Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Unheimliche Regenwürmer
...

Dan Lungus Roman "Das Hühner-Paradies" könnte man am besten als "Prosa
des Alltags" bezeichnen. In einem einfachen, umgangssprachlichen Stil voller Witz
und Humor erzählt der Roman einige Tage aus dem Leben der Menschen
auf einer Straße in der rumänischen Provinz.

.Von Iulia Dondorici
(02. 10. 2007)

...


   Dan Lungu gehört zur sogenannten "jungen Literatur" Rumäniens. Damit wird keine literarische Gruppe oder gar literarische Bewegung bezeichnet, sondern eine immer größer werdende Zahl an Autoren, die in den letzten vier bis fünf Jahren ihr literarisches Debüt feierten. Sie haben frischen Wind in die rumänische literarische Szene gebracht. Die meisten von ihnen wurden von einem der größten rumänischen Verlage dem Polirom-Verlag aus Iaşi publiziert. In Rumänien, und auch teilweise im Ausland, ist der Erfolg dieser Schriftsteller groß, was auch vor dem Hintergrund zu erklären ist, dass bis Ende der 1990er Jahre gute rumänische Literatur kaum existiert hat. Die Bücherlandschaft bestand zumeist aus Übersetzungen. Insbesondere moderne und zeitgenössische Literatur aus Frankreich, Großbritannien, den USA oder Lateinamerika war und ist sehr beliebt. Hinzu kamen lediglich Veröffentlichungen einiger weniger rumänischer "Stars" wie Mircea Cartarescu. Die junge Literatur erfüllt ältere Hoffnungen und Erwartungen sowohl in Hinblick auf die Kritik, als auch aufseiten einer breiteren Leserschaft. Das ist ein entscheidender Unterschied zu den älteren Schriftstellern, die es nach der Wende nicht mehr schafften, ein größeres Publikum für ihre Literatur zu begeistern.

Die "neue" Literatur ist in mehrfacher Hinsicht vor allem eine aktuelle Literatur. Sie behandelt Themen und Probleme der (rumänischen) Gegenwart – mit Vorliebe das Leben der jungen Menschen in der heutigen Welt oder die nahe Vergangenheit. Zudem gibt es auch eine stark biographisch orientierte Prosa, die durch so erfolgreiche Schriftstellerinnen wie Ana-Maria Sandu oder Cecilia Ştefanescu vertreten wird. Wo die letztgenannte Richtung eine stark imaginative Prosa bietet, die, oft auch mit dem Label "Autofiktion" versehen, in einer höchst poetischen und metaphorischen Sprache geschrieben ist, wählen viele andere "junge" Autoren eine eher einfache Sprache, die auf Humor und Ironie setzt.

   Zu ihnen zählt auch Dan Lungu. Er ist einer der zur Zeit aktivsten und produktivsten Schriftsteller Rumäniens, der auch als Soziologe an der Universität in Iaşi arbeitet. 1997 gründete er in Iaşi, zusammen mit anderen jungen Autoren, die literarische Gruppe "Club 8", die eine Alternative zum traditionellen Literaturbetrieb anbieten wollte. Seit 1996 schreibt Lungu Gedichte, Prosa und Theaterstücke. Größeren Kreisen wurde er aber erst mit dem Roman "Das Hühner-Paradies" (2004) bekannt. In einem Interview beschreibt er sein Schreiben folgendermaßen: "Die Wirklichkeit fließt unvermeidbar in meine Prosa ein – sowohl die unmittelbare Wirklichkeit, wie auch jene, die in die persönlichen Erfahrungen eingeflossen ist. Ich sehe in der Wirklichkeit das, was meine Biographie mir erlaubt zu sehen, wobei auch meine Biographie von dem, was ich in der Gegenwart erlebe, abhängig ist. (...) Diese Revanche der Gegenwart über die Vergangenheit verrät eigentlich die Existenz unserer persönlichen Freiheit".

"Das Hühner-Paradies. Ein falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen" könnte man am besten als "Prosa des Alltags" bezeichnen. In einem einfachen, umgangssprachlichen Stil voller Witz und Humor erzählt der Roman einige Tage aus dem Leben der Menschen auf einer Straße in der rumänischen Provinz. Jedes Kapitel wird jeweils in der dritten Person aus der Perspektive einer Figur erzählt. Es sind einfache Menschen, deren ganzes Leben sich in dieser Straße abgespielt hat – Arbeitslose, Rentner, Hausfrauen. Sie haben also viel Zeit, die sie am liebsten mit Erzählungen in der Kneipe "Zerknautschter Traktor" verbringen. Ihr Lieblingsthema ist die Zeit vor der Wende. Sie streiten gern um ihre Erinnerungen, sind gekränkt oder melancholisch, wütend oder resigniert. Wie auch in seinem neuesten Roman "Ich bin eine alte Frau und Kommunistin!" (2007) geht es Dan Lungu in "Das Hühner-Paradies" um die literarische Darstellung der Denkweisen, Einstellungen und Gefühle der einfachen Menschen gegenüber der nahen kommunistischen Vergangenheit Rumäniens.

