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"Viel raffinierter als der Kommunismus"
...

Der aus Timişoara in Rumänien stammende, seit seinem 15. Lebensjahr in der Schweiz
lebende Schriftsteller Catalin Dorian Florescu hat sich in seinen bislang drei Romanen mit dem
Exil und seinem weit reichenden Einfluss auf die Identität des Menschen befasst. Dabei erwies er sich
als Erzähler großen Ranges, der mit schlafwandlerischem formalen Gespür Geschichten aufs Papier
bannt, die den Leser genauso verfolgen wie die recht autobiographischen Erzähler der Bücher
ihre Bauernmärchen und Teufelsgeschichten. Florescus neuer Roman (Arbeitstitel: "Zaira")
erscheint als Spitzentitel bei C.H. Beck im Frühjahr 2008. Sein letzter Roman, "Der blinde
Masseur" (Pendo 2006), ist im März 2007 in spanischer Übersetzung bei Lengua de
Trapo erschienen. Zu diesem Anlass gab er dem spanischen Verlag ein Interview;
wir bringen dieses bislang unpublizierte Interview auf Deutsch.

..
(01. 05. 2007)

...




Bild: Yvonne Bühler

Catalin Dorian Florescu

geboren 1967 in Timisoara
(
Rumänien). Im Sommer 1982
Flucht mit den Eltern in den
Westen. Seit August 1982
wohnhaft in Zürich. Mittler-
weile Schweizer Bürger.
Hochschulstudium der Psychologie und Psycho-
pathologie an der Universität
Zürich. Abschluss 1995.
Von 1995 bis 2001 als Psychotherapeut in einem
Rehabilitationszentrum für
Drogenabhängige tätig. Fünf-
j
ährige Weiterbildung in
Gestalttherapie. Seit
Dezember 2001 freier
Schriftsteller in Zürich.

Homepage

www.florescu.ch

 


 


Catalin D. Florescu.
Der blinde Masseur.
Pendo, 2006. 270 S.
ISBN:
3866120796

 

 

 

"Der Kommunismus traute
dem Menschen nicht, es
überwachte ihn. Der eine
Teil der Bewölkerung führte
Akte über den anderen. Der
Kapitalismus moderner
Prägung braucht das alles
nicht ... oder weniger.
Man folgt von selbst."

 

 

 

 

Catalin D. Florescu.
Der kurze Weg nach Hause.
Pendo, 2002. 280 S.
ISBN:
3858424765

 

 

 

"Die Gesellschaft hier im
Westen scheint – zumindest
aus der Perspektive des
Osteuropäers – ihre Probleme
gelöst zu haben. Aber es gibt
einen mächtigen Schatten:
die Langweile, das Fehlen
an Intensität, die Sucht-
und Selbstmordquoten."

 

 

 

 

Catalin D. Florescu.
Wunderzeit.
Heyne, 2003. 282 S.
ISBN:
3453863836

 

 

 

 

"Deshalb sind wir Schrift-
steller – und mit uns auch
andere Künstler – so nah
beim Menschen. Weil er
uns interessiert, weil wir
ihn ernst nehmen und
dadurch auch uns selbst.
Ernst genug, um ganze
Romane damit zu füllen."

 

 

 

 

 

 

"Von einem Putin oder ein
Bush zu erwarten, dass sie
mal sagen: "Ich bin ratlos.
Ich bin traurig", das kann
man sich abschminken."

 

 

 

 

 

 

 

"Die Peripherien Europas,
nicht nur Rumänien, sind
reich an Geschichten, die
Erzähltradition ist noch
lebendig. Unsere urbanen
Zentren aber sind leer, die
Kultur, die Wirtschaft und
Freizeit sind normiert."

 

 

 

 

 

 

 

 

"Wer könnte noch behaupten,
dass wir in unseren designten
Cafès und Wohnungen,
Analphabeten der Sprache
und des Gefühls, uns
wirklich noch begegnen?"

 

 

 

 

 

 

 

 

"Die Bücher haben mich
aus dem Haus geworfen"

 

 

 

 

 

 

 

"Weiß ich, was es heißt,
blind zu sein, um einen
Roman mit einer Hauptfigur
zu machen, die blind ist?"

