AM:
Sie haben Rumänien als Kind
verlassen und sind erst Jahre später, Anfang der 80er Jahre, nachdem Sie
sich im Ausland bereits einen Namen als Spielleiter gemacht hatten, in
Ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Welchen Einfluss hatte das rumänische
Theater zu jener Zeit auf Sie?
Hausvater:
Das rumänische Theater hat mich
als Kind stark beeinflusst, und nicht zur Zeit meiner Wiederkehr. Während
meiner Kindheit besuchte ich regelmäßig das Theater. Die Erwachsenen um mich
herum waren Theaterliebhaber und Künstler – die Bukarester Bohème jener
Zeit. Ich hatte also die Chance, schon damals die Theaterwelt, nicht nur von
außen, sondern auch von innen kennen zu lernen, mit dem Kampf eines jeden
Individuums, sich zu perfektionieren, seine Rolle oder seine Regie zu
verwirklichen.
Ich war sehr beeindruckt
von diesem Theater, das ich ein Leben lang in Erinnerung behalten habe, weil
es in der unheimlichen Zeit des Kommunismus eine entscheidende Wirkung auf
das Publikum hatte. Die Leute kamen ins Theater, um eigentlich etwas Anderes
zu hören als das, was auf der Bühne gespielt und gesagt wurde. Es schien mir
so, als ob die Schauspieler ihr Publikum verschlüsselt ansprachen, und
selbst die klassischen Verse, die sie auf der Bühne vortrugen, hörten sich
in den Ohren der Zuschauer anders an. Diese hörten vielleicht etwas, was der
Zensur entging.
In jenem System fanden die
Leute eine Licht- und Wahrheitsquelle auf der Bühne, die mit ihrem
alltäglichen Leben nichts gemeinsam hatte. Theaterhäuser, wie zum Beispiel
das Teatrul Mic, das Theater in Craiova oder jenes in Piatra Neamţ
waren nicht nur Institutionen, die schöne Stücke produzierten, sondern sie
führten eine ganze Gesellschaft auf den Weg der Erkenntnis. Ein jeder
empfindet das Bedürfnis, eine Wahrheit zu hören, und wenn man weiß, dass man
in einer heuchlerischen Gesellschaft lebt, in der die Lüge von den Menschen
akzeptiert werden muss –, weil man ansonsten riskiert, seinen Vater, seinen
Mann, seine Mutter zu verlieren – ist es von entscheidender Bedeutung zu
wissen, dass man ins Theater geht, um eine objektive Wahrheit zu hören.
Möglicherweise ist der
Anfang meines künstlerischen Schaffens auf dem Theater mit meiner damaligen
Vorstellung von Theater verbunden: Ich dachte, dass auf der Bühne über
Freiheit, über das Abweichen von der Norm, über Exotik, Reisen, über
persönliche Leistungen und so weiter gesprochen wird. Ich habe damals
gelernt, dass das, was man sieht oder hört, nur eine geheime Tür oder ein
Vorwand ist, um in die Welt von Alice einzudringen, in eine wundersame Welt,
in die richtige Theaterwelt.
AM:
In welchem Kontext fand
Ihre erste Rückkehr nach Rumänien statt?
Hausvater:
Ich bin 1983 zum ersten Mal
nach Rumänien zurückgekehrt. Ich befand mich damals für 24 Stunden in
Bukarest, vom 6. bis zum 7. November. Ich war zu jener Zeit Leiter eines
Theaterfestivals in Kanada, in Quebec, und ich war nach Rumänien gekommen,
um zu sehen, ob es in meinem Heimatland vielleicht ein Theaterhaus gab, das
ich gerne zum Festival eingeladen hätte. Ich habe mir drei gute Stücke im
Odeon-Theater angesehen und hätte gerne eines davon eingeladen. Der
damalige Kulturminister war jedoch dagegen und versuchte, mich davon zu
überzeugen, dass das Ensemble der Armee besser wäre.
