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Von Reinhard Kriechbaum |
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Mit einiger Mühe bin ich nach Mergeln gekommen. Ein Einheimischer hat mich die gut zwanzig Kilometer in ein weites, fruchtbares Ackertal im Auto mitgenommen. Ich hatte gehört, dass es hier und in einigen benachbarten siebenbürgischen Bauerndörfern noch einige besonders gut erhaltene Kirchenburgen gebe. Nun stehe ich also vor einer solchen imposanten Anlage: Eine Mauer mit wehrhaften Ecktürmen umgibt die Kirche, die selbst zwei massive, blockartige Türme hat.
Nicht lange muss ich draußen bleiben, denn ein älterer Mann sieht mich, fragt mich in akzentfreiem Deutsch nach meinem Ziel. Mein Interesse an der Kirchenburg stachelt seine Gesprächigkeit an. Er ist nicht Rumäne, sondern Deutscher. Ja, hier im Dorf ist er aufgewachsen. Jetzt lebt Johann Brenner allerdings schon lange in Deutschland, so wie fast alle deutschsprachigen Familien aus dem Ort. Aber im Sommer machen viele Rentner und auch ihre Kinder und Enkel gerne Urlaub in der alten Heimat. Die Häuser gehören ihnen ja noch und in Deutschland fühlen sie sich nicht wirklich zu Hause. Sie streichen Fensterläden und halten die alten Bauernhäuser in Stand. Natürlich ist ihnen auch die Erhaltung der Kirche – "ihrer Kirche"! – ein großes Anliegen.
Mittlerweile hat mich Johann Brenner seinem Bruder vorgestellt, der nach wie vor in Mergeln lebt und Mesnerdienste versieht. Gemeinsam sind wir auf einen der Türme gestiegen und schauen über das malerische Dorf, über die Firste der roten Ziegeldächer, über die Obstgärten und Getreidefelder. Bauern fahren mit Ochsenkarren die Ernte ein. Die Räder versinken ein wenig im Schlamm der naturbelassenen Wege.
Spielende Kinder schauen zu uns herauf, rufen und winken. "Zigeunerkinder", sagt Johann Brenner missmutig. "Hier war der deutsche Ortsteil", erklärt er mir. Dann hatte es in der Hitlerzeit geheißen: Heim ins Reich! Auch die kommunistischen Jahrzehnte waren der deutschen Minderheit nicht zuträglich. "Zuerst sind die Rumänen gekommen, dann die Zigeuner." Die Aussicht auf eine staatliche Pension in Deutschland lockte nach der Wende viele Familien zur raschen Auswanderung.
... In welches Bauerndorf man auch kommt in Siebenbürgen, das Bild ist ähnlich: Die jungen Leute sind weggegangen, nur die Alten sind geblieben und fühlen sich doch längst als Fremde im eigenen Land. Kaum ein Dorf, wo mehr als zehn, fünfzehn Leute noch tatsächlich miteinander Deutsch sprechen. Aber die Kirchenburg und das dem meist schon verlassenen evangelischen Pfarrhof angeschlossene Schulhaus bergen Erinnerungen an Jugendzeiten, als siebenbürgische Kultur noch lebte. "Auf dieser Bank sind wir als Konfirmanden im Gottesdienst gesessen", sagt Johann Brenner. "Das Uhrwerk im Turm hat mein Großvater gemacht." Darauf ist er stolz. Natürlich ist mit der deutschsprachigen Bevölkerung auch die Zahl der evangelischen Pfarrer zurückgegangen. Vier und noch mehr Gemeinden muss einer mittlerweile versorgen.Wir spazieren durchs Dorf, der Mann plaudert mit Freunden, die in ihrer alten Heimat Urlaub machen. Man erzählt sich Schwänke aus der Schulzeit. Ich möchte mehr wissen. "Gehen Sie doch dort hinüber, in das gelbe Haus. Dort wohnt Lehrer Frank!" Ich habe Glück, Herr Frank ist zu Hause und freut sich über den unerwarteten Besucher. Auch er ist nur im Sommer in Rumänien, lebt sonst in der Nähe von Stuttgart. Aber bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1986 war er hier tätig, 33 Jahre lang hat er den allmählichen Rückgang der deutschen Gemeinde erlebt. "Bis 1952 hatten wir sogar eine Gymnasialstufe an unserer Dorfschule", erinnert er sich wehmütig.