 

 

 

 

 

 

 

 

"Wunderzeit ist die
 Geschichte einer Kindheit
im Osten. Meine Kindheit.
Es ist aber auch die Liebe
eines Vaters für seinen
kranken Sohn."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Geschichten erzählen ist
für mich vielleicht die
Rettung vor der sprachlosen
Einsamkeit. Signale in die
Welt zu senden: 'Es gibt
mich! Und ich bin verliebt
in das Leben.'"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Wie Verrückte irren wir
umher ohne Maßtäbe, Werte,
Grenzen. Uns ist der gute
Geschmack abhanden
gekommen, wir sind
vielleicht gebildete Schafe,
aber bleiben Schafe."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Ob die Sprache noch Kraft
haben wird, um etwas zu
bewirken, bezweifle ich. Ich
meine authentische, sich um
den Menschen bemühende
Sprache."


Lengua de Trapo:
Teodor, die Hauptfigur des "Blinden Masseurs", hat zwanzig Jahre in der Schweiz gelebt. Doch er findet keine Ruhe. Er fühlt sich leer. Er möchte herausfinden, wie sich das Leben anderswo anfühlt, in dem Land, das er gezwungen war zu verlassen. Denken Sie, dass Teodors Gefühle stellvertretend für die Gefühle jener Emigranten stehen, die aus ihren kommunistisch regierten Ländern in den Westen fliehen mussten?


Florescu:
Er ist nicht leer, er ist unglücklich geworden. Das ist ein großer Unterschied. Teodor hat über Nacht, als er mit den Eltern durch die Zone geflüchtet ist, alles zurückgelassen: die Magie der Kindheit, die Lebendigkeit und die Leidenschaft für die Erzählungen der Bauern, die er sammelte. Und seine erste große Liebe, das Mädchen, das er belogen hat. Er hat ihr, wenige Stunden vor der dramatischen nächtlichen Flucht, nichts darüber gesagt, sondern behauptet, er sei bald wieder zurück. Nur ein Urlaub in den Bergen. Daraus wurden zwanzig Jahre. Es gab also einen Riss und eine Schuld.

Seine Reise zurück nach Hause geschieht natürlich auf den Spuren dieses Risses und dieser Schuld. Wäre er glücklicher, wenn er geblieben wäre?, fragt er sich. Und kann er die Schuld tilgen? Er wird aber auch dort keine Heimat mehr finden und wird von allen verführt und betrogen, von der Frau ebenfalls. Das sind sicherlich Themen von Menschen, die "dis-placed" sind, ver-setzt.

Auch ich habe an einem heißen Augustmorgen 1982 alles zurückgelassen, von einer Minute auf die andere, meine Muttersprache inklusive, als Vater, Mutter und ich die Wohnung abgeschlossen haben und ins vollbepackte Auto eingestiegen und zur Grenze gefahren sind. Die Freunde sah ich erst viele Jahre später, das Mädchen, das ich damals liebte, ebenfalls. Sie hat ein Jahr gewartet, dann hat sie sich in einen anderen verliebt. Habe ich durch die Flucht eine Chance auf Glück verpasst? Welche anderen Wege haben sich aber geöffnet? Zum Beispiel vom Schreiben alleine zu leben, was mir im armen Rumänien nie gelungen wäre. Zum Beispiel in der Sicherheit des Westens zu leben, während meine Freunde in den Achtzigern bei Kerzenlicht, mit Mantel und Handschuhen und unter einer dicken Bettdecke, für die Abschlussprüfungen lernten, weil Heizung und Strom gekürzt wurden. Sie haben die Erfahrung der Angst gemacht, ich nicht. Der Angst, nichts zu essen zu haben oder der Angst vor dem Staat. Der Angst vor jedem dummen Milizmann. Ich nicht. Was gewinnt man durchs Exil? Was geht für immer verloren?

Aber wir sitzen da alle im selben Boot. Entwurzelung, Leere, Unglück gehen uns alle etwas an. Sie sind Phänomene der Spätmoderne, Postmoderne, des fortgeschrittenen Kapitalismus. Auf einen Emigranten zeigt man leichter mit dem Finger. Das ersparrt einem, den Finger auf sich selbst zu richten. Wo sind denn die Einsamkeit, der Überdruss, das Unglück der Spanier, die nicht Erdbeeren pflücken müssen wie die rumänischen Fremdarbeiter? Und sich nicht prostituieren müssen wie die Rumäninnen? Wo ist die Ratlosigkeit der spanischen, schweizerischen Manager, die eines Tages feststellen müssen, dass sie erfolgreich sind, aber ihr Leben verpassen? Ohne je emigriert zu sein.