Während dieser 24 Stunden
habe ich auch Familienfreunde besucht sowie das Haus, in dem ich geboren
wurde. Unerwartet war damals für mich die Dunkelheit, der Anblick der Stadt,
die wie nach einem Bombenangriff aussah, andererseits beeindruckten mich die
Menschen – ihre Gastfreundschaft, ihre Großzügigkeit, ihre Phantasie, ihre
künstlerische Begabung. Das künstlerische Schaffen in Rumänien kam mir zu
jener Zeit viel interessanter vor als das, was ich später zu sehen bekam.
Ich habe ein Leben lang
unter zeitlicher und räumlicher Nostalgie gelitten, was dieses Land, meine
Eltern, meine Kindheit betrifft, Träume geträumt, in denen dir eine
unendliche Auswahl an Lebenswegen zur Wahl steht, hätte gern, gleich dem
Dichter Robert Frost, mehrere Parallelleben geführt.
An jenem Novembertag habe
ich begriffen, dass Rumänien ein unterdrücktes Land war, aber die Zeit war
für Analysen zu knapp. Ich sah nur, wie bereit und wie froh ein rumänischer
Schauspieler war, sich künstlerisch auszudrücken, vielleicht sogar eher
bereit als ein Schauspieler im Westen. Während der Schauspieler im Westen
materialistisch war, schien mir, entstand die wahre Kunst dort, wo der
Mensch seine Freiheit verloren hatte und wo die Phantasie die Wirklichkeit
ersetzte. Der Künstler stellt sich all das vor, was er nicht haben und sehen
kann, er stellt sich die Orte vor, die er nicht besichtigen kann, und die
Phantasie wird von diesem einengenden Raum und dem Fehlen der Freiheit
gefördert.
AM:
Haben Sie damals einen wesentlichen Unterschied bemerkt zwischen dem
Theater in Rumänien und jenem im Westen?
Hausvater:
Am jenem Tag habe ich drei Stücke gesehen: Woyzeck von Büchner,
Eine stürmische Nacht und
Das Unheil von Ion Luca Caragiale. Caragiale verstand ich nicht – es war
ein Zusammentreffen mit der rumänischen Kultur, mit einer Literatur, die ich
nicht wirklich kannte, obwohl ich Caragiale auf Französisch und Eminescu und
Eliade auf Englisch gelesen hatte. Weil ich jedoch keine rumänische Schule
besucht hatte, war mir die rumänische Kultur fremd geblieben, alles schien
mir neu.
Nicht die Form – die sehr
traditionell war –, sondern der Inhalt und die Chance, Leute zu sehen, die
sich auf der Bühne in meiner Muttersprache ausdrückten, haben mich zu jener
Zeit interessiert. Mit meiner Mutter habe ich nur selten Rumänisch
gesprochen, es war eine Sprache, die mich sofort berührte, wenn ich sie
zufällig auf der Straße, irgendwo auf der Welt hörte. Das Rumänische auf der
Bühne hatte eine starke Wirkung auf mich, und ich begriff, wie unbegrenzt
das Bühnenpotenzial dieser Sprache ist.
AM:
Sie sind 1991, gleich nach der Revolution zurückgekehrt, um am
Odeon-Theater Und sie legten den Blumen Handschellen an zu inszenieren,
ein Stück mit Lackmuspapiereffekt ... Warum, denken Sie, hat diese
Produktion das rumänische Theater so radikal verändert?
Hausvater:
Keine Ahnung. Ich bin damals für vier Wochen nach Bukarest gekommen, die
Premiere fand an einem Samstag statt und ich bin am darauf folgenden Sonntag
weggeflogen. Danach wurde ich von einer Unmenge an Briefen und
Zeitungsbeiträgen zu dieser Inszenierung bestürmt.