   Das gegenwärtige Leben der Akazien-Straße besteht aus kleinen, unbedeutenden Ereignissen, deren Signifikanz im Prozess des Erzählens und Nacherzählens so lange gesteigert wird, bis ein neues Ereignis die Aufmerksamkeit der Straße auf sich zieht. Gleich im ersten Kapitel wird dem Leser präsentiert, wie der Prozess des wiederholten Erzählens funktioniert. Jedes Mal wenn Milica "die selbe Geschichte" des Oberst aus der Akazien-Straße erzählt, fügt sie neue Details hinzu, wechselt die Perspektive, sodass völlig neue Geschichten dabei entstehen. So wird offenbar, wie wenig Erzählungen und Erinnerungen im Hintergrund der eigentlichen, "wahren" Ereignisse stehen und wie sehr sie stattdessen mit den Wünschen, Gefühlen und den märchenhaften Übertreibungen der Erzählerin korrespondieren. Das Erzählen wird zum gesellschaftlichen Ritual, es erfüllt das Bedürfnis der Bewohner der Akazien-Straße nach sozialer Interaktion, nach Kommunikation und Austausch im quasi öffentlichen Raum und ersetzt die fehlende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der nahen Vergangenheit.

Das "Hühner-Paradies" ist eine Metapher für menschlichen Zusammenhalt, für Schutz und Geborgenheit, die heimlichen Sehnsüchte aller Figuren. "Ich hatte das Gefühl, es würde mir gefallen, in dieser Gestalt zu leben, der eines Huhns. Ich weiß nicht, vielleicht wegen des Kaffees, den ich auf leeren Magen getrunken hatte, aber in dem Augenblick wollte ich, dass mir erst Flaum und dann Federn wachsen, dass ich unter der Henne hocke, da wo es warm ist, dass ich klein bin und angefeuchtetes Mehl picke, dass sich ständig jemand wie eine Glucke um mich kümmert und dass ich, wenn es donnert, schnell, schnell unter einen richtigen Flügel zurückhuschen kann.(...) Dass ich kein Telefon, Strom, Gas, Wasser und Kabel zu zahlen habe. Dass ich nicht wählen gehen muss. Dass mich die Nachrichten nicht ärgern. Versteht ihr, wie wunderbar das Hühnerleben ist?", gesteht Radu Covalciuc, eine der Hauptfiguren des Romans.

   In einer gesellschaftlichen Ordnung, in der die Menschen der Akazien-Straße nicht mehr gebraucht werden, sehnen sie sich nach Fantastischem und Außerordentlichem, das ihr Leben erfüllen könnte. So glaubt Radu Covalciuc an seine Träume und an übernatürliche Zeichen, die er am Verhalten seiner geliebten Hühner abliest. Er interpretiert die riesige Zahl an Regenwürmern, die plötzlich in seinem Garten erschienen sind, als übernatürliches Zeichen und die ganze Straße überlegt, wie man daraus Geld machen könnte. Sogar eine Fernsehreportage über die "unheimlichen Begebenheiten" in Covalciucs Garten wurde geplant, doch das Ganze entpuppt sich als ganz "natürliches" Phänomen: die Regenwürmer waren, zur größten Enttäuschung der Bewohner, "infolge eines Stromstoßes an die Oberfläche gekommen".

Was die besondere Qualität des Romans von Dan Lungu ausmacht, ist der Verzicht auf jegliches partipris des Autors im Umgang mit einem Thema, das so stark ideologisch und emotional beladen ist wie das der kommunistischen Vergangenheit in Rumänien. Die Figuren haben eine eigene Perspektive, die sie in einer einfachen, griffigen Art und Weise ausdrücken. Sie stehen für sich und für ihre individuellen Erlebnisse und keineswegs für ideologische oder politische Positionen. Milica, Mitu, Ticu Zidaru – sie alle wirken symphatisch und überzeugend, unabhängig davon, ob der Leser ihre Meinungen teilt oder nicht. Wie in Daniel Banulescus Roman "Ich küsse dir den Hintern, geliebter Führer!" erscheint Ceauşescu in den phantastisch gesteigerten Erinnerungen von Mitu, dem besten Erzähler der Akazien-Straße, witzig, humorvoll und ohne jegliche diabolische Merkmale.

   In der ausgezeichneten Übersetzung von Aranca Munteanu bietet sich der Roman von Dan Lungu einem breiten deutschsprachigen Publikum zur Lektüre an – als ein mögliches Bild über das heutige Rumänien oder einfach als gute zeitgenössische Erzählliteratur.
 


Zurück zur Übersicht