"Denn
sie wissen nicht, was sie tun" – im Vollsinne von "wissen", nämlich es
spüren – und zwar vollständig (könnte je einer den Schmerz des Andern
stellvertretend übernehmen?). Wenn sie (die Täter) es in diesem Vollsinne
wüssten, sie könnten es nicht tun. Sie tun es, also wissen sie es nicht und
spüren es noch weniger. Spürten sie es aber, spürten sie bewusst im vollen
Sinne die Qualen ihrer Opfer, dann WÄREN sie ja selber ihre eigenen Opfer
auf der Stelle. Sie wissen also wirklich nicht, was sie tun, was sie da
anrichten. Werden sie es nachträglich noch einmal spüren, zu spüren
bekommen? Wer an ein "Jüngstes Gericht" glaubt oder ans Karma, glaubt es,
ohne Rachsucht, sogar voll vorauseilendem Mitgefühl. Ihnen und uns allen
wäre zu wünschen die Wandlung, die Verwandlung. – Doch so viele spüren ja
nicht einmal sich selber. Wie sollten sie Andere dann spüren? – Bekommen sie
aber umgekehrt diese Anderen zu spüren, so oder so, dann spüren sie immerhin
sich noch.
"Deine Sünden
sind dir vergeben" – viel therapeutischer jedoch: "Deine Verfehlung ist
gewichen" (Jesaia 6, 7, übersetzt von Martin Buber).(1)
Die
in Bezug auf das Leiden ihrer Opfer gefühllosen Täter sind zugleich Zeugen
ihrer eigenen Tat; sie sehen ihre Opfer nur von außen. Haben diese in
extremer Weise objektiviert. Waren vielleicht schon lange, von Kindesbeinen
an gewohnt, kannten nichts anderes, als keine einfühlende Verbindung zur
Außenwelt zu haben. Sie hörten gleichwohl die Schreie der von ihnen
Verletzten, sahen deren Abscheu, deren von Angst und Ekel gezeichneten
Gesichter, sahen, wie diese sich abzuwenden versuchten, hörten die Vorwürfe,
die Proteste, doch immer nur wie durch eine Panzerplatte getrennt, wie in
einem Guckkasten zappelnde, an Seidenfäden aufgeknüpfte Flöhe. Gegenseitig
rempelten sich die zur Schändung bereiten Kumpane an und lernten zu lachen,
wenn einer dieser Seidenfäden wieder angezündet worden war. Des Einzelnen
Lachen war immer ein gequältes gewesen – zu sehr spürte er die Trennung von
der Welt als Makel. Erst als die Kumpane im Namen der Rohheit
zusammenfanden, konnten sie diesen Makel mangelnder Humanität besser
verdrängen, bis die FRAGE verschwand. Die FRAGE, was dieses sich vor
Schmerzen krümmende andere Wesen IST, was es empfindet. Mehr noch: nicht WAS
es empfindet, sondern WER es ist, der empfindet. Der Andere wurde ihnen
nicht zum DU. Sondern nur zu einem "Du (und dann kommt ein jeweiliges
Schimpfwort oder ein Wort, das ohne jede Berechtigung zu einem Schimpfwort
gemacht wird)!"
Ein Kennzeichen
der Verrohten ist, dass sie immer nur in Gruppen denken, nicht in Personen.
Alles aus Gruppenzugehörigkeiten ableiten: sich selbst, doch auch ihre
Opfer. Der Einzelne tritt für sie nicht in Erscheinung, auch sie selber
fühlen sich nicht mehr als Einzelne – immer nur als Einzelne(r) einer
Gruppe. Auch der Zuschlagende handelt im Namen seiner Gruppe, handelt
verhetzt im Namen seiner Gruppe, in sich jedoch hegt er einen höchst
privaten Groll, der so ein Ventil gefunden hat. Der als privater Groll kaum
mehr kommuniziert wird. Dessen Spur sich unter den marschierenden Stiefeln
der Gruppe verlaufen hat.