Es passiert sehr selten im
Leben eines Künstlers, dass er einen revolutionären Nerv berührt, der die
Welt verändert. Man hat mir berichtet, dass Victor Rebengiuc, ein großer
rumänischer Schauspieler, nach diesem Stück gesagt hätte, für ihn hätte die
Revolution erst zu jenem Zeitpunkt stattgefunden. Du kannst dir der Wirkung
deines Schaffensaktes auf das Publikum nicht von vornhinein sicher sein. Es
ist wahr, dass sich die Bevölkerung in dieser Zeit den Träumen und
Hoffnungen total hingab, und dass es einen absolut wilden Idealismus, ein
akutes Erforschungsbedürfnis gab.
Im Allgemeinen wird im
rumänischen Theater nicht viel experimentiert, weder im schauspielerischen
noch im Regiebereich. Aber zu jener Zeit, 1991, haben es die Schauspieler
akzeptiert, jeden Tag mit mir auf Entdeckungsreise zu gehen und diejenigen
Elemente in der eigenen Person zu finden, die ein menschliches Wesen von
einer Etappe zur nächsten führen. Sie versuchten, sich zu perfektionieren,
ihr Potential zu erreichen.
AM:
Warum haben Sie sich entschlossen, auf Dauer in Rumänien zu bleiben?
Hausvater:
Ich weiß nicht, wie kohärent, wie bewusst diese Entscheidung war ...
Es ist unbestreitbar, dass
das Theater heutzutage nicht mehr das Kommunikationsmittel ist, das es
einmal war. Die Leute gehen heutzutage höchstens noch ins Theater, um ihren
Lieblingsstar zu sehen oder sich einen Augenblick Entspannung zu gönnen. Es
gibt vor allem im Westen kein Bedürfnis mehr nach einer Begegnung mit sich
selbst.
Ich hatte den Eindruck,
dass es in Rumänien ein außergewöhnlich neugieriges Publikum gab, das alles
verstehen wollte und einen Reinigungsprozess
durch Kultur nötig hatte. Ich fühle mich dem Publikum generell sehr
verbunden und ich schätzte es damals, dass der rumänische Zuschauer noch
keine geschichtlich oder politisch definierte Identität besaß, was für das
Theater sehr wichtig war, weil ja das Theater das Gebiet der steten
Bewegung, der steten Wandlung par excellence ist.
In Kanada oder in den
Staaten arbeitete ich oft an Theaterhäusern, an denen die Karten so teuer
waren, dass sich die Jugendlichen den Eintritt nicht leisten konnten. Ich
wusste, dass die Inszenierung ausschließlich von einer Publikumsschicht
gesehen werden würde, die ein wirtschaftliches Level und einen Komfort
erreicht hatte, bei dem sie überhaupt keine Änderung oder Reform mehr
akzeptierte. Ich wusste, dass ich ein verkäufliches Produkt liefern musste,
und das war schrecklich.
In Rumänien ist der Preis
einer Karte auch heute noch sehr niedrig, sodass es eigentlich kein
objektives Hindernis gibt, weshalb Jugendliche nicht ins Theater kommen
könnten. Hier gab es vor allem nach der Revolution eine stete Bewegung, eine
Suche, die von den zahlreichen Manipulationen der Massen durch die
politischen Faktoren, durch Parteien und Politiker ohne moralische
Ressourcen, ohne ein Wertesystem oder eine Lebensphilosophie, hervorgerufen
wurde. Die Bürger kamen mir vor wie Moses’ Anhänger, die sich in der Wüste
verlaufen hatten und das gelobte Land suchten. Das Theater hatte damals ein
Ziel, einen klaren Auftrag.
Während ich in Kanada mit
Ausdrücken wie l’enfant terrible abgestempelt wurde, spürte ich, dass
ich in Rumänien die Chance hätte, etwas zu schaffen, im Rhythmus der
individuellen Suche des Zuschauers, der das Bedürfnis verspürte, sich zu
verändern.