Lengua de Trapo:
Wie kann man in einer Welt aus Stahl und Computern zu emotionaler Balance finden?


Florescu:
Das ist die grundsätzliche Frage des modernen Menschen. Jene Frage, die entscheidet über seelischen Verfall, über Ermüdung und Verdumpfung, oder ob man am Ende des Lebens sagen kann: "Ich habe wirklich gelebt."

Die beiden Begriffe Stahl und Computer verweisen auf die beiden Pole des Kapitalismus: die Entstehung der Fabriken; die Bauernsöhne, die in die Städte gezogen sind und das erste Proletariat bildeten vor 200 Jahren, dreckig und zerlumpt und immer vom physischem Verfall bedroht. Und das Informationszeitalter, das den sauberen, gepflegten Konsumenten ganz anders aushöhlt.

Das System ist so geschickt darin, uns zu verführen, uns von uns selbst fernzuhalten, viel raffinierter als der Kommunismus. Der Kommunismus traute dem Menschen nicht, es überwachte ihn. Der eine Teil der Bewölkerung führte Akte über den anderen. Der Kapitalismus moderner Prägung braucht das alles nicht ... oder weniger. Man folgt von selbst. Er schmiegt sich an einen an und deutet ihm an, er sei sein bester Freund. Wenn man aber nur noch soviel Bewusstsein hat über seine Taten, um zwischen Produkt A und B zu wählen, dann ist man in einem anderen Gefängnis gelandet. In einem, wo die Wärter überflüssig sind.

Menschen aus anderen Kulturen führen uns aber durch ihre Präsenz dauernd vor Augen, dass ein Anderssein möglich ist. Laut, intensiv, heftig, herzhaft, spontan – bei allen Begrenzungen, die andere Kulturen auch haben, denn da gibt es nichts zu idealisieren. An ihnen können wir ganz gut jenen Teil in uns exorzieren, den wir auch leben könnten, wenn wir es wagten. An ihnen können wir schadlos hassen, was wir sein könnten, aber nicht sein wollen: anders. Und dadurch ausgesetzt und ungeschützt.

Ich pflege zu sagen, dass ich aus einem armen weißen Flecken Europas stamme und in einem reichen weißen Flecken lebe, der Schweiz. Die Gesellschaft hier scheint – zumindest aus der Perspektive des Osteuropäers – ihre Probleme gelöst zu haben. Aber es gibt einen mächtigen Schatten: die Langweile, das Fehlen an Intensität, die Sucht- und Selbstmordquoten. Die Schweizer Männer, die ihre Frauen mit dem Armeegewehr töten, das sie zu Hause aufbewahren. Der Kokainkonsum ist gerade in meiner Heimatstadt Zürich sehr hoch. Man misst ihn bereits schon im Wasser unseres schönen Zürichsees. Das Unglück ist auch hier überall. Im Osten besauft man sich bis zur Besinnungslosigkeit, hier zieht man Pulver vor. Es ist also nicht nur das Unglück der spanischen Emigranten, die nach dem Krieg im Norden Arbeit gefunden haben und erst als alte Menschen zurückgingen. Und sich dann auch in Spanien nicht mehr zurecht fanden. Es ist auch immer das Unglück der Einheimischen, da sitzen wir im selben Boot. Bei jedem mit einer anderen Ausprägung.

Die Lösung – wenn es sie gibt – ist einfach und schwer zugleich. Es geht darum anzuhalten, auszuatmen und zu sagen. "Ich bin begrenzt. Ich bin ratlos, dumm, müde, bescheiden, verletzlich, traurig, alt. Ich bin endlich. Ich lasse mich nicht mehr hetzen und zu nichts verführen, was nicht wirklich mein Bedürfnis, meine Priorität, meine Leidenschaft ist." Es ist sehr heilsam in der Therapie – und ich bin ja auch Psychologe , wenn man hört, dass man ein Recht hat, anders zu sein. Und eben begrenzt. Oder wenn man anfangen kann, ohne Furcht seine wirkliche Geschichte zu erzählen und zu lauschen, ob es dort draußen andere Geschichten gibt.

Deshalb sind wir Schriftsteller – und mit uns auch andere Künstler – so nah beim Menschen. Weil er uns interessiert, weil wir ihn ernst nehmen und dadurch auch uns selbst. Ernst genug, um ganze Romane damit zu füllen. Immer neue Varianten des Menschseins durchzuspielen.

