Lengua de Trapo: Teodor, die Hauptfigur des "Blinden
Masseurs", hat zwanzig Jahre in der Schweiz gelebt. Doch er findet keine
Ruhe. Er fühlt sich leer. Er möchte herausfinden, wie sich das Leben
anderswo anfühlt, in dem Land, das er gezwungen war zu verlassen.
Denken Sie, dass Teodors Gefühle stellvertretend für die Gefühle
jener Emigranten stehen, die aus ihren kommunistisch regierten Ländern
in den Westen fliehen mussten?
Florescu: Er ist nicht leer, er
ist unglücklich geworden. Das ist ein großer Unterschied. Teodor hat über
Nacht, als er mit den Eltern durch die Zone geflüchtet ist, alles
zurückgelassen: die Magie der Kindheit, die Lebendigkeit und die
Leidenschaft für die Erzählungen der Bauern, die er sammelte. Und seine
erste große Liebe, das Mädchen, das er belogen hat. Er hat ihr, wenige
Stunden vor der dramatischen nächtlichen Flucht, nichts darüber gesagt,
sondern behauptet, er sei bald wieder zurück. Nur ein Urlaub in den Bergen.
Daraus wurden zwanzig Jahre. Es gab also einen Riss und eine Schuld.
Seine Reise zurück nach Hause geschieht natürlich auf den
Spuren dieses Risses und dieser Schuld. Wäre er glücklicher, wenn er
geblieben wäre?, fragt er sich. Und kann er die Schuld tilgen? Er wird aber
auch dort keine Heimat mehr finden und wird von allen verführt und betrogen,
von der Frau ebenfalls. Das sind sicherlich Themen von Menschen, die
"dis-placed" sind, ver-setzt.
Auch ich habe an einem heißen Augustmorgen 1982 alles
zurückgelassen, von einer Minute auf die andere, meine Muttersprache
inklusive, als Vater, Mutter und ich die Wohnung abgeschlossen haben und ins
vollbepackte Auto eingestiegen und zur Grenze gefahren sind. Die Freunde sah
ich erst viele Jahre später, das Mädchen, das ich damals liebte, ebenfalls.
Sie hat ein Jahr gewartet, dann hat sie sich in einen anderen verliebt. Habe
ich durch die Flucht eine Chance auf Glück verpasst? Welche anderen Wege
haben sich aber geöffnet? Zum Beispiel vom Schreiben alleine zu leben, was
mir im armen Rumänien nie gelungen wäre. Zum Beispiel in der Sicherheit des
Westens zu leben, während meine Freunde in den Achtzigern bei Kerzenlicht,
mit Mantel und Handschuhen und unter einer dicken Bettdecke, für die
Abschlussprüfungen lernten, weil Heizung und Strom gekürzt wurden. Sie haben
die Erfahrung der Angst gemacht, ich nicht. Der Angst, nichts zu essen zu
haben oder der Angst vor dem Staat. Der Angst vor jedem dummen Milizmann.
Ich nicht. Was gewinnt man durchs Exil? Was geht für immer verloren?
Aber wir sitzen da alle im
selben Boot. Entwurzelung, Leere, Unglück gehen uns alle etwas an. Sie sind
Phänomene der Spätmoderne, Postmoderne, des fortgeschrittenen Kapitalismus.
Auf einen Emigranten zeigt man leichter mit dem Finger. Das ersparrt einem,
den Finger auf sich selbst zu richten. Wo sind denn die Einsamkeit, der
Überdruss, das Unglück der Spanier, die nicht Erdbeeren pflücken müssen wie
die rumänischen Fremdarbeiter? Und sich nicht prostituieren müssen wie die
Rumäninnen? Wo ist die Ratlosigkeit der spanischen, schweizerischen Manager,
die eines Tages feststellen müssen, dass sie erfolgreich sind, aber ihr
Leben verpassen? Ohne je emigriert zu sein.
Lengua de Trapo: Wie kann man in einer Welt aus Stahl und
Computern zu emotionaler Balance finden?
Florescu:
Das ist die grundsätzliche Frage des modernen
Menschen. Jene Frage, die entscheidet über seelischen Verfall, über Ermüdung
und Verdumpfung, oder ob man am Ende des Lebens sagen kann: "Ich habe
wirklich gelebt."