Man braucht sich nicht zu wundern, wenn sich Lehrer Frank emotionell äußert: "Meine Schüler haben nach der Übersiedlung nach Deutschland nie einen Sprachkurs besuchen müssen, meine Tochter beherrscht die Beistrichsetzung besser als mancher Deutsche!" Was den Pädagogen, den seine Schüler immer noch gerne besuchen, mit Stolz erfüllt: "Alle haben etwas gelernt, keiner aus unserer Gemeinde ist in Deutschland jetzt arbeitslos." Wilhelm Frank, dieser charismatische Dorfschulmeister, hat "gegen Essen unterrichtet". Für die Bezahlung des Lehrers und des evangelischen Pfarrers kamen nämlich traditionellerweise die Gemeinden auf. Wie groß war seine Schule? "Alle zwei Jahre wurde eine neue Klasse eröffnet", erklärt der Lehrer. Meist waren das vierzig Kinder, "wir hatten also zwanzig Geburten pro Jahr".
Die bunten, vielformigen Trachten Siebenbürgens sind nicht nur längst aus dem Straßenbild verschwunden, selbst beim Kirchgang kann man sie kaum noch irgendwo sehen. Aber den Straßendörfern mit ihren weiten Angern, den zur Straßenseite hin halb abgewalmten Dächern und den auffälligen Hoftoren sieht man an, dass sie einst Dörfer von "Siebenbürger Sachsen" waren. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts hat der erste deutsche Einwanderungsschub stattgefunden. Die Bezeichnung "Sachsen" hat gar nichts mit dem heutigen deutschen Bundesland zu tun, hat sich aber schon im Mittelalter eingebürgert. Die meisten Einwanderer kamen aus dem Rhein- und Moselgebiet, aus Belgien und Luxemburg. Ihre Dialekte sind dem Unkundigen kaum verständlich.
Es ging darum, das dünn besiedelte Gebiet innerhalb des Karpatenbogens besser gegen Tatareneinfälle, später gegen die Türken abzusichern. In den Landstrichen "im fernen Ungarnlande jenseits des Waldes" (daher heißt Siebenbürgen bis heute auch Transsylvanien) durften die Einwanderer auf großzügig bemessenes eigenes Land und weitgehende politische Freiheiten hoffen. Ihre Gegenleistung bestand in der Kultivierung des Landes und in der Verpflichtung zur Grenzsicherung.
Im östlich gelegenen "Burzenland" (um Kronstadt/Brasov) richtete sich der im dritten Kreuzzug eher glücklos agierende Deutsche Ritterorden ein. Auch die Ordensritter gründeten Dörfer und erbauten ansehnliche Kirchenburgen: Tartlau/Prejmer, zwölf Kilometer nordöstlich von Kronstadt, ist die besterhaltene und beeindruckendste kirchliche Wehranlage, die auf die Deutschordensritter zurückgeht.
Das Wirken des Deutschen Ritterordens war freilich nur von begrenzter Dauer, denn die zunehmende politische Macht war dem Ungarnkönig Andreas II. (dem Vater der heiligen Elisabeth) ein Dorn im Auge. Die Ritter wurden mit Waffengewalt vertrieben, ließen sich fortan in Preußen und an der Ostsee nieder. Im 14. und 15. Jahrhundert mauserte sich das transsylvanische Sammelsurium von Einwanderer-Dörfern zur eigenen, verbindenden Kultur und wurde auch zu einer politischen Größenordnung. Auch nach der Eroberung durch die Türken blieb Siebenbürgen kulturell eigenständig und leistungsfähig. Vor allem die Reformation wirkte schul- und damit kulturbildend: Johannes Honterus – sein Denkmal steht vor der berühmten "Schwarzen Kirche" in Kronstadt – war der Reformator Siebenbürgens. Im Zuge der Gegenreformation und dann unter Maria Theresia kamen weitere – nunmehr: evangelische – Einwanderer ins Land: "Landler" aus Oberösterreich, aber auch Tiroler, Steirer, Kärntner – Einzelgänger, Familien, aber auch halbe Dörfer. Manche assimilierten sich, für andere war Siebenbürgen Durchgangsstation. Zum Beispiel für eine Gruppe Kärntner, die sich nach Auflösung des siebenbürgischen Toleranzgesetzes unter Joseph II. plötzlich als unerwünschte Protestanten in einem rekatholisierten Land wiederfanden und schließlich über die Walachei und die Ukraine in die USA auswanderten (auf die Höfe der Hutterischen Bruderschaft).
