Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Unzulängliches Ereignis

Eine deutsch-kanadische Auseinandersetzung mit der Erscheinungsform Theater.

Von Vasile V. Poenaru
(09. 01. 2015)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.


 

 


(c) Adina Bardaș

Peter Stein (rechts)
im Gespräch mit dem
kanadisch-armenischen
Regisseur Atom Egoyan
(links), West Hall, Univer-
sity College, Toronto.
 

 

 

 

 

 

Wo darf der Theatertext
aufhören? Wo setzt die
Kunst der Regieführung
an? Wie ist es um die
kulturpolitischen Voraus-
setzungen und Gegeben-
heiten der Branche
bestellt? Wer sind die
Zuschauer sind und wie
kann man sie erreichen?

 

 

 

 

 

 

Was passiert, wenn
Text und Theater aufein-
ander prallen? Welches
ist die richtige Distanz
zwischen Bühnenautor
und Theaterwelt?

 

 

 

 

 

 

Auch das Stichwort
Urheberrecht kam mehr-
fach auf seine Kosten –
wie die (auch) im Theater
durchaus eingebürgerte
Praxis, sich einfach zu
bedienen, wenn gerade
niemand da ist, der die
Rechte wahrnimmt.

 

 

 

 

 

"End of Drama –
Begin of Play" (?)

 

 

 

 

 

Stichwort Urheberschaft:
Dass der jeweilige Autor
sich bei der Uraufführung
oft genug das Gesicht
zerkratzt, weil ihm Text
und Theater zu weit aus-
einander klaffen, brachte
der leitende Dramaturg
des Deutschen Schau-
spielhauses in Hamburg
prompt und anschaulich
mit Worten wie mit
Gestik zum Ausdruck.

 

 

 

 

 

 

Das Ausschlag gebende
Attribut eines durch und
durch adäquaten Theater-
machers?
"Begabten
Manns
Natur- und Geistes-
kraft!
", würde Mephisto
wohl entschlossen sagen.

 

 

 

 

 

 

Ein munterer Gast aus
Mississauga, der sich
als "Shakespearian"
auswies, bewegte immer-
fort seine Arme wie eine
übertüchtige Windmühle
gelebter Dramatik und
fragte dabei vorbildlich
theatralisch nach der
story, denn er wolle unbe-
dingt wissen, was denn
nun letztendlich mit
der story los sei.

 

 

 

 

 

 

Geht es immer (nur)
noch darum, eine story
zu erzählen? Und falls ja:
wie? Oder soll etwas
qualitativ Neues geschaf-
fen werden?

 

   Let's have a celebration by the sea (oder in diesem Falle eben by the lake). Schwerpunkt Dramaturgie am Ontariosee. Keine pure Spaßfabrik, sondern vielmehr die aus nimmergleicher Richtung gestellte alte, neue Frage vom Genuss und vom Gewinn der Schauspielerei, des geheimnisvollen Metiers, brauchbare Texte in stimmungsvolle Bühnenerlebnisse zu verwandeln. Ergo Ausgangspunkt Theater. Und um den Eingangspunkt brauchen wir uns jetzt nicht zu kümmern. Wir sind ja allesamt eh schon längst drin. Das liegt in der Natur der Dinge, in der Natur des Theaters.

Langer Handlung kurzer Talk. Aristotelische Einheit der ... nein, keine aristotelische Einheit. Immerhin: Ort (oder sagen wir es mal zweckmäßig unscharf: versprengter Meta-Ort) der Debatte? Das drittgrößte Zentrum für Live-Theater im englischen Sprachraum; gleich nach London und New York. Genauer Zeitpunkt der Debatte? Ja halt irgendwann. Oder besser: jetzt. Right now.

   Im Juni 2014 tickten sich die aus dem Geiste transatlantischer Inszenierungskunst geborenen Veranstaltungen ("Celebrating Peter Stein") zu Ehren des weltberühmten deutschen Theatermachers, dem am 9. Juni die Doktorwürde der University of Toronto erwiesen wurde, ins transatlantische Ohr, in die internationalen Fackeln rund um die multikulturellen Lagerfeuer des CN-Turms, in die vier Winde der ausgedehnten Prärien und der Großen Seen. Mehrere namhafte Universitäten hatten Peter Stein bereits je einen Ehrendoktor-Hut aufgesetzt, so etwa die Friedrich-Schiller-Universität Jena und die Paris-Lodron-Universität Salzburg – in der Stadt am Mönchsberg wirkte Stein bekanntlich in den Neunzigern als Schauspielchef der Salzburger Festspiele.

