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In this cave I am king!
...

... hatte ich mir als imposanter Familienvater und stolzer Mieter einer
Wohnung in der größten kanadischen Metropole gedacht. So war denn meine Knute
leider nicht gleich zur Hand, als sich in unserem Wohnblock eine wie vorgeschichtliche
Kälte von Höhle zu Höhle hinzog und die Verantwortlichen strategisch hinter
versteinerten Paragraphen in Deckung gingen.

Von Vasile V. Poenaru
(16. 12. 2010)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Derzeit
Doktorand an der
Universität Toronto.


 

 

 

 

 

Die Nachbarn frieren
gemeinsam in der kalten
Nacht und denken an
die üppige Miete, die sie
allesamt bereits im Voraus
an den Landlord über-
wiesen haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jetzt schlägt der Haus-
meister einen strengeren
Ton an. Was soll’s? Ein
eigentlicher Notfall sei das
ja schließlich offensicht-
lich auch wieder nicht:
lediglich vierzig unmittel-
bar betroffene Wohungen.
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlegen blickt er auf den
kalten Heizkörper. Sein
urplötzlich unterbreiteter
Vorschlag im Flüsterton:
Vergessen wir das ganze.
Er wisse nichts. Überhaupt
nichts wisse er.
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ob wir auch alle brav die
Heizkörper entlüftet haben?
Ja, mittlerweile sind sämt-
liche Nachbarn Experten
in der hohen Kunst des
Entlüftens geworden –
vergeblich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Langsam, aber sicher
beginnt sich eine Art
kollektives Bewusstsein
zu bilden, wie es wohl
früher mal auch bei den
Höhlenmenschen der Fall
gewesen sein mag, als sie
sich in ihrer Not gegen
allerlei Biester zur
Wehr setzten ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein weiteres Schreiben
an den Stadtabgeordneten
stößt wiederum auf taube
Ohren. Durch unsere lokale
Reihe von Erkältungen lässt
sich der City Councillor
keineswegs beeindrucken.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verfängt sich einer in
den Schlingen der kana-
dischen Bürokratie am
Ontario-See, ist er offen-
sichtlich darauf angewie-
sen, dass die globale
Erwärmung die lokale
Erkältung irgendwie
wettmache.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Ahnung macht sich
von Wohnung zu Wohnung
breit: Wir sind das Volk.
Wir sind die Bewohner.
Wir zahlen Miete und
Steuern. Und im Mietver-
trag kann sogar ein Kind
die Leistungen nachlesen,
die uns zustehen ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   Spätherbst am Ontario-See, genauer gesagt: etwas weiter nördlich, in Bayview Village, Toronto. Das Thanksgiving Weekend beschert uns kalte Nächte draußen wie drinnen. So muss es früher mal im guten alten Neandertal gewesen sein. Die eisige Zugluft am Heizkörper geht durch Mark und Bein. Nur der Ofen spendet Wärme. Die Schweinegrippe spukt über den Kontinent, eine neue Welle von Erkrankungen soll uns bald erreichen. Wir haben bereits alle Schnupfen. Der Fisch unserer Nachbarn ist tot. Man gratuliert einander zum nationalen Festschmaus und klagt seine Not: zu kalt in der Wohnung (vielleicht nicht für Berlins Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin, der wohl selbst in Kanada mal lieber noch einen Pulli anziehen würde, anstatt ordentlich zu heizen). Und heizen war ja bisher bei uns wirklich kein Problem gewesen.

In Toronto darf die Innentemperatur in Mietwohnungen ab dem 15. September laut Stadtverordnung 21 Grad Celsius nicht unterschreiten. Sonst heißt es: klagen. Doch wer ist schon bereit, sich auf die Bürokratie der Stadtverwaltung einzulassen, solange noch der kleinste Schimmer Hoffnung besteht, dass man "lokal" Abhilfe leistet? Der Mietvertrag sollte ja schließlich auch was wert sein, selbst wenn er nicht in Stein gemeißelt wurde, sondern bereits aus der Papierzeit stammt. Da sind Leistung und Gegenleistung klar umrissen.