Die beiden Begriffe Stahl
und Computer verweisen auf die beiden Pole des Kapitalismus: die Entstehung
der Fabriken; die Bauernsöhne, die in die Städte gezogen sind und das erste
Proletariat bildeten vor 200 Jahren, dreckig und zerlumpt und immer vom
physischem Verfall bedroht. Und das Informationszeitalter, das den sauberen,
gepflegten Konsumenten ganz anders aushöhlt.
Das System ist so
geschickt darin, uns zu verführen, uns von uns selbst fernzuhalten, viel
raffinierter als der Kommunismus. Der Kommunismus traute dem Menschen nicht,
es überwachte ihn. Der eine Teil der Bewölkerung führte Akte über den
anderen. Der Kapitalismus moderner Prägung braucht das alles nicht ... oder
weniger. Man folgt von selbst. Er schmiegt sich an einen an und deutet ihm
an, er sei sein bester Freund. Wenn man aber nur noch soviel Bewusstsein hat
über seine Taten, um zwischen Produkt A und B zu wählen, dann ist man in
einem anderen Gefängnis gelandet. In einem, wo die Wärter überflüssig sind.
Menschen aus anderen
Kulturen führen uns aber durch ihre Präsenz dauernd vor Augen, dass ein
Anderssein möglich ist. Laut, intensiv, heftig, herzhaft, spontan – bei
allen Begrenzungen, die andere Kulturen auch haben, denn da gibt es nichts
zu idealisieren. An ihnen können wir ganz gut jenen Teil in uns exorzieren,
den wir auch leben könnten, wenn wir es wagten. An ihnen können wir schadlos
hassen, was wir sein könnten, aber nicht sein wollen: anders. Und dadurch
ausgesetzt und ungeschützt.
Ich pflege zu sagen, dass
ich aus einem armen weißen Flecken Europas stamme und in einem reichen
weißen Flecken lebe, der Schweiz. Die Gesellschaft hier scheint – zumindest
aus der Perspektive des Osteuropäers – ihre Probleme gelöst zu haben. Aber
es gibt einen mächtigen Schatten: die Langweile, das Fehlen an Intensität,
die Sucht- und Selbstmordquoten. Die Schweizer Männer, die ihre Frauen mit
dem Armeegewehr töten, das sie zu Hause aufbewahren. Der Kokainkonsum ist
gerade in meiner Heimatstadt Zürich sehr hoch. Man misst ihn bereits schon
im Wasser unseres schönen Zürichsees. Das Unglück ist auch hier überall. Im
Osten besauft man sich bis zur Besinnungslosigkeit, hier zieht man Pulver
vor. Es ist also nicht nur das Unglück der spanischen Emigranten, die nach
dem Krieg im Norden Arbeit gefunden haben und erst als alte Menschen
zurückgingen. Und sich dann auch in Spanien nicht mehr zurecht fanden. Es
ist auch immer das Unglück der Einheimischen, da sitzen wir im selben Boot.
Bei jedem mit einer anderen Ausprägung.
Die Lösung – wenn es sie
gibt – ist einfach und schwer zugleich. Es geht darum anzuhalten, auszuatmen
und zu sagen. "Ich bin begrenzt. Ich bin ratlos, dumm, müde, bescheiden,
verletzlich, traurig, alt. Ich bin endlich. Ich lasse mich nicht mehr hetzen
und zu nichts verführen, was nicht wirklich mein Bedürfnis, meine Priorität,
meine Leidenschaft ist." Es ist sehr heilsam in der Therapie – und ich bin
ja auch Psychologe –,
wenn man hört, dass man ein Recht hat, anders zu sein. Und eben begrenzt.
Oder wenn man anfangen kann, ohne Furcht seine wirkliche Geschichte zu
erzählen und zu lauschen, ob es dort draußen andere Geschichten gibt.
Deshalb sind wir
Schriftsteller – und mit uns auch andere Künstler – so nah beim Menschen.
Weil er uns interessiert, weil wir ihn ernst nehmen und dadurch auch uns
selbst. Ernst genug, um ganze Romane damit zu füllen. Immer neue Varianten
des Menschseins durchzuspielen.
Um ein effektiver
Schriftsteller zu sein, muss man für mich zuerst Mensch sein. In der Welt
stark sein. Für mich ist auch der Existenzialismus der 60er Jahre eigentlich
hochaktuell, in einer orientierungslosen und ent-werteten Zeit.
Verantwortung für sich selbst und für andere übernehmen aus einer Position
der starken, sinnlichen, lustvollen Verwurzelung in seinem freien Leben.
