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"Ich bin eine alte Frau und Kommunistin"

Vorabdruck aus Dan Lungus jüngstem Roman, Kapitel 20
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Aus dem Rumänischen von
Aranca Munteanu
(01. 07. 2007)

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   Es ist Freitag Abend und ich gehe Sanda vom Bus abholen. Durch jemanden aus dem Dorf hatte sie mir schon vorige Woche die Nachricht überbringen lassen, dass sie mich besuchen kommt. Wahrscheinlich hatte sie unseren Eltern so lange damit in den Ohren gelegen, bis sie es ihr erlaubten. Wer weiß, was sie ihnen im Gegenzug versprochen hatte.

Die Busse kommen selten, und am Busbahnhof ist viel Getümmel. Die Bänke sind alle besetzt, also drehe ich ein paar Runden. Alle stellen ihre Taschen zwischen den Beinen ab, als ob sie sich ständig vor Dieben fürchten würden. Ich sehe mir den Busfahrplan an und wundere mich darüber, was es so für Ortsnamen geben kann. Ich überlege, dass es auf der Welt wohl nicht nur unser Dorf, sondern hunderte geben muss. Aber solange man sie nicht auf so einer Liste stehen sieht, kommt man gar nicht darauf. Du kannst dein ganzes Leben in deinem Dorf verbringen, ohne zu wissen, was es alles um dich herum noch so gibt.

   Komische Gedanken! In eine Staubwolke gehüllt kommt der Bus an. Ich kenne das. Es ist ein alter Kübel, an dem alles quietscht und nach Diesel riecht. Ich verstecke mich hinter einer Ecke und sehe von dort aus, wie die verschwitzten Reisenden mit ihren Bündeln aussteigen. Sanda steckt den Kopf durch die Tür. Sie trägt ein weißes Kopftuch mit blauen Punkten. War ihr denn nicht zu heiß damit gewesen? Sie steht wie angewurzelt vor dem Bus und hält die Reisetasche in der Hand. Stell sie hin, sage ich in Gedanken zu ihr. Langsam wird die Menschenmenge kleiner. Ein Bub aus unserem Dorf geht an mir vorbei und sagt:

"Deine Schwester ist da!"

"Ich weiß", antworte ich verschmitzt lächelnd.

Sanda fragt einen älteren Herrn, wie spät es ist. Sie sucht mit Blicken die Umgebung ab. Der Fahrer wischt seine Hände mit einem Fetzen ab, lacht und sagt etwas zu ihr, wovon sie nicht belustigt zu sein scheint. Sie schiebt die Reisetasche von einer Hand in die andere, aber sie stellt sie auch nicht ab. Ihre Wangen haben Farbe bekommen. Sie fragt wieder nach der Zeit, macht wieder einen langen Hals. Der Bus setzt kurz zurück, macht kehrt und hüllt Sanda in schwarze Rauchschwaden. Sie entfernt sich zwei Schritte weit von der Stelle, aber nicht mehr, als ob sie Angst hätte, verloren zu gehen. Wenn ich es recht bedenke, war sie bis jetzt nur zweimal in der Stadt. Einmal, als sie mit der Rettung ins Krankenhaus musste, und ein zweites Mal, als sie und Vater Onkel Andrei und Tante Lucretia besuchten. Sie sieht wie ein verschrecktes Huhn aus. Ich zeige mich, bevor sie zu heulen anfängt. Sie sieht mich. Ich kann die Freude in ihren Augen sehen.

"Mein Gott, ich bin so erschrocken! Ich dachte schon, Sandu hat dir nichts ausgerichtet, oder hat es vergessen ..."

Wir umarmen uns.

"Doch, er war schon bei mir, und ich habe ihm gesagt, er soll dir ausrichten, dass ich um die Ecke auf dich warte ..."

Ich fange an zu lachen.

"Lügnerin!", sagt sie und ist fast verärgert.

"Damit du siehst, wie es in der Stadt so ist ... Das war die Taufe."