Der Zuschauer darf nicht
mehr anonym oder passiv sein, er kommt ins Theater nicht um zu lachen oder
zu weinen, sondern um seine innere Stärke zu finden, jene Energie, die ihm
zum Beispiel die Ausübung einer politischen Tätigkeit ermöglicht und
vielleicht einen essenziellen Wandel in seinem Leben hervorruft. Es ist
äußerst wichtig, dass das Individuum nicht mehr von einem Arbeitsgeber
abhängig ist, von einem Präsidenten, von einem Premierminister, sondern dass
es sich zu einer unabhängigen und eigenständigen Macht entwickelt.
AM:
Wie sehen zurzeit die rumänische und die westliche Theaterlandschaft im
Vergleich aus?
Hausvater:
Wenn man zum Beispiel das Theater in Irland mit dem rumänischen Theater
vergleicht, so kann man sagen, dass sich das irische Theater dafür
eingesetzt hat, eine nationale Bewegung zu gründen, die sich vom englischen
Theater unterschied: es sollte eine andere Sprache gesprochen werden, es
sollten andere Formen und Inhalte regieren. Dort konnte man eine kollektive
Bewegung bemerken.
Wenn man aber vom
rumänischen Theater spricht, denkt man nur an die Leistungen einzelner
Theater, einzelner Leute, einzelner Stücke. Ich kann mich nicht daran
erinnern, hier in den letzten Jahren eine Strömung, eine Bewegung, einen
Ausbruch gesehen zu haben, in dem Anhänger und Spezialisten verschiedener
Formen und Perspektiven ihre Kräfte vereinigt hätten. Deshalb betrachtet man
nur ein zeitlich begrenztes Phänomen – begrenzt auch durch die Tatsache,
dass das Theater ein staatliches Theater ist und wahrscheinlich nach
Gesetzen funktioniert, die vor 1989 entstanden sind, die den Bedürfnissen
des Jahres 2007 längst nicht mehr gewachsen sind. Das Theater kann nicht
selbstständig, ausschließlich aus eigener Kraft, überleben. Es ist völlig
vom Patronat einer Regierung, eines Philanthropen, einer Stiftung abhängig.
Deshalb kannst du nicht einfach als Fremder nach Rumänien kommen und eine
Reform von heute auf morgen vorschlagen, weil die Privatisierung des
Theaters gleichzeitig seinen Tod bedeuten würde.
Vielen Theatern im Ausland
habe ich den Text Das Urteil von Barry Collins vorgeschlagen und
keiner wollte ihn inszenieren aus Angst, dass das Publikum nicht kommen
würde, weil das Thema so abscheulich ist, weil es nicht kommerziell ist und
weil es das Publikum nicht anzieht. Ich habe dieses Stück am Deutschen
Staatstheater Temeswar gemacht – dieses Theater hatte den Mut, sich an einen
derartigen Text zu wagen. Man kann in Rumänien eine derartige Inszenierung
machen, und das ist phantastisch.
Das rumänische Theater war
ursprünglich ein Schauspieltheater, in dem die Persönlichkeit des
Schauspielers der Motor war, der die Maschinerie des Theaters antrieb. Die
Leute kamen ins Theater, um ihre Lieblingsschauspieler zu sehen und um sich
nach ihnen zu formen, weil ja der Schauspieler ein lebendiges Muster für die
Gesellschaft darstellte. Die Menschen wollten sich wie die Schauspieler
kleiden und benehmen, wie sie sprechen und Beziehungen haben, wie jene des
Schauspielers auf der Bühne.
Wegen des Kommunismus ist
das Theater in Rumänien viel mehr in der Tradition verankert geblieben, weil
die Zensur in Rumänien es nicht zuließ, dass man Autoren wie Beckett, Adamov
oder die meisten Gegenwartsdramatiker kennen lernte und spielte. Die
Freiheit, die man im modernen westlichen Theater in den 60er und 70er Jahren
durch die Teilnahme des Publikums am Spielgeschehen, durch Grotowskis oder
Peter Brooks Experimente gewonnen hat, wurde im rumänischen Theater nicht
praktiziert. Das heißt, dass die Form unverändert blieb: Die Bühnenbilder
waren ständig Schachteln, nach innen gebaut, schwerfällig, die
Inszenierungen hatten Pausen, Akte, Gongschläge. Die Leute sprachen und
gestikulierten schön, pathetisch – das war der hohe Preis, den das Theater
in jenem totalitären System zu zahlen hatte.