Ein Mann, von dem gesagt wird, dass er das deutschsprachige Theater revolutionierte, bietet natürlich einen ausgezeichneten Anlass zur Diskussion rund um die Bühne und ihre Welten, rund um die Autoren, Dramaturgen, Regisseure und ihre Helfershelfer. "The Art of directing", so das Thema des als Teil der Peter-Stein-Würdigung veranstalteten Symposiums an der University of Toronto, an dem sich eine ganze Reihe von deutschen und kanadischen Experten sowie ein zahlreiches und interessiertes Fachpublikum beteiligte. Zu den angereisten deutschen Gästen zählten Jörg Bochow, leitender Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Joachim Fiebach, Theaterwissenschaftler an der freien Universität Berlin, sowie auch die bekannten Theaterleute Norbert Kentrup, Herbert Olschok und Johanna Schall, die Enkelin von Helene Weigel und Bertolt Brecht.

   Der Regisseur als "space-wright" und "time-wright". Der Regisseur als Autor, Dramaturg und Redakteur. Der Regisseur als Dokumentarist/Aktivist. Durch Begrifflichkeit wie durch Anschaulichkeit weiter führende Konzepte, scharf gezeichnete Vorstellungen des Wesens der Regie. Die in Angriff genommenen Teilaspekte und Gesamtperspektiven der heutigen Theaterproduktion und der sinnstiftenden Wechselwirkungen zwischen Bühnentext und Bühnenereignis vermittelten im lockeren Dialog ein facettenreiches Bild der aktuellen Herausforderungen der Inszenierungsarbeit und ihrer auf Anhieb mehr oder weniger sichtbaren Zusammenhänge. Wo der Theatertext aufhören darf, wo die Kunst der Regieführung ansetzt, wie es um die kulturpolitischen Voraussetzungen und Gegebenheiten der Branche bestellt ist, wer die Zuschauer sind und wie man sie – in Deutschland oder eben in Kanada – am besten vermittels des Mysteriums der Inszenierung zu erreichen vermag, all dies wurde in Toronto an einem sonnigen Junitag anno 2014 aus vielfach variierender Perspektive dialogisch sinnvoll bedacht. Zwar gab es dann am Ende keine gescheite Antwort, aber immerhin zeichnete sich im Laufe der Debatte eine klare Fragestellung ab.

Wie es sich denn überhaupt füge, dass Text und Theater gleichsam in aller intrinsischen Unzulänglichkeit der Inszenierung an sich und für uns ereignisreich aufeinander prallen, was dabei alles auf den Zuschauer zukomme, wenn mal ein szenischer Entwurf im hinreißenden Bühnengeschehen ankommt, ferner wie es um das Zeitliche bestellt ist, um das Dingliche, um das Räumliche, ja welches die richtige Distanz zwischen Bühnenautor und Theaterwelt sei: auch dies Fragen, die mit Nachdruck gestellt wurden. Im vereinfachten Englisch: "Text meets theater". Und merkwürdigerweise wurde im Rahmen der Diskussion der Begriff "Text" als männlich gehandelt (also "he", the text, und nicht etwa "it", wie ja ansonsten im Englischen üblich), was allerhöchstwahrscheinlich auf den unbewussten Einfluss des Deutschen auf die englischsprachige Symposiumwelt am Ontariosee zurückzuführen ist – und auf den einem jedweden Theatertext innewohnenden Trieb, auf der Bühne "seinen Mann zu stehen."

   Der mit allen Wassern der Elbe, des Atlantiks, des Ontariosees gewaschene Theaterwissenschaftler Jörg Bochow, der von 2000 bis 2005 an der University of Toronto wirkte und folglich auch in der kanadischen Theaterwelt alles andere als fremd ist, bemühte sich um einen möglichst authentisch und einleuchtend gezeichneten Umriss des zeitgenössischen Theaterbetriebs, wobei auch mal so mancher Seitenblick auf die geheime Hexenküche der Dramaturgie, des klangvollen Mit- und Gegeneinander von Autor und Theater, von Urheber und Drama, von Text, Handlung und story gewährleistet wurde. Das Stichwort Urheberrecht kam selbstredend mehrfach auf seine Kosten – wie die (auch) im Theater durchaus eingebürgerte Praxis, sich einfach zu bedienen, wenn gerade mal niemand da ist, der die Rechte wahrnimmt. In Sachen Erschwinglichkeit (der Eintrittspreise) und Nicht-Untergehen-Wollen (des Theaters), in Sachen Weitermachen und Subventionen und Kulturpolitik und Rezeption schielten die kanadischen Kollegen bisweilen neidisch nach Deutschland. Freilich hat der Kaiser in Faust II auch für sie längst die krisenfreundliche Antwort parat: "Es fehlt das Geld? Nun gut, so schaff es denn!"