Die Ideologie des
Kommunismus hat Verrat an den Menschen geübt. Gierige, verantwortungslose,
unreife Männer haben ihn für Jahrzehnte kompromittiert
– wobei die Gewalt in der Theorie selbst verwurzelt ist, das darf man nicht
vergessen. Gott seinerseits ist wenn nicht tot, dann auch nicht mehr ganz
frisch. Und kompromittiert durch sein langes Schweigen. Von einem Putin oder
ein Bush zu erwarten, dass sie mal sagen: "Ich bin ratlos. Ich bin traurig",
das kann man sich abschminken. Diese Männer sind dort, wo sie sind, gerade
weil sie so was nicht sagen. Dann aber stellt sich die Frage nach der
Tauglichkeit unserer Führer, Manager oder Stars als Modelle. Sie taugen
nichts. Sie haben sich oft selbst aus den Augen verloren.
Aber die gute Botschaft
ist: Man hat endlich sich selbst. Man kann sich in Besitz nehmen und sich
schön bewohnen. Sonst nimmt die Gefräßigkeit kein Ende. Sonst wird alles
virtuell. Wir füllen unsere Lippen und Brüste mit Silikon auf – wie werden
die Archäologen der Zukunft staunen, wenn sie neben unseren
Skeletten auch Päckchen von Silikon finden werden!
Das Wesentlichste geschieht irgendwann nur noch im Internet, von Beziehungen
bis Sex und Einkaufen. Wir verwenden so viel, um andere zu täuschen. Wir
sind ein einziges Täuschungsmanöver. Anstatt klar zu sagen: "Es genügt."
Oder besser: "Ich genüge."
Lengua de Trapo: Am Anfang des "Blinden Masseurs" findet sich
der Satz: "Ich gehe dorthin, wo der Pfeffer wächst. Jeder spricht davon,
einer muss es auch wirklich tun." Im Laufe der
Erzählung begegnen einem dann eine Menge rumänischer Sprüche, Legenden
und Geschichten. Ist dieses Volksgut etwas, dass das moderne Rumänien
verliert? Oder wird es als Erzählschatz überdauern?
Florescu:
Das ist der einzige deutsche Spruch aus dem
Roman. Alles andere ist die Magie des wilden Ostens: Geschichten über Teufel
und Vampire, die Rituale der Mädchen, die einen Mann finden wollen, die
Rituale des Heiratens und des Sterbens. Man schlägt die Erde im
Frühling, damit sie sich für den Samen öffnet. Man lässt keine Katze unter
einem Toten hindurchgehen, sonst wird er zum Untoten. Die Peripherien
Europas, nicht nur Rumänien, sind reich an Geschichten, die Erzähltradition
ist noch lebendig. Bei Ihnen in Spanien ist es in den Dörfern nicht anders,
wobei es bestimmt einen großen Unterschied zwischen Nord und Süd, Stadt und
Land gibt. Unsere urbanen Zentren aber sind leer, die Kultur, die Wirtschaft
und Freizeit sind normiert. Mediterrane und balkanische Länder – wobei
Rumänien nicht zum Balkan gehört –, agrarische Länder kennen das noch: das
Verweilen und sich das Leben erzählen. Dabei erfindet man oder lügt gar. Ich
sage meinen Rumänen immer: Ihr dürft mich belügen, denn wenn es eine gute
Lüge ist, kann ich sie in meinen Büchern brauchen. Schreiben ist oft nichts
anders als glaubhaft lügen.
Nein, Rumänien läuft nicht so schnell Gefahr, seine
Erzähler zu verlieren. Wobei die Rituale auch dort aussterben. Für die
Lebendigkeit seiner Kultur zahlt es einen hohen Preis: die Rückständigkeit.
Solange es noch isolierte Orte gibt, wo alles langsamer abläuft, fast
außerhalb von Raum und Zeit, werden sich solche Oasen des Erzählens
bewahren. Sobald der Fortschritt kommt, die Autobahnen das Land durchziehen,
die Bauern landwirtschaftliche Unternehmer werden und in den Städten die
meisten Leute Dienstleistende sind, wird die Intensität abnehmen. Es gibt
dieses Rumänien bereits: die Konsumjugend Bukarests, das Kokain, die reichen
Unternehmer, der enorme Stress. Man wird eher Überstunden leisten, als sich
Geschichten zu erzählen.