Eine
menschliche Gesellschaftswelt, die ausschließlich "Kampf ums Dasein",
"bellum omnium contra omnes" geworden wäre, wäre ziemlich unerträglich. An
jeder Straßenecke, selbst wenn man bloß einkaufen oder sich die Beine
vertreten möchte, müsste man sich auf Raufereien gefasst machen. Es wäre ein
höchst umständlich gemachtes Leben – eines permanenter Reibungen; statt ein
funktionierendes von hoher komfortabler Zivilität ein Leben des Faustrechts,
nur für junge starke Schläger zu bestehen. Wir alle müssten uns in
Kampfkünsten üben, in denen wir uns vielleicht niemals hatten üben wollen,
weil uns andere Künste viel mehr gefallen hatten. In einer vom Faustrecht
verunstalteten und verstellten Welt kämen wir fast überhaupt nicht mehr vom
Fleck. Selbst nur durch einen Park zu gehen, geschähe schon unter Gefahr für
Leib und Leben. Man müsste andauernd spontane Arrangements treffen, mit den
jeweiligen Bandenführern, die einem begegneten, Kontrakte schließen,
Schutzgelder entrichten. Oder eben selber, so gut es geht, ein solcher
Bandenführer oder Raubritter werden. Oder aber ein bewaffneter
Einzelkämpfer, ganz allein auf sich gestellt. Es wäre ein Leben wie das von
Tieren auf freier Wildbahn. Der Mensch unterschiede sich kaum mehr vom Tier.
Das Zivilisationsniveau wäre recht niedrig.
Manche
Jugendliche, im Frieden aufgewachsen und den Nervenkitzel suchend, auch im
Gefühl ihrer wachsenden Kräfte, liebäugeln mit einer solchen Welt, in der
die Kampfkünste zuoberst stünden. Computer-Rollenspiele (ob Morrowind
oder – komplexer, gestaltenreicher – Degenesis) leben von solchem
Phantasma. Oder auch Killerspiele, Kriegs-Simulationen (wie Call of Duty).
Es ist aber ein anderes, diesem Phantasma vor dem Bildschirm zu frönen, als
es draußen
in der realen Wirklichkeit vorzufinden. Die Figuren, die man in
Killerspielen abschießt, empfinden keinen Schmerz. Sie äußern zwar Schreie
des Schmerzes und liegen dann – erledigt – in einer Blutlache da, aber es
handelt sich um einen simulierten, einen einprogrammierten Schmerz. Mit
anderen Worten: Das sind nicht ECHTE Menschen, sondern nur Attrappen, das
sind nicht ECHTE Morde, sondern nur simulierte. Die meisten Spieler sind ja
soweit bei Trost, dass sie unterscheiden können zwischen simulierter und
wirklicher Welt. Bei einigen aber fehlt diese Fähigkeit, diesbezüglich zu
unterscheiden.
Es
wäre sicherlich ein extremer Standpunkt, eine extreme Ideologie, zu wünschen
bzw. zu fordern, dass die Gesellschaft in eine des Kampfes aller gegen alle
als des wahren Naturzustandes übergeführt würde. Man KÖNNTE es so sehen –
ich halte das übrigens auch seitens der Naturwissenschaften, etwa der
Verhaltensforschung für höchst anfechtbar, ob wirklich dieser
ununterbrochene Lebenskampf das Hauptthema der Natur wäre. Es gibt doch jede
Menge Beispiele, wo verhältnismäßig untüchtig erscheinende Tiere – und nicht
nur Parasiten – sich über Dutzende Millionen Jahre erhalten und behaupten
konnten, darunter auch Tiere von beträchtlicher Größe. Ich nenne hier
stellvertretend nur die Tapire und Kängurus, die es seit 50 Millionen Jahren
schon gibt. Defensiv strukturierte Säuger, doch durchaus fähig, wenn es
nötig würde, sich zu wehren – und dann mit Vehemenz. Ein Ausschlag des Roten
Riesenkängurus mit seinem Stützschwanz – mit seinem Stützschwanz, der
schließlich auch als Schlageschwanz taugen kann –, ist imstande, einem
Verfolger alle Knochen zu brechen. Ebenso besitzt der gleichmütige Tapir die
Fähigkeit zur hemmungslos alles ihm Feindliche niedertrampelnden, ja direkt
rasenden Rache, die so legendär wie selten ist. Überhaupt fürchtet der Tapir
das Feuer nicht.