Zwei unglaubliche
Tatsachen sind mir bezüglich des rumänischen Theaters der neunziger Jahren
aufgefallen: zum einen das Rudimentäre, die Tatsache, dass die Theaterhäuser
technisch nicht nach modernen Standards ausgestattet waren und man die
Wirkung des Lichtes oder der Geräuschkulisse nicht verstand, zum anderen das
Tabu, die Grenze zwischen Bühne und Publikum zu überschreiten. Es war
unvorstellbar, dass das Theaterspiel in unkonventionellen Räumen stattfand,
dass sich das Publikum von seinem Platz wegbewegte. Diese Ausrichtung hatte
ihren Ursprung im Unterricht an der Uni, in der gängigen Praxis und der
Tatsache, dass das Suchen bis dahin nicht gestattet gewesen war.
Ich glaube, dass man
heutzutage kein qualitatives Theater mehr bieten kann, ohne dass der
Schaffensakt im Labor, im Atelier entwickelt wird. Statt zu behaupten, dass
dies die objektive Wahrheit ist, nehme ich eine Wirklichkeit, stecke sie in
ein Reagenzglas und experimentiere mit ihr bei verschiedenen Temperaturen,
in verschiedenen Klimata, in verschiedenen Situationen, um danach die
Wirkungen zu untersuchen.
Andererseits gab es auch
einen positiven Aspekt im rumänischen Theater zu jener Zeit: das Fehlen
einer modernen Technik und Organisation bewirkte eine absolut phantastische
Offenheit des Schauspielers, eine Neugierde, eine Hingabe, eine innerliche
Notwendigkeit, unbekannte Territorien kennen zu lernen, fremde Themen zu
entdecken. Dank dieser Neugierde, dieser Naivität, kehrte man zurück zum
flexiblen Theater, zu jenem Theater, das jedwelche Formen annehmen konnte,
weil es als Basis keine feste, solide Form mehr hatte.
Ich glaube, dass es
schwieriger ist, einen Dramatiker zu formen, als eine Theaterform zu
entwickeln. Das Suchen nach neuen Formen in der Regieführung stellt die
erste Etappe in der Änderung dar, und ich glaube, dass damals das Erscheinen
von Andrei Şerban und mein Kommen sehr wichtig für die Entwicklung des
rumänischen Theaters waren.
AM:
Heiß umstritten war in Rumänien die Nacktheit in Ihren Inszenierungen.
Wozu dient Ihnen dieses Mittel?
Hausvater:
Was gesagt wurde, spielt keine Rolle. Ich verwende die Nacktheit als
Notwendigkeit der Theaterkunst, der menschlichen Seele, des wahren Mutes.
Wenn du den Mut hast, mir deinen nackten Körper zu zeigen, ist meine
Beziehung zu ihm ein höchst natürliche. Aber wenn ich deinen nackten Körper
nur in Verbindung bringen kann mit einer begrenzten Beziehung sexueller oder
medizinischer Natur, ist dein nackter Körper keine Replik deiner Unschuld
oder deiner Seele mehr. Ich möchte diese implizite Assoziation von Nacktheit
und Sexualität zerstören. Es vergeht keine einzige Stunde, ohne dass man
eine ausgenutzte nackte Frau sieht: Pos, Brüste... Man sieht nicht mehr
idealisierte Körper wie bei den klassischen Künstlern.