Aber ich würde mir Sorgen auch um uns machen. Um den
kapitalisierten Westen. Wer könnte noch behaupten, dass wir in unseren
designten Cafès und Wohnungen, Analphabeten der Sprache und des Gefühls, uns
wirklich noch begegnen? Würde ich nicht immer wieder Zürich verlassen und
auf Reisen gehen, so würde ich vielleicht hier reich werden. Aber bestimmt
nicht an Geschichten.
Lengua de Trapo: Worüber
handelt "Der blinde Masseur"?
Florescu:
Von einem blinden Masseur. Er existiert. Er
lebt in einem verfallenen Kurort in Rumänien, am Arsch der Welt, mit einer
Bibliothek von 30.000 Büchern. Die Weltliteratur in
einem rückständigen Dorf. In einer Plattenbauwohnung, verteilt auf Bad,
Küche, Zimmer, Abstellkammer, Flur. Ion pflegt zu sagen: "Die
Bücher haben mich aus dem Haus geworfen", denn er schläft nicht dort,
sondern in seinem kleinen Massagezimmer im Hotel, wo er die Kurgäste
massiert. Aber eigentlich geht es darum, dass er die Heizungskosten nicht
bezahlen kann und im Hotel wärmt er sich auf fremde Kosten.
Ion erblindete mit 17, als
er gerade Krieg und Frieden gelesen hatte, aber seine Liebe für die
Literatur gab er nie auf. Er hätte problemlos in die Blindheit gehen können,
aber er fand Mittel, um sehend zu bleiben. Er erzog ganze Generationen von
Menschen dazu, ihm vorzulesen. Und wenn sie gute Vorleser sind, massiert er
sie gratis. Patienten, Ärzte, Bauern, Intellektuelle und Arbeiter. Sie
bildeten ihn, und er bildete sie.
Nachdem ich mich mit ihm
befreundete, kehrte ich zurück in die Schweiz und fragte mich: Was will ich
eigentlich? Was ist mein Interesse? Meine Dringlichkeit? Weiß ich, was es
heißt, blind zu sein, um einen Roman mit einer Hauptfigur zu machen, die
blind ist? Und vor allem so ein gebildeter Blinder? Will ich ein
folkloristisches Buch schreiben, weit weg von meinem Empfinden, meinem
eigenen Leben? Eigentlich ist die Frage immer die
nach der eigenen Existenz: Was steht in meinem Leben an? Was will ich
aussagen?
Also erfand ich einen
erfolgreichen Schweizer Manager rumänischer Abstammung, der 20 Jahre nach
seiner Flucht feststellt, dass er unglücklich geworden ist. Er verkauft zwar
Sicherheit – große, teuere Schleusen für Banken und Flughäfen – lebt aber in
seelischer Unsicherheit. Also reist er Richtung Osten und trifft am Ende
aller Straßen den blinden Masseur. Er wird dann eingeweiht in die
geheimnisvolle Welt des Masseurs und es entwickelt sich eine trügerische
Freundschaft mit einem überraschenden Ende.
Lengua de Trapo: Erzählen Sie uns etwas über ihre beiden
früheren Romane.
Florescu:
Wunderzeit
ist die Geschichte einer Kindheit im Osten. Meine Kindheit. Es ist aber auch
die Liebe eines Vaters für seinen kranken Sohn und die Reise der beiden von
Rumänien aus über Rom nach New York, in den Siebzigern. Es ist eine lustige
und bittere Geschichte zugleich, die ich mir erlauben konnte so leichtfüßig
und voller Witz zu schreiben, weil ich früh, noch als Kind, weggegangen bin.
Ich sage immer: "Ich hatte die Gnade der frühen
Ausreise." Mein Blick blieb unverfälscht durch die Angst der Erwachsenen.
Ich konnte zurückschauen ganz ohne Zorn. Eigentlich wollte ich sagen:
"Wir haben die schönste Zeit unseres Lebens gelebt,
ganz einfach, weil sie die einzige war, die wir hatten."
Mein zweiter Roman Der
Kurze Weg Nach Hause ist roadmovieähnlich und erzählt die Geschichte
eines Rumänen und eines Italieners, die nach dem Fall des Eisernen Vorhanges
sich im Osten auf die Suche nach starken Geschichten machen. Es ist ein Weg,
der sie von Zürich über Wien, Budapest, Timisoara bis ans Schwarze Meer
führt.
Lengua de Trapo: Wie gestaltet sich Ihr
Leben im Verhältnis zur Literatur?