Um ein effektiver Schriftsteller zu sein, muss man für mich zuerst Mensch sein. In der Welt stark sein. Für mich ist auch der Existenzialismus der 60er Jahre eigentlich hochaktuell, in einer orientierungslosen und ent-werteten Zeit. Verantwortung für sich selbst und für andere übernehmen aus einer Position der starken, sinnlichen, lustvollen Verwurzelung in seinem freien Leben.

Die Ideologie des Kommunismus hat Verrat an den Menschen geübt. Gierige, verantwortungslose, unreife Männer haben ihn für Jahrzehnte kompromittiert – wobei die Gewalt in der Theorie selbst verwurzelt ist, das darf man nicht vergessen. Gott seinerseits ist wenn nicht tot, dann auch nicht mehr ganz frisch. Und kompromittiert durch sein langes Schweigen. Von einem Putin oder ein Bush zu erwarten, dass sie mal sagen: "Ich bin ratlos. Ich bin traurig", das kann man sich abschminken. Diese Männer sind dort, wo sie sind, gerade weil sie so was nicht sagen. Dann aber stellt sich die Frage nach der Tauglichkeit unserer Führer, Manager oder Stars als Modelle. Sie taugen nichts. Sie haben sich oft selbst aus den Augen verloren.

Aber die gute Botschaft ist: Man hat endlich sich selbst. Man kann sich in Besitz nehmen und sich schön bewohnen. Sonst nimmt die Gefräßigkeit kein Ende. Sonst wird alles virtuell. Wir füllen unsere Lippen und Brüste mit Silikon auf – wie werden die Archäologen der Zukunft staunen, wenn sie neben unseren Skeletten auch Päckchen von Silikon finden werden! Das Wesentlichste geschieht irgendwann nur noch im Internet, von Beziehungen bis Sex und Einkaufen. Wir verwenden so viel, um andere zu täuschen. Wir sind ein einziges Täuschungsmanöver. Anstatt klar zu sagen: "Es genügt." Oder besser: "Ich genüge."


Lengua de Trapo:
Am Anfang des "Blinden Masseurs" findet sich der Satz: "Ich gehe dorthin, wo der Pfeffer wächst. Jeder spricht davon, einer muss es auch wirklich tun." Im Laufe der Erzählung begegnen einem dann eine Menge rumänischer Sprüche, Legenden und Geschichten. Ist dieses Volksgut etwas, dass das moderne Rumänien verliert? Oder wird es als Erzählschatz überdauern?


Florescu:
Das ist der einzige deutsche Spruch aus dem Roman. Alles andere ist die Magie des wilden Ostens: Geschichten über Teufel und Vampire, die Rituale der Mädchen, die einen Mann finden wollen, die Rituale des Heiratens und des Sterbens. Man schlägt die Erde im Frühling, damit sie sich für den Samen öffnet. Man lässt keine Katze unter einem Toten hindurchgehen, sonst wird er zum Untoten. Die Peripherien Europas, nicht nur Rumänien, sind reich an Geschichten, die Erzähltradition ist noch lebendig. Bei Ihnen in Spanien ist es in den Dörfern nicht anders, wobei es bestimmt einen großen Unterschied zwischen Nord und Süd, Stadt und Land gibt. Unsere urbanen Zentren aber sind leer, die Kultur, die Wirtschaft und Freizeit sind normiert. Mediterrane und balkanische Länder – wobei Rumänien nicht zum Balkan gehört –, agrarische Länder kennen das noch: das Verweilen und sich das Leben erzählen. Dabei erfindet man oder lügt gar. Ich sage meinen Rumänen immer: Ihr dürft mich belügen, denn wenn es eine gute Lüge ist, kann ich sie in meinen Büchern brauchen. Schreiben ist oft nichts anders als glaubhaft lügen.

Nein, Rumänien läuft nicht so schnell Gefahr, seine Erzähler zu verlieren. Wobei die Rituale auch dort aussterben. Für die Lebendigkeit seiner Kultur zahlt es einen hohen Preis: die Rückständigkeit. Solange es noch isolierte Orte gibt, wo alles langsamer abläuft, fast außerhalb von Raum und Zeit, werden sich solche Oasen des Erzählens bewahren. Sobald der Fortschritt kommt, die Autobahnen das Land durchziehen, die Bauern landwirtschaftliche Unternehmer werden und in den Städten die meisten Leute Dienstleistende sind, wird die Intensität abnehmen. Es gibt dieses Rumänien bereits: die Konsumjugend Bukarests, das Kokain, die reichen Unternehmer, der enorme Stress. Man wird eher Überstunden leisten, als sich Geschichten  zu erzählen.