   Wir fahren ins Wohnheim im Industriegebiet. Sanda schmollt noch wegen meinem Scherz. Sie sagt, jetzt gebe ich mich wohl schon als Städterin. Das Wohnheim ist nicht weit entfernt von dem Betrieb, in dem ich arbeite. Dort bin ich schon seit einem Jahr angestellt. Das ist das erste Mal, dass ich mein eigenes Geld habe, und darauf bin ich sehr stolz. Ich habe mir sogar schon ein paar Sachen zum Anziehen gekauft. Die alten waren mir schon zu alt erschienen. Es gibt überall Baustellen, so dass der Weg etwas beschwerlich ist. Wir müssen ständig Grabungen überspringen, über Rohre steigen, Kabeln ausweichen. Wenn es regnet, ist es eine Katastrophe. Nur wenn ich einen Umweg über die Tangente gehe, kann ich dem Schlamm entkommen. Ich wohne zusammen mit drei anderen Mädchen in einem Zimmer. Dieses Wochenende fährt Adriana ihre Eltern besuchen, so dass Sanda in ihrem Bett schlafen kann. Nur diese Nacht sind wir etwas beengt. Es ist zwar nicht wie bei Tante Lucretia, aber es ist gut genug.

"Wir haben zwei Tage, um die Stadt auf den Kopf zu stellen. Überleg dir, was du gerne tun möchtest ..."

"Ich möchte, dass du mir den Zug zeigst."

"Von hier aus kann man ihn hören, aber wir gehen hin, damit du ihn anfassen kannst."

   Im Zimmer schnippelt Adriana an Livias Haaren. Da sie sich damit ein bisschen auskennt, setzt sie uns ab und zu auf einen Hocker, wickelt uns ein Leintuch um den Hals und schneidet uns die Haarspitzen ab. Damit sie nicht aus der Übung kommt, und wir kein Geld verschwenden müssen. Maria zeigt den beiden Fotos von Schauspielern. Sie sagt, die kann man am Zeitungsstand kaufen. Für so etwas würde ich kein Geld ausgeben.

"Schau doch, was der für eine Frisur hat!", ruft Maria.

Livia sieht sich das von allen Seiten und mit dem Blick des Experten an.

"Tja, so etwas könnte ich auch zusammenbringen ..."

"Zeig mal!", sagt Adriana und streckt die Hand aus. "Vergiss die Frisur, schau, wie fesch der ist! Ich glaube, von dem werde ich heute Nacht träumen."

"Na, deswegen ist er ja Schauspieler!", meint Maria.

"Ich werde mir meinen eigenen Film von ihm träumen", sagt Adriana und lacht.

Die Mädchen unterhalten sich darüber, wer in welchem Film gespielt hat.

   Wir sehen uns die Fotos auch der Reihe nach an. Ich kenne keinen der Schauspieler. Sanda ebenfalls nicht. Aber es stimmt schon, die Männer sind fesch, und die Frauen sind super angezogen. Bei uns im Dorf gibt es Strom erst seit ein paar Jahren. Und hier bin ich erst zweimal im Kino gewesen. Nach dem Essen frage ich Sanda, ob sie fernsehen möchte. Sie ist begeistert. Ich bringe sie ins Erdgeschoß, in den Veranstaltungsraum, wo wir uns Plenarsitzungen und Parteikongresse ansehen müssen, wenn es welche gibt. Hier sitzen schon einige Mädchen. Ich schreibe die Zimmernummer auf Sandas Hand, damit sie sie nicht vergisst, und gehe wieder hinauf. Ich muss einiges bügeln.

Sanda kommt spät zurück und ist enttäuscht.

"Duuu, bist du sicher, dass die auf den Fotos Schauspieler sind? Ich bin so lange dagesessen und hab keinen von ihnen gesehen."

"Ja, ganz sicher. Macht nichts, vielleicht hast du morgen mehr Glück."

Am Morgen frage ich sie, was ihr lieber ist: in eine Konditorei schauen, durch die Geschäfte schlendern, den Park anschauen oder ins Kino gehen. Sanda will, dass wir zuallererst den Zug anschauen. Wir schlendern quer über das umwegsame Gelände zum Bahnhof. Vom Wohnheim aus ist der Rangierbahnhof näher als der eigentliche Bahnhof. Unterwegs kaufe ich am Verkaufsstand am Eingang zur Brotfabrik warme Bretzeln. Die schmecken Sanda sehr. Sie würde gerne einige davon mit ins Dorf nehmen, ich warne sie aber, dass die steinhart werden, sobald sie altbacken sind.

"Bist du je mit dem Zug gefahren?", fragt sie mich.

"Selbstverständlich!"

Da war ich mit einer Arbeitskollegin zu ihr nach Hause aufs Land gefahren. Ich hatte mich auch gewundert, dass ein Zug bis in ihr Dorf fährt. War aber gar nicht so. Wir sind mit dem Zug zwanzig Kilometer gefahren, dann an einem Halt ausgestiegen, es war nicht einmal ein Bahnhof da, und danach sind wir noch sieben Kilometer zu Fuß querfeldein marschiert. Ich konnte trotzdem behaupten, dass ich schon einmal mit dem Zug gefahren war, nicht?