   Ein Frost Alert wird ausgerufen. Gleichwohl: Die Nachbarn frieren gemeinsam in der kalten Nacht und denken an die üppige Miete, die sie allesamt bereits im Voraus an den Landlord überwiesen haben. Die große Corporation mit beträchtlichen Interessen in Kanada und in den Staaten hat den Wohnblock vom früheren Besitzer gekauft – mitsamt der Mieter in den rund 200 Wohnungen. Leibeigene, große Kinder, nein, Kunden, an denen sich sparen lässt. Und zum tunlichst eingelegten Sparkurs gehören eben kalte Heizkörper. Tag und Nacht. Denn heizen kostet. Wer den Groschen nicht ehrt ...

Moderne Technik, doch steinzeitliche Mentalität: kalter Vorlauf, kalter Rücklauf. Dazwischen die zugefrorenen Bewohner. Den Heating Manager oder gar den Lease Manager will das ratlos dastehende Wartungspersonal an Ort und Stelle nicht erreichen können. Denn die feiern in aller Behaglichkeit Thanksgiving und verbitten sich selbstredend jedwelche Störung. Sie leben nämlich keineswegs etwa in der Steinzeit, sondern in der Gegenwart, ja in der Postmoderne.

   Ob man noch ein paar Tage warten könne? Übers Wochenende wäre ja alles so viel teurer, und der Boss will kein Geld ausgeben. Das heißt, ein paar Tage und bezeichnenderweise natürlich auch ein paar Nächte. Der Hausmeister fängt an zu philosophieren. Über Hitze und Kälte und Röhren und Umwälzpumpen und mutmaßlich angebrachte Tugenden für Mieter – etwa über die Tugend der Geduld.

Ob man das könne? Kundendienst im Konjunktiv: Die rhetorisch gestellte Frage lässt keine Antwort zu. Es ist ja nun mal niemand da. Wozu sollte denn überhaupt jemand da sein? Jetzt schlägt der Hausmeister einen strengeren Ton an. Was soll’s? Ein eigentlicher Notfall sei das ja schließlich offensichtlich auch wieder nicht: lediglich vierzig unmittelbar betroffene Wohungen. Kurzum: "Wer sich beklagt, ist kein toleranter Kerl!"

   Eine fehlerhafte Umwälzpumpe sei demontiert worden, hat uns der Hausmeister schon vor ein paar Tagen nach langem Hin und Her verraten; deswegen das Ausfallen der Heizung im östlichen Flügel des Wohnblocks. Die neue Pumpe komme bald. Man möge sich bloß ein klein bisschen gedulden. Zwei, drei Tage. Oder vielleicht auch eine Woche. Oder sogar ein bisschen mehr. Wer weiß? Den Manager darf man nicht fragen. Der würde sich nur aufregen.

"Bauen Sie gefälligst die neue Pumpe umgehend ein", verlange ich darauf schriftlich vom Lease Manager – und leite das Schreiben sicherheitshalber an den zuständigen Stadtabgeordneten weiter, als ich merke, dass der Manager dessen ungeachtet weiterhin in seinen hohen Gefilden weilt. Unerreichbar.

   Anstelle einer Antwort: Besuch vom Hausmeister. Das mit der Pumpe sei nur seine persönliche Interpretation gewesen, und zwar wohlgemerkt eine sehr schlechte Interpretation; er sei nicht befugt gewesen, mit mir darüber zu sprechen. Er habe angenommen, dass wir das wie Erwachsene ins Reine bringen könnten, aber ich ... ich ... ich ... Verlegen blickt er auf den kalten Heizkörper. Sein urplötzlich unterbreiteter Vorschlag im Flüsterton: Vergessen wir das ganze. Er wisse nichts. Überhaupt nichts wisse er. Und der Manager sei – wie immer – auf keinen Fall zu sprechen.

Also dann wie gesagt: klagen. Am Montag wird vorerst einmal freilich weiter gefriert, da städtische Beamte natürlich frei haben, wenn’s was zu feiern gibt. Aber am Dienstag sind die Jungs wieder im Sattel. "Wenn die Pumpe nicht binnen 24 Stunden installiert ist", brüstet sich der Inspektor von Municipal Licensing and Standards, "wird der Landlord ganz schön tüchtig zur Kasse gebeten." Sowas hören die Nachbarn gerne. Sehr zeitgemäß.

