist zu früher Morgenstunde. Dass eine Gruppe abkommandierter bewaffneter Schergen, roh und dumm, eventuell einem Einstein oder Mozart ohne weiteres den Kopf einschlagen können. Auch dass sie zu zehnt einen Weltmeister des Ringkampfs überwältigen könnten, sogar Schwächlinge dies vermöchten, wenn sie nur entsprechend bewaffnet sind. Verhältnismäßig minderwertige Kreaturen (obwohl ich dieses Wort "minderwertig" sonst nicht verwenden möchte) sind von einem Unrechtsstaat ermächtigt, unter Umständen allerwertvollste, ja allerfreundlichste, allersozialste Personen einfach so zu verhaften, einzukerkern, zu drangsalieren, zu ermorden. Wenn etwas die Bezeichnung "untermenschlich" verdiente, dann dieses. Als ritterlicher Charakter, der ein wenig Ehre nur (im Blut oder sonst wo) hat, muss man ob solcher Szenen äußerste VERACHTUNG empfinden. Und auch ein Staatsunwesen verachten, das solche Methoden praktiziert. Ja, man muss einen solchen Zustand der Staatsperversität dann BEKÄMPFEN. Und zwar entschlossen und ohne Nachsicht.

   Wenn die Hyänen sich zusammenrotten würden und auf eine "Schwarze Liste", eine Proskriptionsliste sämtliche Löwen setzten, dann würden sie den König der Tiere, der das schönste und stärkste Tier ist, zur Strecke bringen, erledigen. Es wäre das Mindere, was sich ausbreitete, was zur Plage der Erde würde.

Wollen wir also allen Ernstes eine scheußliche Welt verwirklichen – eine noch viel scheußlichere als die jetzige, die schon scheußlich genug ist, aber manchen Lichtblick wenigstens enthält? Wollen wir wirklich unser Leben geradezu weihen, uns regelrecht verschwören zu einer Arbeitsgemeinschaft der Verbitterten und Unerbittlichen an einer totalen, totalitären Verschlechterung der Welt? Ist das ehrenhaft, wäre das im geringsten ritterlich, von menschlich nun gar nicht zu reden? Wäre das ein Ideal, für das es wert wäre zu leben, zu kämpfen, auch gegebenenfalls zu sterben?

   Oder glauben wir, es müsste alles noch viel schlimmer werden, dass es einmal wieder besser werden könnte? Sind wir so verzweifelt inzwischen? Ist der Frust so groß, dass wir niemandem, der noch lebt und sich freut, dieses Leben und diese Freude gönnen können?

Sind wir denn noch bei Trost?

 

Anmerkungen

(1) Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 675.

Ausdrucken?

....

Zurück zur Übersicht