AM:
Lieber Herr Nefian, es heißt, Sie wollen zum Mars. Stimmt das? Ist das
ein Traum? Wird der Traum wahr?
Ara V.
Nefian:
Gerüchte sind fast immer wahr, oder sie
sind stets beinahe wahr. Zum Mars gelangen, das ist ein Traum; dabei
stehe ich gegenwärtig im Begriff, eine Software-Komponente zu
entwickeln, anhand derer Bilder von Curiosity (Mars Science Lab)
verwertet werden sollen. Diese Bilder werden automatisch vom Rover auf
dem Mars bezogen, und das System erstellt dann ein dreidimensionales
Modell des durchquerten Mars-Geländes.
AM:
Beam me up, Scotty. Wie sieht der tägliche Arbeitsweg eines
NASA-Experten aus? Und wo genau befindet sich Ihr Arbeitsplatz?
Ara V.
Nefian:
Ich arbeite beim NASA Ames Research
Center in Moffett Field in Kalifornien, das liegt so an die 40 Meilen
südlich von San Francisco. Ich brauche anderthalb Stunden, um zu meinem
Arbeitsplatz zu gelangen, die Hälfte der Strecke lege ich mit dem
Fahrrad zurück und die andere Hälfte mit der Bahn. Hört sich wohl echt
lang an. Irgendwie ist mir aber zumute, als hätte ich bis zu meinem
Arbeitsplatz überhaupt keine Strecke zurückzulegen, denn die Fahrt ist
sehr angenehm, und – Hand aufs Herz – im Zug kann ich ja ganz gut
arbeiten. Und was den Teil der Strecke anbelangt, den ich per Fahrrad
zurücklege: Es gibt viele Touristen, die ein Heidengeld zahlen, um auf
den Hügeln von San Francisco Rad zu fahren ...
AM:
Möglicherweise eine sonderbare Frage in einem sonderlich anmutendem
Kontext. Nichtsdestoweniger: Wer sind Sie? Was ist die Sprache Ihres
Herzens, was ist die Sprache Ihres Gemüts? Auf wie viele verschiedene
Weisen kann einer im Land der Freien ticken? Wie leicht ist es, in See
zu stechen? Und: Sind Sie immer noch mehrfach verankert?
Ara V.
Nefian:
Rumänisch und Englisch sind die Sprachen
meines Herzens und meines Gemüts. Ich lebe in den Vereinigten Staaten.
Vor geraumer Zeit fasste ich den Entschluss, hier zu leben, und ich lebe
immer noch gerne hier. In den Staaten machte ich die Erfahrung, dass
durch harte Arbeit, durch Hingabe an den Beruf und durch Kreativität
alles erreichbar ist, was man sich vornimmt. Ein sehr wohltuendes
Gefühl, ich wünschte mir nur, es wäre auch andernorts im gleichen Maße
so. Nach Bukarest fliegen, das ist immer eine Heimkehr.
AM:
Sie reisen oft – wenngleich nicht im Weltraum. Europa, die Staaten,
dazwischen ein bisschen Machu Picchu oder Ararat, das Dach der Welt.
Bewegen Sie sich gerne schnell oder lieber Schritt um Schritt?
Ara V.
Nefian:
Ich bin einer, der die Orte, die er
bereist, gerne versteht. Ich denke, die Wahl der Orte, an die ich mich
begebe, hat damit zu tun – und mit der nötigen Sicherheit. Wie dem auch
sei, am liebsten würde ich so schnell wie möglich zum Mars fliegen und
mich dort so lange wie nur möglich aufhalten.
AM:
Gesetzt Sie könnten eine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen. Wo
würden Sie an sich die ersten Anzeichen von dem erkennen, was nun Ihren
Alltag ausmacht, den ersten Impuls, andere Welten in Augenschein zu
nehmen, vertrauten Boden und vertraute Himmel zu verlassen, um einen
Planeten zu umfassen, all seine Geheimnisse kennen zu lernen?
Ara V.
Nefian:
Bei der ersten Mondlandung war ich gerade
mal sechs Monate alt. Meine Eltern ließen mich das Ganze spät in der
Nacht im Fernsehen mitbekommen. Niemand behält seine Erinnerungen aus
einem so kleinen Alter, aber es gibt keine bewährte Theorie, die besagen
würde, dass dasjenige, was uns in einem so zarten Alter widerfährt,
nicht etwa einen Fingerabdruck auf dem hinterlässt, was wir später so
tun. Vielleicht hat jene Nacht, auf die ich mich nicht besinne, zu
meinem Interesse an der Raumfahrt beigetragen und irgendwie dasjenige
mitgestaltet, womit ich mich heute beschäftige.