   Die 24 Stunden vergehen. Weiterhin kalte Heizkörper. Der Inspektor ist auf einmal gar nicht mehr so richtig bei der Sache. Ihn interessiere streng genommen ja eigentlich keineswegs, ob die Heizung funktioniert, erklärt er, sondern allein ob die 21-Grad-Celsius-Schwelle unterschritten wird.

Mit einem Thermometer geht er durch den Wohnblock. Wenn er wo 21 Grad Celsius messe, kehre er sich nicht daran, dass die Heizkörper kalt sind und die Wärme vom Ofen und von elektrischen Heizern herkommt. Ob wir auch alle brav die Heizkörper entlüftet haben? Ja, mittlerweile sind sämtliche Nachbarn Experten in der hohen Kunst des Entlüftens geworden – vergeblich. Der Inspektor überhört die Schlussbemerkung, da er es sehr eilig hat. Prima! Was darf’s sonst noch sein?

   Der gute Mann von Municipal Licensing and Standards ist weg. Irgendwann, hatte er noch wie ermutigend kundgegeben, werde die Heizung bestimmt wieder funktionieren. Ja, irgendwann. Von den 24 Stunden und der Mahnung und dem Strafgeld sagte er bald gar nichts mehr. Hätten es nicht so ernst nehmen sollen. Und so schlimm sei es ja auch wieder nicht – wenigstens tagsüber.

Fahnenflucht? Nein, der war ja von Anfang an auf der falschen Seite. Hat sich nicht mit dem korporatistischen Establishment anlegen wollen. Seine "Arbeitsweise": Ich komme; ich messe die Temperatur in einem auf Kosten des Klägers von diesem elektrisch geheizten Raum; ich mache mich von dannen. In seinen Akten war das Problem gelöst, besser, in seinen Akten hatte es nie Bestand gehabt. No can do.

   Was tun? Das einzige, was man in einer bürokratischen Demokratie tun kann: bis auf Widerruf klagen – sonst unternimmt die Behörde nichts. Was als gemeines Schlamassel und Missachtung des Mietvertrags anfing, hat letztendlich nebst der rechtlichen auch eine soziale Dimenison angenommen und die Nachbarn ein bisschen näher gebracht. Langsam, aber sicher beginnt sich eine Art kollektives Bewusstsein zu bilden, wie es wohl früher mal auch bei den Höhlenmenschen der Fall gewesen sein mag, als sie sich in ihrer Not gegen allerlei Biester zur Wehr setzten und einander erwärmten, so, wie wir es bisher in diesem in der Regel ja wohlgeheizten Wohnblock nicht gebraucht hatten. Der Hausmeister schaut mich nun böse an. Vom möglicherweise etwas zu geschwätzigen Inspektor weiß er inzwischen, dass ich es war, der die Behörden einschaltete. Mir geht’s um Aufklärung. Er aber will uns weiterhin in unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit frieren lassen.

Ein Nachbar sagt gerade, dass seine Tochter wegen der andauernden Kälte im Schlafzimmer erkrankt ist. Ein Dritter kommt hinzu. Was ich denn da für eine Stimmung unter die Leute bringe?, fährt mich der prompt herbeigeschlichene Hausmeister an. Ich muss daran denken, dass mir eine Mitarbeiterin des Stadtabgeordneten "felsenfest" versichert hatte: Meine Identität als Kläger werde nicht preisgegeben. Denn privacy gehe der Stadt über alles. Wir seien ja schließlich erwachsene Leute. Und wer würde es sonst noch wagen, eine Beschwerde einzureichen? Kurzum: Sowas wäre ja unzivilisiert. Eben.

   Ich bin empört. Die Nachbarn sind empört. Bei der Stadtverwaltung regnet es Beschwerden. Es bleibt kalt. Die Stadtverwaltung mobilisiert ihre Knutenschwinger. Jeder Kläger kommt an den Pranger. Die skandalöse No-Heating-Affäre will aufs Neue peinlichst dokumentiert werden. Aber nicht vom arroganten Amtsmann, sondern nur von uns Mietern. Ein weiteres Schreiben an den Stadtabgeordneten stößt wiederum auf taube Ohren. Durch unsere lokale Reihe von Erkältungen lässt sich der City Councillor keineswegs beeindrucken. Hat der Inspektor das Problem denn nicht gelöst? Besser: Gab es überhaupt ein Problem?

