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Wiens Geliebte
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Mit "Czernowitz – die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole"
wurde ein Standardwerk geschaffen für eine ernsthafte Annäherung
an die alte Hauptstadt der Bukowina.

Von Benedikt Mandl
(14. 07. 2007)

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   Wer einmal geliebt hat, aufrichtig und mit Leidenschaft, der weiß. Von den Gerüchen, die zu Erinnerungen gerinnen und sich einprägen ins eigene Denken. Von den Bewegungen, die Teil eigener Handlungsweisen werden. Von der Wärme am eigenen Hals, derer man sich erst mit dem Verlust gegenwärtig wird. Denn erst der Verlust verleiht der Liebe Tiefe, rückt sie unbarmherzig ins Zentrum der Empfindsamkeit.

Auch Wien und die Wiener haben geliebt. Den Augenblick, in dem sich der Klotz an der Donau von der Habsburgischen Residenzstadt zum Nabel eines Vielvölkerstaates wandelte. In dem Kunst und Kultur erblühten und auf die Kronländer des Ostens übersprangen. In dem die Marcha orientalis endlich vom Rand in die Mitte eines Reiches wanderte: Weil sich die Provinz nicht länger um Grenzen herum bewegte, sondern die Grenzen um sie. Österreich als Erfindung des 19. Jahrhunderts.

   Unter den zahlreichen Geliebten Wiens sticht eine besonders heraus. Zeichnet sich aus durch Gemeinsamkeit: Den Sinn für Musik, mehr noch für Literatur, für Kaffeehäuser und eine urbane Landschaft voll historizistischer Widerlichkeiten. Zeichnet sich aus durch Gegensätzlichkeit: Eine ethnische und religiöse Diversität, die alle Gesellschaftsschichten durchsetzte. Eine Provinzialität, die Freiheiten birgt. Wien und Czernowitz, Österreich und die Bukowina waren Geliebte, für die das Trauma des gegenseitigen Verlustes noch so frisch ist, dass gemeinsam Erlebtes fast immer verklärt, verzerrt oder vergessen ist.

Aber das Echo von Wien hallt noch durch Czernowitz wie auch umgekehrt: Rumänische, russische, ruthenische Dominanz konnten den Dunst der Gründerzeit dort nicht austreiben; die Texte und Lieder, die Narben des Holocaust, die Worte Celans sitzen hier tief in der Kultur des Alltags.

   Anthologien sind oft sachlich, gestatten sich die Blöße der Subjektivität wohldosiert. Wen die Liebe aus Loyalität, die Faszination am Verlorenen oder stille Trauer aus Wien immer wieder nach Czernowitz treibt, der hat nun Gelegenheit, sich selbst zu entlarven. Als Blender, als Verklärer, als Häscher eines vergangenen Traums. Ein integrativer Zugang zu Czernowitz: Geschichte quer durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart und darüber hinaus. Kultur in üppigen Sträußen mit deutschen, jüdischen, polnischen, rumänischen und ruthenischen Blüten. Viel zu breit, um von nur einer Person wirklich begriffen zu werden. Eine Stadt, die lebt und wirklich ist, die sich gewandelt und entwickelt hat und sich stets noch entwickelt.

Helmut Braun sammelte Autoren, die gemeinsam den Facetten einer bunten Stadt nachspüren. Aber auch der Sehnsucht, die immer wieder Menschen zurück nach Czernowitz treibt. Mit "Czernowitz – die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole" wurde ein Standardwerk geschaffen für eine ernsthafte Annäherung an die alte Hauptstadt der Bukowina. Für eine klärende Konfrontation mit den Gerüchen, mit den Bewegungen, mit der Wärme einer verlorenen Geliebten. Ein heilsames Buch für Wien. Ein Schlussstrich, eine Aussprache, ein Neuanfang. Mit einer widersprüchlichen Weisung: Durch die Geschichte niemals zurückzublicken, sondern vorwärts.
 




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