Die Nacktheit ist auch ein
Mittel, um den Schauspieler von einem Leben voller Komplexe im Zusammenhang
mit seinem Körper zu befreien. Ich glaube, dass ein jeder bemerken kann,
dass die Nacktheit in meinen Inszenierungen für die Illustration der
Unschuld und Naivität benutzt wird, und dass diese Nacktheit manchmal
überhaupt keine sexuellen oder erotischen Zwecke hat. Nur, wir, die wir an
Komplexen leiden, assoziieren die Nacktheit allein mit einer sexuellen
Beziehung. Das ist eigentlich bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie
heutzutage sexuelle Beziehungen stattfinden: Oft ziehen die Frauen ihre
Röcke und die Männer ihre Hosen gar nicht mehr aus, das heißt, sie sind
nicht einmal nackt, wenn sie miteinander schlafen.
Nach Und sie legten den
Blumen Handschellen an und Bei den Zigeunerinnen hat man die
Verwendung von alternativen Räumen und Perspektiven und von Nacktheit allzu
nachgeahmt: Man machte Nacktheitsübungen an der Uni, jedoch nicht aus einem
innerlichen Bedürfnis, sondern weil diese Form Erfolg hatte, weil sie zu
einer Art Mode wurde. Man hat jedoch keine weiteren Formen gesucht, man ist
nicht weiter gegangen – alles ist im Stadium der Nachahmung geblieben, was
von einer schrecklichen Selbstgefälligkeit zeugt. Weil das Theater ein
staatliches Theater ist, hat es die Tatsache nicht verstanden, dass es seine
Pflicht ist, seine Schauspieler zu erziehen, sie trainieren zu lassen,
Fachleute einzuladen, um Vorlesungen und Workshops zu halten, damit die
Schauspieler vom orientalischen Theater zum antiken Theater, von der Stimme
bis zum Körperlichen experimentieren, vom Seelentheater zum politischen
Theater. Das Kennenlernen verschiedener Formen ist von hohem Wert.
Ich habe mich dafür
eingesetzt, dass der Schauspieler zum Eigentümer des Theaters wird und eine
Evolution auf sozialer, individueller und politischer Ebene durchmacht. Die
Tatsache, dass man keine Vertrauenspersonen aus dem Kulturbereich in der
Politik hat, führt dazu, dass man überhaupt kein Vertrauen ins gesamte
politische System mehr hat. Es gab einmal einen Schauspieler, der Mitglied
der Regierung war, aber der Unterschied zur ehemaligen Tschechoslowakei ist
riesig. Da waren die Regierungen voll von Schauspielern und Regisseuren, die
sich dessen bewusst waren, dass ihre Tätigkeit an sich eine politische
Beteiligung erforderte.
AM:
Wo arbeiten Sie lieber: in der Hauptstadt oder in anderen Städten?
Rumänien ist ja ein sehr zentralisiertes Land ist, in dem sich die
Verwaltung sowie die politischen Institutionen und wichtigsten Medien in
Bukarest befinden...
Hausvater:
Vom künstlerischen Gesichtspunkt her gesehen, gibt es in den anderen Städten
– der sogenannten
Provinz – weniger Verlockungen. Der Schauspieler kann sich besser auf
das Theaterprojekt konzentrieren als in Bukarest, wo er zwischen Fernsehen,
Werbung, Radio und Film zerrieben wird. Der Wunsch des Schauspielers ist es,
ein Star zu werden, und die Möglichkeiten des Fernsehens, ein Image
innerhalb von nur einer Sendung aufzubauen, die von Millionen gesehen wird,
sind gigantisch. Das Theater kann da nicht Schritt halten, sodass allmählich
viele Talente aus der Provinz in die Hauptstadt ziehen, um sich zu
behaupten, um bekannt zu werden.