Aber ich würde mir Sorgen auch um uns machen. Um den kapitalisierten Westen. Wer könnte noch behaupten, dass wir in unseren designten Cafès und Wohnungen, Analphabeten der Sprache und des Gefühls, uns wirklich noch begegnen? Würde ich nicht immer wieder Zürich verlassen und auf Reisen gehen, so würde ich vielleicht hier reich werden. Aber bestimmt nicht an Geschichten.


Lengua de Trapo:
Worüber handelt "Der blinde Masseur"?


Florescu:
Von einem blinden Masseur. Er existiert. Er lebt in einem verfallenen Kurort in Rumänien, am Arsch der Welt, mit einer Bibliothek von 30.000 Büchern. Die Weltliteratur in einem rückständigen Dorf. In einer Plattenbauwohnung, verteilt auf Bad, Küche, Zimmer, Abstellkammer, Flur. Ion pflegt zu sagen: "Die Bücher haben mich aus dem Haus geworfen", denn er schläft nicht dort, sondern in seinem kleinen Massagezimmer im Hotel, wo er die Kurgäste massiert. Aber eigentlich geht es darum, dass er die Heizungskosten nicht bezahlen kann und im Hotel wärmt er sich auf fremde Kosten.

Ion erblindete mit 17, als er gerade Krieg und Frieden gelesen hatte, aber seine Liebe für die Literatur gab er nie auf. Er hätte problemlos in die Blindheit gehen können, aber er fand Mittel, um sehend zu bleiben. Er erzog ganze Generationen von Menschen dazu, ihm vorzulesen. Und wenn sie gute Vorleser sind, massiert er sie gratis. Patienten, Ärzte, Bauern, Intellektuelle und Arbeiter. Sie bildeten ihn, und er bildete sie.

Nachdem ich mich mit ihm befreundete, kehrte ich zurück in die Schweiz und fragte mich: Was will ich eigentlich? Was ist mein Interesse? Meine Dringlichkeit? Weiß ich, was es heißt, blind zu sein, um einen Roman mit einer Hauptfigur zu machen, die blind ist? Und vor allem so ein gebildeter Blinder? Will ich ein folkloristisches Buch schreiben, weit weg von meinem Empfinden, meinem eigenen Leben? Eigentlich ist die Frage immer die nach der eigenen Existenz: Was steht in meinem Leben an? Was will ich aussagen?

Also erfand ich einen erfolgreichen Schweizer Manager rumänischer Abstammung, der 20 Jahre nach seiner Flucht feststellt, dass er unglücklich geworden ist. Er verkauft zwar Sicherheit – große, teuere Schleusen für Banken und Flughäfen – lebt aber in seelischer Unsicherheit. Also reist er Richtung Osten und trifft am Ende aller Straßen den blinden Masseur. Er wird dann eingeweiht in die geheimnisvolle Welt des Masseurs und es entwickelt sich eine trügerische Freundschaft mit einem überraschenden Ende.


Lengua de Trapo:
Erzählen Sie uns etwas über ihre beiden früheren Romane.


Florescu: Wunderzeit ist die Geschichte einer Kindheit im Osten. Meine Kindheit. Es ist aber auch die Liebe eines Vaters für seinen kranken Sohn und die Reise der beiden von Rumänien aus über Rom nach New York, in den Siebzigern. Es ist eine lustige und bittere Geschichte zugleich, die ich mir erlauben konnte so leichtfüßig und voller Witz zu schreiben, weil ich früh, noch als Kind, weggegangen bin. Ich sage immer: "Ich hatte die Gnade der frühen Ausreise." Mein Blick blieb unverfälscht durch die Angst der Erwachsenen. Ich konnte zurückschauen ganz ohne Zorn. Eigentlich wollte ich sagen: "Wir haben die schönste Zeit unseres Lebens gelebt, ganz einfach, weil sie die einzige war, die wir hatten."

Mein zweiter Roman Der Kurze Weg Nach Hause ist roadmovieähnlich und erzählt die Geschichte eines Rumänen und eines Italieners, die nach dem Fall des Eisernen Vorhanges sich im Osten auf die Suche nach starken Geschichten machen. Es ist ein Weg, der sie von Zürich über Wien, Budapest, Timisoara bis ans Schwarze Meer führt.