Florescu:
Literatur heißt Zeit mit Sprache zu
verbringen. Ich mag Sprache haben. Ich mag klar, genau, pointiert,
geistreich sprechen. Ich mag Literatur, aber ich liebe das Kino, denn
eigentlich habe ich mein Auge und meinen Verstand für
das, was wirksam ist, wenn man Kunst macht, durch die großen Filme der
Filmgeschichte trainiert. Meine Bücher sind sehr filmisch. Ich deklariere
wenig darin, sondern beschreibe Bilder und Atmosphären. Wobei es auch keine
Drehbücher sind, sondern satte Prosa, in der der Sprache genauso viel Platz
eingeräumt wird wie dem Filmischen.
Ich bin ein
Kaffeehaus-Literat, ich sitze drei, sechs, neun Stunden lang und schreibe.
Das Personal kommt und geht, ich bin immer da. Der kalte Kaffee ebenfalls.
Geschichten erzählen ist für mich vielleicht die Rettung vor der sprachlosen
Einsamkeit. Signale in die Welt zu senden: "Es gibt mich! Und ich bin
verliebt in das Leben." Eigentlich ...
Es ist bestimmt eine gute
und medikamentenfreie Methode, um am Leben zu bleiben.
Lengua
de Trapo: Was denken Sie über Literatur?
Florescu:
Die Literatur – wie eine Kultur
– ist vielfach zum verlängerten Arm des Kapitalismus
in die Freizeit des Konsumenten geworden. Ich meine das dort, wo die Kultur
nicht stark, dicht, genuin ist. Der Literaturmarkt ist so mit Müll und
Banalitäten überladen, so kaputtgemacht worden, dass ich oft nur Ekel übrig
habe für die Kulturindustrie. Nach der Postmoderne geht eh alles, everything
goes. Wie Verrückte irren wir umher ohne Maßtäbe, Werte, Grenzen. Uns ist
der gute Geschmack abhanden gekommen, wir sind vielleicht gebildete Schafe,
aber bleiben Schafe. Ich inklusive. Events, Party, eine gute Story, das ist,
was heute zählt, weniger die
Innigkeit, die Dichte. Wir lesen Bücher wegen des Plots und nicht wegen der
Sprache, die funkeln soll. Die uns Gänsehaut geben soll. Die Sprache
erfordert Geduld, Konzentration, der gute Plot lässt sich schnell
durchlesen. Der schlechte Coelho wird sich immer besser verkaufen als ein
stilles, intimes Buch. Gute Literatur muss sich leider nur in Nischen
verkaufen, sich mit wenigen Tausend verkauften Exemplaren zufrieden geben –
die Lyrik mit noch weniger.
Die – deutschen – Verlage
machen den Kniefall vor Amerika. Alle wollen ihre Amerikaner haben, auch
wenn sich diese Entwicklung in letzter Zeit etwas geändert hat. Die Welt
wird in Amerika gemacht. Das sage ich, obwohl ich dieses Land bewundere für
seinen Jazz, für manche seiner Filme, für die Landschaften, für seinen
Mut, uns seine Söhne im Krieg geopfert zu haben.
Ob die Sprache noch Kraft
haben wird, um etwas zu bewirken, bezweifle ich. Ich meine authentische,
sich um den Menschen bemühende Sprache. Nicht die Sprache eines verlogenen
Populisten wie Chavez. Nicht die Sprache eines gefährlichen Vereinfachers
wie Le Pen. Nicht die Sprache eines überforderten Simpels wie Bush. Nicht
die Sprache eines versteckten Diktators wie Putin. Nicht die Sprache der
Ware und des Computers. Denn damit Sprache wirkt, muss da noch ein Du sein,
das es erreichen kann. Diese Dus werden seltener.
Lengua
de Trapo: Was sind Ihre Vorhaben?
Florescu:
Für mein nächstes Projekt reise
ich nach Amerika, schon das zweite Mal dieses Jahr. Es ist eine
amerikanische Geschichte, gesehen durch das Auge eines Europäers. Ich lande
also in Amerika, 500 Jahre nach Kolumbus. Und 60 Jahre nach D-Day, dem Tag
der Landung in der Normandie. Es ist die Geschichte eines kleines Showmans,
der in New York lebt und es nie nach oben geschafft hat. Es ist der Mythos
der großen amerikanischen Freiheit. Und die Frage: Wie kann man noch in New
York Entertainment machen nach dem 11. September?
(Übersetzung der
englischen Teile: Kristina Werndl) |