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Das Interview führte Franz Wagner |
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AM: Was versteht man heute unter dem Begriff der Exildichtung und wie hat sich dieser entwickelt? Kann man von einem eigenen Genre sprechen?
Petersmann: Unter Exil- oder auch Emigrantenliteratur versteht man im weiteren Sinne Werke verschiedener Gattungen von Autoren oder Autorinnen, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen ihre Heimat unter Zwang oder auf Grund freier Entscheidungen verlassen mussten. Derartige Literatur geht bis in die Anfänge der Schriftkultur zurück, weil Vertreibung, Exil und Verbannung offenbar immer geschehen sind und leider auch geschehen – man denke an die aus welchen Gründen auch immer heute vorhandenen Migrationen aus Afrika und Asien. Auch die europäische Antike kennt zahlreiche Beispiele von Exilliteratur – von frühgriechischer Lyrik um 600 v. Chr. (Alkaios, Sappho, Hipponax u.a.) über Ovid und Seneca im 1. Jhdt. n. Chr. bis in die Spätantike reicht der Bogen. Exilliteratur entsteht aus den politischen Rahmenbedingungen einer Epoche, spiegelt Kämpfe um Macht und Einfluss wider, hat also wohl auch eine anthropologische Komponente. Waren es in der frühen Neuzeit Religionskämpfe, die Literatur Heimatvertriebener erzeugte, so wurden Verbannte und Emigranten des Zarenreiches im 19. Jahrhundert abgelöst von Exilierten und Flüchtlingen aus dem Sowjetimperium des 20. Jahrhunderts. Die wohl größte und schrecklichste Ausweitung erfuhr Exilliteratur, von der man weniger als Gattung, aber durchaus als literarischem Genre sprechen kann, in der Zeit des Nationalsozialismus mit seinen unzähligen verbannten und verjagten, geflüchteten und ausgewanderten Intellektuellen und Künstlern.
AM: Im Alter von 50 Jahren wurde Publius Ovidius Naso nach Tomi am Schwarzen Meer, dem heutigen Constanza, verbannt. Ovid gibt später an, dass Kaiser Augustus diese Entscheidung persönlich getroffen habe, und sein Landesverweis weder durch ein Gerichtsverfahren noch durch einen Beschluss des Senats legitmiert war. Was war der Grund für diesen überraschenden Schritt des Kaisers?
Petersmann: P. Ovidius Naso, in Sulmo (heute Sulmona, in der Region L´Aquila) 43 v. Chr., ein Jahr nach der Ermordung Caesars geboren, gehört wohl neben Seneca zu den prominentesten verbannten Römern. Kaiser Augustus erließ im Jahre 8 n. Chr. einen von Ovid selbst als edictum bezeichneten Relegationsbescheid. In diesem wird die relegatio, die mildere Form der Verbannung nach Tomis (oder auch Tomi) verhängt. Staatsbürgerschaftliche Rechte und Vermögen blieben unangetastet, auch ein Publikationsverbot wurde gegen den bereits sehr berühmten Dichter offenkundig nicht ausgesprochen. Die Gründe für dieses kaiserliche Edikt sind trotz aller Forschung bis heute ungeklärt. Es gibt lediglich Ovids eigene Hinweise in seinen Exildichtungen, den fünf Büchern der Tristia (carmina), also den "Liedern der Trauer", und den vier Büchern Epistulae ex Ponto, den ebenfalls hexametrischen Elegien der "Briefe vom Schwarzen Meer". Diese Hinweise sind kryptisch und haben zahllose Theorien nach sich gezogen, die allesamt Theorien geblieben sind. Ovid spricht von carmen und error, von seinem poetischen Werk und einem Missverständnis der staatlichen Autorität. Es bleibt offen, ob Ovid ein bestimmtes Werk seiner künstlerischen Produktion, etwa die Liebeselegien oder die schlüpfrigen Lieder seiner belehrenden und zum Sexualgenuss anregenden "Liebeskunst" gemeint hat oder sein Gesamtwerk - inklusive der weltberühmten Metamorphosen und des durch die Verbannung unterbrochenen Festkalenders Roms (Fasti). Hinsichtlich des error, des Missverständnisses, deutet er einmal durch den Hinweis auf eine in seinen Metamorphosen erzählte Geschichte des Mythos von Aktaion (Actaeon) an, dass er etwas gesehen oder unabsichtlich von etwas Kenntnis erlangt habe, was seine lebenslange Entfernung aus Rom nach sich zog. Der griechische Mythos erzählt, der schöne junge Jäger Aktaion habe bei der Jagd im tiefen Forst die Göttin Diana nackt beim Baden an einer Quelle gesehen und sei von ihr zur Strafe in einen Hirsch verwandelt worden. Die Metamorphose war tödlich – Aktaion wurde von seinen eigenen Hunden zerrissen.
AM: Die am äußersten Rand des römischen Imperiums gelegene Stadt Tomi zum Exilort zu bestimmen, erscheint ungewöhnlich. Warum wurde Ovid nicht wie üblich auf eine abgelegene italienische Insel oder in eine Griechenstadt Kleinasiens verbannt?