"Und wie ist es?", will Sanda wissen.

"Schön, wie soll es schon sein ..."

   Wir kommen zu den Gleisen, gehen daran entlang. Irgendwo bei den Silos ist eine Garnitur zu sehen. Ich erkläre ihr, dass auf diesen eisernen Schienen die Waggons fahren. Sie bückt sich, um sie zu berühren:

"Uuuu, sind die aber kalt!"

"Sind ja aus Eisen, ist ja klar."

Wir stehen jetzt direkt neben den Waggons. Das Wasser tropft noch an ihnen hinunter. Man hat sie gerade gewaschen, erkläre ich. Sanda geht zwei Schritte zurück und zählt die Waggons. Vierzehn. Ein Pfeifen ist zu hören. Ein paar Gleise weiter fährt ein Güterzug durch. Meine Schwester lässt ihn nicht aus den Augen bis er verschwunden ist.

"Duuu, der macht aber viel Lärm!", ruft sie und zieht an ihren Ohrläppchen.

"Eisen auf Eisen, ist ja klar!"

"Schau einmal, da ist eine offene Tür!", ruft sie wieder überrascht.

"Die sperren sie doch nicht zu, das sind ja keine Wohnungen ... Willst du einsteigen?"

Sie nickt. Die Stufen sind hoch, also schiebe ich sie an. Oben angekommen streckt sie mir die Hand entgegen. Wir gehen ein paar Schritte den Gang entlang. Ohne jemand Bestimmten zu meinen, winkt Sanda aus einem Fenster.

"Auf Wiederseeeehen! Ich fahre nach Bukareeeest ..."

"Vielleicht bemerkt uns einer und will unsere Fahrkarten sehen."

   Sanda zieht schnell ihren Kopf ein. Ein paar Tropfen waren ihr direkt in den Nacken gefallen. Wir betreten ein Abteil. Sanda schwingt sich auf einen Sitz, so wie man es mit einem Bett macht, bevor man es kauft. Mit dem Finger prüft sie die Vinyloberfläche. Sie liest die Aufschriften und sieht sich die Fotos an, die unter Glas und mit vernickelten Schrauben befestigt sind: eine Berglandschaft und mehrere Ansichten vom Meer.

"Fährt der nur in die Berge und ans Meer?", fragt sie.

"Keine Ahnung. Vielleicht fährt er dorthin am öftesten, das wird es sein ..."

"Was ist das hier, der Alarmhebel?"

"Ja, damit du Alarm geben kannst, wenn dir vielleicht schlecht wird."

"Und was passiert dann?"

"Ich denke, ein Arzt kommt dann, um Erste Hilfe zu leisten ..."

Sanda ist mit meinen Erklärungen zufrieden, und wir gehen weiter. Wir entdecken, dass man von einem Waggon in den nächsten gehen kann.

"Schau einmal, die haben auch Klos!", sage ich verwundert.

"Du sagtest doch, du wärst schon einmal mit einem Zug gefahren!"

"Sicher, aber da habe ich nicht gemusst."

   Sanda freut sich wie ein Kind. Sie hüpft herum. Wir kommen zu einem Waggon, der viel sauberer ist und Plüschsitze hat. So etwas hatte ich auch noch nicht gesehen. Wir lassen uns in die Fauteuils fallen, um ihre Weichheit zu fühlen. Sanda schließt genüsslich die Augen. Ich denke mir, das ist wie bei Tante Lucretia.

"Duuu, ich glaube, die sind für Parteimitglieder", sagt sie.

"Glaube ich auch."

Ein Ruck unterbricht unsere Überlegungen. Der Waggon hat sich bewegt. Erschrocken stehen wir blitzschnell auf. Wir laufen zur nächsten Tür. Wir springen hinaus, ohne die Treppe zu benützen, so wie wir früher als Kinder vom Baum herunter sprangen. Wir beruhigen uns und lachen beide.

"Fast wären wir nach Bukarest gekommen", sagt sie.

Der Zug bleibt, wo er ist.

 

Anmerkung:
"Ich bin eine alte Frau und Kommunistin" ist 2007 bei Polirom in Iasi, Rumänien, erschienen. Übersetzt ist bis jetzt nur ein Fragment. Ein deutschsprachiger Verlag wird noch gesucht.




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