Ich muss unwillkürlich daran denken, dass ich vor drei Jahren den nun amtierenden Councillor Shiner gewählt hatte, und nicht dessen Gegenkandidaten, der zufälligerweise Shiller hieß. War das ein Fehler gewesen? Schließlich hatten wir ja damals gerade das Schillerjahr hinter uns und nicht etwa das Shiner-Jahr. Und der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt. Spielen die mit uns?

   Verfängt sich einer in den Schlingen der kanadischen Bürokratie am Ontario-See, ist er offensichtlich darauf angewiesen, dass die globale Erwärmung die lokale Erkältung irgendwie wettmache. Tatsächliche Steinzeitmenschen hätten womöglich längst ihre Geduld verloren und zu aussagekräftigeren Vokabeln gegriffen. Nicht so hier. Die Nachbarn trinken Tee, schlucken Pillen und sehnen sich nach dem Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Energiesparen mag dabei zwar an sich eine durchaus sinnvolle Idee sein. Nur ist ja eben nicht jeder Tag Weltspartag.

Die schließlich nach langem Streiten erfolgte Wiederinstandsetzung der Heizung im Wohnblock wird vom Municipal Licensing and Standards Officer als großer Verdienst, ja als ein wahrhafter Erfolg der niederen Staatsgewalt verkauft. Yabadabadoo! Ende gut, alles gut. Er habe ja gesagt, dass die Heizung irgendwann bestimmt wieder funktionieren werde. I said so! Didn’t I say so? I said so! Die akustische Maske, die er dabei auflegt, gleicht verdächtigerweise derjenigen des Hausmeisters – vom großen leeren Versprechen mit streng begrenzter Haftung bis aufs allerwinzigste Unwort ohne verbindliche Geltung. Auch die Assistentin des bestens gegen seine Wähler abgeschirmten Abgeordneten bedient sich bisweilen derselben Maske, wenn sie sich darüber beschwert, dass wir uns beschwert haben. Auf den Sachverhalt geht sie nicht ein. Den Kontakt mit dem Municipal Licensing and Standards Officer habe sie ja ordnungsgemäß hergestellt. Ob das denn wirklich nicht genüge?

   Was wir denn jetzt noch wollen? Wir mögen es doch sagen, aber der Reihe nach, bitte, jeder einzeln. Kollektive Beschwerden zählen nämlich nicht, will der Inspektor nun die Leute glauben machen. Zum Glück nimmt ihm das keiner mehr ab. Eine Ahnung macht sich von Wohnung zu Wohnung breit: Wir sind das Volk. Wir sind die Bewohner. Wir zahlen Miete und Steuern. Und im Mietvertrag kann sogar ein Kind die Leistungen nachlesen, die uns zustehen – und in den Gesetzen auch, mögen sie nun in der Flüchtigkeit des Internets oder in der Ewigkeit der den Steinplatten von früher entsprechenden Hard Copies aufgehoben sein, die der Drucker, ein bald aussterbender Dinosaurier unserer Digitalzeit, halb technisch und halb tierisch ausspuckt.

Und irgendwann erfolgt dann der Übergang in die Wahlzeit. Dann hört die Bevormundung auf. Dann wird auch das Heizen, dann wird auch die Gesundheit, dann wird auch die Community plötzlich wieder wichtig für unsere nahen, fernen Vertreter und auch die Rechtschaffenheit der Big Business Player. Dann gibt’s wieder so einen richtig populistischen, altmodischen Wettlauf um die lokale Macht. Dann spielt jeder die väterliche Figur, den Good Guy, der gerne mal auch die eigenen Füße als Motor der Gemeinde anspringen lässt, dann will jeder was für die lieben Bürger, seine Schafe, seine hochverehrten Höhlenbewohner getan haben ("Liebe Damen und Herren, werte Steinzeitmenschen"); alle Spielregeln wollen beachtet und jede Inspektion will ordnungsgemäß und verantwortungsvoll vor sich gegangen sein. Dann wird nämlich auf einmal auch für die Säbelzahntiger, Mammuts und Dinosaurier im Amt von Belang, was sich so alles zwischen Vorlauf und Rücklauf der Heizkörper tut.


Zuerst erschienen in: Der Lichtwolf, Nr. 31, Herbst 2010

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