In Anlehnung an die 2008 auf einem Symposium an der Uni München akademisch gemünzte Phrase "End of Drama – Begin of Play" führte Richard Rose, Artistic Director des Tarragon Theatre, Toronto, die Diskussion rund um die Problematik der Urheberschaft und des Wesens der Theateraufführung unter vielfacher Berücksichtigung des "bloßen" Theaterstücks überzeugend weiter. Wem allerdings letztendlich der Theaterabend gehört, wer das Sagen hat, wenn ein Drama wo hin soll, zum Beispiel in den rückblickenden Erwartungshorizont der Theaterbesucher, der Kritiker, des Autors, des Regisseurs, des Dramaturgen: ja wenn man sich da einig wäre!

   Unser aller Leitwort? The show must go on. Dass der jeweilige Autor sich dann bei der Uraufführung oft genug das Gesicht zerkratzt, weil ihm Text und Theater zu weit auseinander klaffen, brachte der u. a. aus dem Geist der Hamburger (und Stuttgarter) Dramaturgie heraus sprechende leitende Dramaturg des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg prompt einschlägig und anschaulich mit Worten wie mit Gestik zum Ausdruck – und schon war der Ball wieder bei den Kanadiern:

"Is it your play?"
"Well, my name's on it. It gets reviews".

Mit diesem Wort rückte Artistic Director Richard Rose das Unbehagen des Urhebers des zugrundeliegenden Theatertextes mit voller Wucht in den Mittelpunkt der Betrachtungen – und drehte den Spieß auch gleich einmal erneut um, indem er sich intensiv dem Begriff Texttheater widmete. Dass er dabei immer wieder aufs Neue darauf hinweisen musste, dass sich die Erscheinungsform Theater "in time and space" abspielt, macht wohl die einzige Schwäche seines ansonsten sehr ansprechenden Beitrags aus.

Fast musste man angesichts all dieser doch recht sinnvoll in den Raum (und in die Zeit) gestellten Erörterungen an Georg Büchners Lenz denken:

"Der Name, wenn's beliebt."
"Lenz."
"Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt? Habe ich nicht einige Dramen gelesen, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben werden?"
"Ja, aber belieben Sie mich nicht darnach zu beurteilen."

   Die Beurteilung von Theatertexten, die Beurteilung von Texttheater und Textwelten innerhalb der Welt des Theaters, die Beurteilung der ästhetischen Qualität der sprachlichen und außersprachlichen Erlebnisse, die sich dem Publikum darbieten, die das Publikum einverleiben, die das Publikum sein eigen nennt, wenn ein Stück aufgeführt wird, Ereignis wird, Raum und Zeit mit Sinn und Sein erfüllt, kristallisierte sich im Rahmen der Debatte zur einen zentralen Frage des Umgangs von Theaterleuten mit dem im Geiste der Dramaturgie umrissenen Konzept des zeitgenössischen Theaters heraus. Was das mutmaßlich Ausschlag gebende Attribut eines so durch und durch adäquaten Theatermachers anbelangt, ist guter Rat freilich immer noch teuer. "Begabten Manns Natur- und Geisteskraft!", würde Mephisto wohl entschlossen sagen, wenn er gerade mal zum Dramaturgienarr berufen worden wäre. Doch wer wird ihn denn gleich zum Dramatur... ach so, der Kaiser!

Über die vielen verschiedenartigen Modalitäten des Urhebertums, über die oft sonderbaren Formen der Theaterproduktion, über das andauernde Redigieren, Hinzudichten, Wegschneiden, ja darüber, ob bzw. inwiefern man sich denn eigentlich überhaupt an einem Theatertext vergreifen kann, ohne dass er eine gleichsam sein innerstes Wesen mutierende Gewalt erleidet bzw. ob man einem Text überhaupt Gewalt zufügen kann (was der Hamburger Dramaturg stark bezweifelte, denn Texte haben ja schließlich keine Gefühle), darüber wurde im mal müßigen, mal heftigen Schritt bedachtsam erkundender Theaterleute in vielen variierenden Tönen der Theaterwissenschaft debattiert. Ein munterer Gast aus der Nachbarstadt Mississauga, der sich als "Shakespearian" auswies, bewegte immerfort seine Arme wie eine übertüchtige Windmühle gelebter Dramatik und fragte dabei vorbildlich theatralisch nach der story, denn er wolle unbedingt wissen, was denn nun letztendlich mit der story los sei.

   Die Antwort war allerdings schon längst gefallen, noch ehe der Mississauga-"Shakespearian" den ersten seiner vielen gewiss theaterkundig intendierten Kreise durch die frische Luft am Ontariosee beschreiben konnte. "The way stories are told has changed a lot" (Bochow). Und die erstbeste Frage, die im Rahmen des Symposiums gestellt wurde, möge jetzt einmal vorübergehend ruhig als bestmöglicher Schluss unserer Diskussion rund um die Erscheinungsform Theater und das Ereignis-werden-Wollen des Unzulänglichen herhalten: Geht es immer (nur) noch darum, eine story zu erzählen? Und falls ja: wie? Oder soll etwas qualitativ Neues geschaffen werden?

Ausdrucken?

....



Zurück zur Übersicht