Aber das sind eigene Geschichten. Siebenbürgen ist im Kern ein kulturelles und religiöses Mischgebiet mit deutlichen lokalen Abgrenzungen geblieben: Noch heute sind die protestantischen Gemeinden (Augsburger Bekenntnis) so gut wie ausschließlich deutschsprachig. Die ungarischen Szekler bilden – soferne sie nicht ebenfalls Protestanten sind – die katholischen Kirchengemeinden. Der katholische Klerus Rumäniens spricht untereinander Ungarisch. Die Orthodoxie schließlich ist Sache der Rumänen, wobei die deutschsprachigen Siebenbürger zwischen "Rumänen" und "Zigeunern" unseligerweise kaum Unterschiede machen. Die Spannungen und Vorurteile sind gewaltig, am besten harmonisieren noch Deutschstämmige und Ungarn (Szekler) miteinander.
Doch zurück zu den Kirchenburgen. Sie sind die architektonischen Wahrzeichen der Region. In ungefähr zweihundert Dörfern gewinnt man noch einen Eindruck von den ursprünglichen Anlagen, haben sich Ringmauern mit Wehrgängen, an den Türmen und den Kirchen selbst Verteidigungseinrichtungen wie Pechnasen und Schießscharten erhalten. Nicht selten gibt es in den Langschiffen der spätromanischen, früh- und hochgotischen Kirchen einen Brunnen. In den Kirchenburgen konnte sich die bäuerliche Bevölkerung im Notfall einschließen und eine Zeitlang leben, denn in den Verteidigungstürmen hatte man auch Lebensmittel eingelagert.
In Homorod/Hamerude weist mich der dortige Mesner eigens auf den "Speckturm" hin. In seiner Jugend, erzählt er, ist hier tatsächlich noch das Fleisch gelagert worden, und nach dem Sonntagsgottesdienst hätten die Bauern jeweils ihre Wochenration geholt. Die Aufbewahrung im "Speckturm" hatte auch konservatorische Gründe. Die Bauernhäuser sind ja nicht unterkellert, wogegen in den dicken Turmmauern ein günstigeres Klima zum Aufbewahren verderblicher Nahrungsmittel herrschte.
Wer nun neugierig geworden ist, wo Kirchenburgen zu finden sind: Im Dreieck zwischen den Städten Kronstadt/Brasov, Hermannstadt/Sibiu und Schäßburg/Sighisoara gibt es sie in großer Zahl. Vereinzelt findet man sie weiter nördlich in der Gegend von Bistritz/Bistrita. Nicht versäumen darf man einen Besuch in Birthälm/Biertan (Ausgangspunkt: Schäßburg): eine riesige gotische Hallenkirche auf einem mit drei Mauerringen umgebenen Hügel. An diesem ehemaligen Bischofssitz findet man sogar eine Übernachtungsmöglichkeit. Auch die Kirchenburg von Meschen/Mosna ist von mehreren Mauern umgeben. Die Umgebung von Mediasch und jene von Reps sind besonders reich an gut erhaltenen Wehrkirchen.
Die Kirchen sind versperrt, aber es lohnt sich immer, nach dem Kirchenschlüssel zu fragen: Die Mesner wohnen meistens nur ein paar Häuser weiter. Sie sprechen deutsch, freuen sich über interessierte Besucher und gleichen im Regelfall wandelnden Geschichtsbüchern. Und weil es in den ländlichen Regionen Siebenbürgens ja so gut wie keine Gasthäuser (und Hotels schon gar nicht) gibt, ist man als Reisender für die so entstehenden privaten Kontakte doppelt dankbar.
Eine zweiwöchige Wanderung von Wehrkirche zu Wehrkirche kann für kulturinteressierte Menschen mit ein wenig Wagemut und ohne Berührungsängste ein einmaliges Erlebnis sein. Vor allem ist es wichtig, in diesem Völkergemisch aus Deutschen, Ungarn, Rumänen und Zigeunern Fingerspitzengefühl zu zeigen und die bestehenden Vorurteile eben zu akzeptieren. Die bäuerliche Kulturlandschaft gehört zu den unverfälschtesten in Europa. Die Obstbaumblüte im Mai ist die idyllischste Reisezeit.