Lengua de Trapo:
Wie gestaltet sich Ihr Leben im Verhältnis zur Literatur?


Florescu:
Literatur heißt Zeit mit Sprache zu verbringen. Ich mag Sprache haben. Ich mag klar, genau, pointiert, geistreich sprechen. Ich mag Literatur, aber ich liebe das Kino, denn eigentlich habe ich mein Auge und meinen Verstand für das, was wirksam ist, wenn man Kunst macht, durch die großen Filme der Filmgeschichte trainiert. Meine Bücher sind sehr filmisch. Ich deklariere wenig darin, sondern beschreibe Bilder und Atmosphären. Wobei es auch keine Drehbücher sind, sondern satte Prosa, in der der Sprache genauso viel Platz eingeräumt wird wie dem Filmischen.

Ich bin ein Kaffeehaus-Literat, ich sitze drei, sechs, neun Stunden lang und schreibe. Das Personal kommt und geht, ich bin immer da. Der kalte Kaffee ebenfalls. Geschichten erzählen ist für mich vielleicht die Rettung vor der sprachlosen Einsamkeit. Signale in die Welt zu senden: "Es gibt mich! Und ich bin verliebt in das Leben." Eigentlich ...

Es ist bestimmt eine gute und medikamentenfreie Methode, um am Leben zu bleiben.
 

Lengua de Trapo: Was denken Sie über Literatur?


Florescu: Die Literatur – wie eine Kultur – ist vielfach zum verlängerten Arm des Kapitalismus in die Freizeit des Konsumenten geworden. Ich meine das dort, wo die Kultur nicht stark, dicht, genuin ist. Der Literaturmarkt ist so mit Müll und Banalitäten überladen, so kaputtgemacht worden, dass ich oft nur Ekel übrig habe für die Kulturindustrie. Nach der Postmoderne geht eh alles, everything goes. Wie Verrückte irren wir umher ohne Maßtäbe, Werte, Grenzen. Uns ist der gute Geschmack abhanden gekommen, wir sind vielleicht gebildete Schafe, aber bleiben Schafe. Ich inklusive. Events, Party, eine gute Story, das ist, was heute zählt, weniger die Innigkeit, die Dichte. Wir lesen Bücher wegen des Plots und nicht wegen der Sprache, die funkeln soll. Die uns Gänsehaut geben soll. Die Sprache erfordert Geduld, Konzentration, der gute Plot lässt sich schnell durchlesen. Der schlechte Coelho wird sich immer besser verkaufen als ein stilles, intimes Buch. Gute Literatur muss sich leider nur in Nischen verkaufen, sich mit wenigen Tausend verkauften Exemplaren zufrieden geben – die Lyrik mit noch weniger.

Die – deutschen – Verlage machen den Kniefall vor Amerika. Alle wollen ihre Amerikaner haben, auch wenn sich diese Entwicklung in letzter Zeit etwas geändert hat. Die Welt wird in Amerika gemacht. Das sage ich, obwohl ich dieses Land bewundere für seinen Jazz, für manche seiner Filme, für die Landschaften, für seinen Mut, uns seine Söhne im Krieg geopfert zu haben.

Ob die Sprache noch Kraft haben wird, um etwas zu bewirken, bezweifle ich. Ich meine authentische, sich um den Menschen bemühende Sprache. Nicht die Sprache eines verlogenen Populisten wie Chavez. Nicht die Sprache eines gefährlichen Vereinfachers wie Le Pen. Nicht die Sprache eines überforderten Simpels wie Bush. Nicht die Sprache eines versteckten Diktators wie Putin. Nicht die Sprache der Ware und des Computers. Denn damit Sprache wirkt, muss da noch ein Du sein, das es erreichen kann. Diese Dus werden seltener.
 

Lengua de Trapo: Was sind Ihre Vorhaben?


Florescu: Für mein nächstes Projekt reise ich nach Amerika, schon das zweite Mal dieses Jahr. Es ist eine amerikanische Geschichte, gesehen durch das Auge eines Europäers. Ich lande also in Amerika, 500 Jahre nach Kolumbus. Und 60 Jahre nach D-Day, dem Tag der Landung in der Normandie. Es ist die Geschichte eines kleines Showmans, der in New York lebt und es nie nach oben geschafft hat. Es ist der Mythos der großen amerikanischen Freiheit. Und die Frage: Wie kann man noch in New York Entertainment machen nach dem 11. September?


(Übersetzung der englischen Teile: Kristina Werndl)

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