AM:
Die Milchstraße hat einen Heiligenschein, NASA hat einen Gral – oder
doch jedenfalls ein GRAIL (Gravity Recovery and Interior Laboratory
mission), der Mars wimmelt nur so von winzigen grünen Kerlen, wenigstens
erzählt man sich das. Sie bewegen sich gewiss in höheren Gefilden als
die meisten Ingenieure, ja als die meisten Menschen überhaupt. Sind
Intuition, Emotion und Offenbarung da am rechten Platz, wohin kein
Mensch je seinen Fuß setzte?
Ara V.
Nefian:
Abwegige Orte aufsuchen, das zeitigt –
ebenso wie die Arbeit an einem Forschungsprojekt – einen Zauber der
Entdeckung, der sich zur Genugtuung der vollbrachten Tat hinzu gesellt.
Sehr wenige Menschen haben das Privileg und den Mut, unbekannte Regionen
zu erkunden, doch abenteuerreiche Reisen bringen einen dem Sinn und dem
Wesen einer Entdeckungsreise näher.
AM:
Die NASA ist ein Mythos, und NASA-Ingenieure sind Helden, so Der
Spiegel vom 25.07.2008 ("50 Jahre Nasa"). Wo begann Ihr heroischer
Werdegang? Haben Sie den Mond ins Visier genommen oder sind Sie
sozusagen einfach auf ihm gelandet? Oder: Warum schaut sich einer vom
schönen Standpunkt Kalifornien aus die Sterne hoch oben am Himmel an?
Ara V. Nefian:
NASA-Ingenieure, Wissenschaftler
und insbesondere die Astronauten leisten tatsächlich so manches, was im
wörtlichen Sinne zu einer anderen Welt gehört, und wenn ich aus der
Erfahrung der Arbeitsplätze heraus sprechen darf, die ich kenne, muss
ich schon sagen, dass sich die NASA in Sachen Ingenieurwissenschaft und
Weltraumerforschung die allerehrgeizigsten Ziele steckt – und diese auch
sehr oft erreicht. "The sky is the limit", nach dieser Vorstellung
richten viele Menschen in Kalifornien ihr Leben aus.
AM:
Ein Click auf die
NASA-Webseite erweist, dass Sie nicht
nur das Lunar Mapping and Modeling Project leiten, sondern auch
weitere Initiativen. Bitte gehen Sie näher auf Ihr gegenwärtiges
Aufgabenfeld ein.
Ara V.
Nefian:
In einer Nuss: Ich leite ein
planetarisches Vermessungsteam, das Bildverarbeitungstechniken und
Vermessungsprodukte für planetare Erforschungen entwickelt. Die im
Rahmen laufender Mars- und Mondeinsätze erfassten Informationen (meist
Bilder) werden automatisch verarbeitet und dienen dann als Grundlage zur
Erstellung von zweidimensionalen und dreidimensionalen Karten, die an
die Wissenschaftler und Missionsplaner im Hinblick auf künftige bemannte
oder vollautomatisierte Einsätze weitergeleitet werden. Kürzlich haben
wir auf Grund der Aufnahmen der Apollo-Einsätze (die über nicht weniger
als 18% der gesamten Mondoberfläche Aufschluss geben) unter
Berücksichtigung des Geländes und des Beleuchtungsfaktors (Albedo) eine
Mondkarte mit einer bislang noch nie gewährleisteten Auflösung erstellt.
Bald soll diese Karte der Öffentlichkeit auf Google Earth/Moon
zur Verfügung stehen. Wie gesagt bin ich auch im Umfeld des Mars Science
Lab (Curiosity) tätig, indem ich
Bildverarbeitungstechniken zur Ortung und Vermessung des Bahnverlaufs
des Rovers auf der Marsoberfläche entwickle.
AM:
Das moralische Gesetz in uns: Seit Kant wird es mit dem sternbedeckten
Himmel über uns in Verbindung gebracht. In seinem Gedicht "Luceafărul"
("Der Abendstern") verortet der rumänische Nationaldichter Mihai
Eminescu seinen Helden zwischen zwei sternbedeckten Himmeln; einer ist
oben, der andere unten. Auf und ab, inwendig, auswendig, geradeaus und
rundherum: Das weitere Bezugssystem Ihrer Arbeit dürfte für Erdmenschen
ziemlich verwirrend sein. Vermessen Sie mehr als das Auge wahrnimmt?