Ich persönlich arbeite
sehr konzentriert, sehr organisiert, sehr geplant, und daher wäre es für
mich sehr schwierig, in Bukarest zu inszenieren. Hier weiß man nie, wie
lange die Probezeit dauern wird, wann und ob überhaupt die Premiere
stattfinden wird. In Bukarest wird für eine Inszenierung oft Monate lang
geprobt, weil die Schauspieler bei den Proben nicht auftauchen, da sie mit
anderen Projekten beschäftigt sind. Ich verspüre ein Bedürfnis danach, die
komplette Besetzung innerhalb einer sehr knappen, begrenzten Zeitspanne in
den Proben zu haben; also ziehe ich die Theater anderer Kulturstädte jenen
aus der Hauptstadt vor.
AM:
Temeswar ist jene Stadt in Rumänien, die ihre multikulturelle Utopie mit
der größten Sturheit zelebriert: drei Theater in drei verschiedenen
Sprachen! Was gewinnt die Temeswarer Theaterwelt durch diese Koexistenz?
Hausvater:
Das Theater bedient nicht nur seine Kundschaft, die Minderheit, die
es vertritt, sondern die Gesamtheit der Bevölkerung einer Stadt. Das
Deutsche Staatstheater Temeswar existiert nicht nur für die Deutschen, das
Ungarische richtet sich nicht ausschließlich an die Ungarn. Wenn die Leute
die sprachlichen Barrieren überwinden und aus einem inneren Bedürfnis ins
Theater gehen, auch wenn die Vorstellung in einer fremden Sprache
stattfindet und mittels Kopfhörer übersetzt wird, dann hat sowohl das
Theater als auch die Stadt enorm dazugewonnen. Heutzutage gibt es keine
Großstadt, die nicht eine multikulturelle Vielfalt an Institutionen besitzt.
Ich glaube, dass Temeswar
mit seiner geografischen Lage in einem seit Jahrhunderten multiethnischen
Raum, mit seiner Geschichte und seiner Bevölkerung Theaterhäuser in
unterschiedlichen Sprachen haben muss, die Ausdruck verschiedener Kulturen
sind. Diese Theater müssen sich entwickeln und zu Attraktionen der Stadt
werden.
AM:
Am Nationaltheater Mihai Eminescu in Temeswar haben Sie Athénée
Palace Hotel inszeniert, ein Stück, bei dem auf der Bühne in neun
verschiedenen Sprachen gesprochen wird. Aus der Perspektive des
Multikulturalismus und der Mehrsprachigkeit ist diese Inszenierung ein
äußerst gewagtes Experiment. Hat man jemals so etwas gemacht?
Hausvater:
Nein.
AM:
Was war Ihre Absicht?
Hausvater:
Viele Schauspieler sprachen nicht die Sprache, die sie auf der Bühne
sprechen sollten, aber genau so, wie sie einen neuen Text lernen, müssen
Schauspieler eine neue Sprache erlernen. Sie hatten Schwierigkeiten damit,
sich auszudrücken, zumal meine Anweisungen von ihnen verlangten, dass sie in
der betreffenden Sprache dachten, weil ja die Sprache die Reflexion des
Gedankens ist.
Es war mir sehr wichtig zu
zeigen, dass es in Rumänien eine vielsprachige Gesellschaft gegeben hat. Ich
glaube, dass dieses Land wieder multikulturell werden wird, wenn Becali und
andere ähnliche Leute es zulassen – diese Leute, die man ständig im
Fernsehen sieht. Dies ist das Produkt des kommunistischen Regimes: Viele
kennen keine Fremdsprache und begrenzen sich deshalb auf einen
Möchtegernpatriotismus, auf einen Nationalismus, der überhaupt nichts wert
ist ... Aber die Zukunft dieser Welt ist grenzenlos – eine Welt, in der jede
Kultur, jede Religion, jede Hautfarbe respektiert wird. Der
Multikulturalismus wurde uns nicht von den Amerikanern oder von den
Europäern aufgezwungen, er existiert im Inneren der rumänischen Kultur. In
der Zwischenkriegszeit etwa sprach der Rumäne noch mehr Sprachen als der
Franzose oder der Amerikaner, aber auf einmal hat das alles ein Ende
genommen, weil bestimmte Sprachen einem aufgezwungen wurden. "Komm, sprich
jetzt Russisch!", oder: "Sprich jetzt nur noch Englisch, weil das Englische
das Esperanto unserer Welt ist!" Ich glaube, dass man zu jenen
außergewöhnlichen armenischen, deutschen, jüdischen Gemeinschaften
zurückkehren wird, die diesem Land einen besonderen Charme verliehen haben.