Ich glaube
übrigens dann doch, dass der Mensch noch etwas anderes als nur ein Tier ist,
bzw., wenn ein Tier, dann ein ganz besonderes, sich von den übrigen Tieren
ziemlich unterscheidendes. Zum Tierzustand zurückkehren zu wollen, sich gar
davon die Heilung (sei es der überzivilisierten, neurotischen Seele, sei es
die ökologische der Erde) zu versprechen, halte ich für so abwegig wie
masochistisch. Und wieder wäre es nur eine Maske, Maskierung: der Mensch,
der sich so zum "Tier" machte, wäre immer noch ein Mensch, der "Tier sein"
(was er dafür hält) spielt. Nicht mehr.
Hypothetisch
aber – als bloßes Gedankenspiel, also um jenen Gedanken, jene Ideologie des
totalen Lebenskampfes durchzuspielen – räume ich ein, die Anhänger eines
derartigen Faustrechts könnten eventuell recht haben. Schnell, ich meine
übereilt (die Zwischenschritte überspringend) langen solche Anhänger des
Faustrechts bei der Befürwortung des Krieges um des Krieges willen oder bei
der Ideologie der Waffen-SS, von "Todesschwadronen" oder ähnlichem an. Eine
Töte- und Sterbefreudigkeit. "Todesverachtung", wie es einmal genannt
wurde – und vielleicht nach über 60 Jahren wieder, wo wir das nicht
brauchten und es uns auch nicht abgegangen ist, von Ewiggestrigen in unseren
Sprachgebrauch erneut eingeschleppt wird.
Was sämtliche
dieser Leute verkennen, ist die Funktionsweise totalitärer Systeme. Dass
dies bürokratische Systeme sind. Dass dort die Opfer nach endlos
langen Listen eingefangen werden, abgeholt in ihren Wohnungen, meist zu
früher Morgenstunde. Dass eine Gruppe abkommandierter bewaffneter Schergen,
roh und dumm, eventuell einem Einstein oder Mozart ohne weiteres den Kopf
einschlagen können. Auch dass sie zu zehnt einen Weltmeister des Ringkampfs
überwältigen könnten, sogar Schwächlinge dies vermöchten, wenn sie nur
entsprechend bewaffnet sind. Verhältnismäßig minderwertige Kreaturen (obwohl
ich dieses Wort "minderwertig" sonst nicht verwenden möchte) sind von einem
Unrechtsstaat ermächtigt, unter Umständen allerwertvollste, ja
allerfreundlichste, allersozialste Personen einfach so zu verhaften,
einzukerkern, zu drangsalieren, zu ermorden. Wenn etwas die Bezeichnung
"untermenschlich" verdiente, dann dieses. Als ritterlicher Charakter, der
ein wenig Ehre nur (im Blut oder sonst wo) hat, muss man ob solcher Szenen
äußerste VERACHTUNG empfinden. Und auch ein Staatsunwesen verachten, das
solche Methoden praktiziert. Ja, man muss einen solchen Zustand der
Staatsperversität dann BEKÄMPFEN. Und zwar entschlossen und ohne Nachsicht.
Wenn
die Hyänen sich zusammenrotten würden und auf eine "Schwarze Liste", eine
Proskriptionsliste sämtliche Löwen setzten, dann würden sie den König der
Tiere, der das schönste und stärkste Tier ist, zur Strecke bringen,
erledigen. Es wäre das Mindere, was sich ausbreitete, was zur Plage der Erde
würde.
Wollen wir also
allen Ernstes eine scheußliche Welt verwirklichen – eine noch viel
scheußlichere als die jetzige, die schon scheußlich genug ist, aber manchen
Lichtblick wenigstens enthält? Wollen wir wirklich unser Leben geradezu
weihen, uns regelrecht verschwören zu einer Arbeitsgemeinschaft der
Verbitterten und Unerbittlichen an einer totalen, totalitären
Verschlechterung der Welt? Ist das ehrenhaft, wäre das im geringsten
ritterlich, von menschlich nun gar nicht zu reden? Wäre das ein Ideal, für
das es wert wäre zu leben, zu kämpfen, auch gegebenenfalls zu sterben?
Oder
glauben wir, es müsste alles noch viel schlimmer werden, dass es einmal
wieder besser werden könnte? Sind wir so verzweifelt inzwischen? Ist der
Frust so groß, dass wir niemandem, der noch lebt und sich freut, dieses
Leben und diese Freude gönnen können?
Sind wir denn
noch bei Trost?
Anmerkungen
(1) Martin Buber: Die Erzählungen der
Chassidim, Zürich 1949, S. 675.