Kommt es Ihnen manchmal vor, dass Sie etwas tun, was nicht ganz wirklich
ist?
Ara V. Nefian:
Wir sind allesamt in den
Einzelheiten unserer Arbeit befangen, und in den Bestrebungen, Fehler zu
beheben und bessere, schnellere und zuverlässigere Produkte zu erzeugen.
Gelegentlich nehme ich mir dafür Zeit, mal abzuschalten und mich dem
Gedanken hinzugeben, wie glücklich ich bin, an Projekten mitzuwirken,
die ungemein weit entfernte Welten angehen. Doch, die Frage habe ich mir
manchmal schon gestellt: Ist das die Wirklichkeit? Sind diese
Mond-Bilder dieselben, die im Rahmen der ersten Mondlandung erfasst
wurden, damals, als mich meine Eltern in der Nacht wach bleiben ließen?
AM:
Was ist das Rezept Ihres beruflichen Alltags? Ein Teil Routine, ein Teil
Durchbruch und ein Teil Schweigen?
Ara V. Nefian:
Die Routine spielt nur eine
geringe Rolle, und das Schweigen überhaupt keine. Die meiste Zeit
bemühe ich mich, die besten Lösungen für Probleme zu finden, und der
Durchbruch tritt selten ein, regt uns dann jedoch immer an, bis zum
jeweils nächsten Durchbruch weiterzumachen.
AM:
Wir leben innerhalb der Sterne, und die Sterne leben in uns. So würde es
Wilhelm von Humboldt sagen, wäre er Teil der Mission to Mars.
Aber bei Humboldt drehte sich ja alles um die Sprache – und um die
Vermessung des Kulturellen. Leben Sie an der Grenze der Dinge oder tief
im Innern?
Ara V.
Nefian:
Man kann nicht zur Grenze des Erfassbaren
vordringen, ohne tief ins Innere zu blicken und aus dem, was wir bereits
wissen, einen Sinn zusammenzureimen.
AM:
"Diese Geschichte, die wir 'Buch des Flüsterns' nennen, ist nicht meine
Geschichte. Sie begann lange vor der Zeit meiner Kindheit, als man im
Flüsterton sprach." (Varujan Vosganian, Buch des Flüsterns, aus
dem Rumänischen von Ernest Wichner) Spüren Sie die Anziehungskraft, die
aus solchem Flüstern hervorgeht? Oder ist es ein Drang?
Ara V.
Nefian:
Ja, da ist schon was dran. Mein Großvater
war ein Überlebender des an den Armeniern verübten Völkermords. Sein
Vater, den ich nie kennenlernte, hat nicht überlebt. Bisweilen
widerfährt mir der Gedanke, dass ich nur zwei Generationen von meinem
Urgroßvater entfernt bin, einem Menschen, dem ein derartiges Unrecht
zugefügt wurde, jemandem, der nicht im geringsten solche Chancen hatte
wie sie mir zuteil wurden.
AM:
Und nun ein Zitat aus Hemingways Indian Camp: "In the early
morning on the lake sitting in the stern of the boat with his father
rowing, he felt quite sure that he would never die."
Spricht Sie das an? Gibt es dort drüben,
wo die Wahrheit ist, Dinge, von denen man mit totaler Gewissheit
sprechen kann?
Ara V. Nefian:
Die Wahrheit ist dasjenige, was
wir vermittels unseres Körpers empfinden, oder vermittels der Werkzeuge,
die wir geschaffen haben. Ich glaube auch, dass es Dinge gibt, die
ebenso wahr sind, allein wir können sie – noch – nicht empfinden.
AM:
Nehmen wir mal an, Sie seien im Weltall. Was sehen Sie, wenn Ihnen auf
der Milchstraße vor dem dritten Planeten eines mittelgroßen Sterns eine
glückliche Wendung gelingt? Die Karpaten? Die Rockies? Anders gesagt,
wie eigenartig ist es, good old San Francisco Ihr Zuhause zu nennen? Und
wie weit entfernt von zu Hause ist das Zuhause?
Ara V. Nefian:
Je nach der Zeit und der
Positionierung kann einer den Ararat, die Karpaten oder die Rockies
erblicken, ja vielleicht sogar San Francisco oder Bukarest. Dabei sehen
wir von all diesen Blickpunkten aus dasselbe Bild der Milchstraße,
soweit wir unseren Blick nur hinreichend bemühen.
Aus dem Englischen von Vasile V. Poenaru.