Ich hoffe, dass sich deine Generation gegen Leute erheben wird, die sich aus
Ignoranz auf den einen oder anderen Extremismus beschränken.
AM:
Ja, leider sind Leute wie Becali das, was die Fernsehverbraucher zu
sehen bekommen, und so entwickeln sie sich dann auch ...
Hausvater:
Leider, richtig! Das Fernsehen stellt den modernen Menschen und das moderne
Image her, aber ich habe keine Gegenoffensive zum Becali-Modell
gesehen. Wir wissen von McLuhan, dass jemand, wenn er drei Mal im Fernsehen
erscheint, zum Star wird, und wenn er sieben Mal im Fernsehen ist, Präsident
der Vereinigten Staaten. Aber wo ist die Gegenoffensive? Warum sehe ich
keine Jugend, keine Leute, die etwas dagegen zu unternehmen versuchen und
ihre Modelle fördern? Alle sind überwältigt. Die Antwort ist ein
Achselzucken. Und dann kommt irgendwann mal der Tag, wo du sagst: Der
Präsident meines Landes ist Becali – schade, dass er ein Analphabet ist ...
AM:
Worin besteht die Bedeutung der Inszenierung Athénée Palace Hotel?
Hausvater:
Das Buch Athénée Palace
(1942), das ich zusammen mit Robert Şerban für die Bühne bearbeitet habe,
ist das Zeugnis der Autorin Rosie Waldeck über das, was um sie herum
passierte. Es gibt "n" Gestalten im Stück, die wir verfolgen und die sehr
schematisch skizziert sind. Das Stück ist wie ein enormer Korridor, wo
rechts und links Zimmer sind; wir öffnen Türe, hinter den Türen befinden
sich Gestalten. Die Handlung hat begonnen, bevor wir die Tür geöffnet haben,
und wenn wir sie schließen, geht alles weiter. Das, was wir sehen, ist nur
ein winziger Teil, der die Fortsetzung der Geschichte durch die Phantasie
des Publikums voraussetzt, ein Publikum, das nicht mehr aus passiven
Zuschauern besteht, sondern die Vorstellung mitgestaltet. Athénée Palace
Hotel ist die Show Rumäniens in Europa, und ich finde es sehr wichtig,
dass sie in der Welt gezeigt wird.
AM:
Sie sind auch Gestalt eines Buches: Die Masken des Alexander
Hausvater von Cristina Modreanu. Welche von den beiden Rollen ist
Ihnen lieber oder in welcher fühlen Sie sich wohler – als
Theaterschaffender oder als Gestalt?
Hausvater:
Ich weiß es nicht. Wenn ich eine Produktion mache, identifiziere ich mich
mit allen Gestalten und ich erlebe sie – ich glaube, dass eine Rolle zur
nächsten führt. Du kannst kein Theaterschaffender sein, wenn du nicht im
Raum der Gestalten, in der Zeit der Gestalten, in den Formen der Gestalten
lebst. Wenn ich nicht versuche, etwas zu verstehen, was unfassbar ist: Du
zum Beispiel stehst vor mir, und du bist eine Frau. Ich war nie eine Frau –
ich verstehe, was in deinem Körper passiert, aber um deine Gestalt zu
verinnerlichen, muss ich mich vollständig mit dir identifizieren können und
das spüren, was du spürst – die Banalität des Lebens, die Routine des
Lebens, die Zyklen des Lebens. Um ein Theaterschaffender zu sein, musst du
zur Gestalt werden.
Übersetzung aus dem
Rumänischen von Alina Mazilu |