Petersmann: Tomis (nach griech. Tomis, Tomidos) oder Tomi (nach griech. Tomoi) liegt im südlichen Teil des Donaudeltas und war zur Zeit Ovids seit über 600 Jahren griechische Koloniestadt von Auswanderern aus der kleinasiatischen Küstenstadt Milet. Nach der Einverleibung dieser Regionen in das Römische Reich war Tomi Grenzstadt zu den von Thrakern und Getenstämmen bewohnten Ländern nördlich der Donau. Die Bevölkerung muss ein buntes Gemisch von Griechen, Thrakern und Römern gewesen sein, letztere bestehend aus Verwaltungspersonal, Kauf- und Handelsleuten sowie römischem Militär; die Administration war typisch griechisch ausgerichtet, allerdings unter römischer Oberhoheit. Tomis war nach Ausweis der archäologischen Befunde durchaus eine Stadt mittlerer Größe, die mit ihren Hafenanlagen und Verbindungsstraßen in das ausgesprochen fruchtbare und geradezu als Getreidelieferant geltende Hinterland, die heutige Dobrudscha, eine nicht unbedeutende Rolle in der Region spielte. Inschriften bezeugen große Reedereien und Hafenanlagen noch in der Spätantike, auch ist das Christentum bereits früh bezeugt. Vielleicht lag für Augustus die relativ große Entfernung von Rom sowohl auf dem Seeweg (Brindisi – Aegaeis - Dardanellen – Bosporus - Schwarzmeerküste) als auch noch schwieriger auf dem Landweg der Grund für die Wahl des Ortes. Ovid muss in Tomi gestorben sein, etwa acht bis neun Jahre nach dem Antritt der Verbannung. Weder der greise Kaiser noch sein Nachfolger (seit dem Todesjahr des Augustus 14 n. Chr.) Tiberius haben die Relegation aufgehoben.
AM: Sowohl in den Tristia als auch in den Briefen vom Schwarzen Meer adressiert Ovid all die Klagen über seinen jetzigen Zustand an die zurückgebliebenen Freunde in der Heimat. Wie kommentierten Ovids Zeitgenossen dessen Exilschriften?
Petersmann: Ovid schrieb seit Antritt seiner Reise 8 n. Chr. an Gedichten, Elegien im Hexameter, die er auch als solche bezeichnet, und sendet sie in Bücherrollen (libelli) nach Rom. Auffällig ist, dass er in allen Gedichten der fünf Bücher Tristien Adressaten nicht bei Namen nennt. Dies tut er aber sehr wohl bei allen Gedichten der "Briefe vom Schwarzen Meer". Aus der dortigen Begründung leitet sich die Erklärung für die "Namenlosigkeit" der Lieder der Trauer her: In den Tristien hat der Dichter offenkundig Rücksicht auf die Adressaten genommen oder nehmen müssen, die nicht gerne offen mit dem eben Verbannten in Verbindung gebracht werden wollten. Ovid wollte ja mit seinen Liedern ihre Hilfe und Unterstützung im Bemühen um die Rücknahme oder Aufhebung des Ediktes erreichen. Zunehmend durch die ersten Jahre der Verbannung und durch die Erfolglosigkeit derartiger Interventionen gezeichnet, lässt er alle Rücksichten fahren und verlangt in oft sehr direkten Aussagen in den poetischen Briefen vom Schwarzen Meer von namentlich genannten ehemaligen Freunden, Bekannten und Verwandten Unterstützung.
AM: "Dies Land", schreibt der Verfasser der Metamorphosen in scheinbarer Übertreibung über seinen Verbannungsort, "es liegt nahe dem eisigen Pol". Wie bestimmend war die psychologische Erfahrung des Ausgesetztseins für Ovids Wahrnehmung des Landes und seiner Bewohner? Anders gefragt: Sah sich Ovid in den knapp zehn Jahren seiner Verbannung vornehmlich als ein von Barbarei bedrohter Fremdling oder mehr als Lehrer und Kulturbringer?
Petersmann: Ovid hat in seinen Exildichtungen alle Höhen und Tiefen der Heimatferne, des Heimatverlustes, der Andersartigkeit, der Fremde "besungen". Seine Dichtungen sind zum Archetyp von Exildichtung geworden: Er durchlebt die auch bei vielen späteren Exilierten sichtbar werdenden Stadien der psychischen Bewältigung, bzw. Nichtbewältigung der Exilsituation. Ist es zunächst die auf ihn stürzende Fremde der Kultur und Landschaft, die bei ihm das bekannte "Chez nous" – Syndrom auslöst, den ständigen bitteren und schmerzenden Vergleich mit der fernen Heimat, beginnen allmählich die Realität der Landschaftserfahrung, die veränderten Abläufe des täglichen Lebens, die besondere geographische Situation des Exilortes – mit seinen für einen Menschen der mediterranen Welt oft sehr kalt empfundenen Wintern – und die sicherlich vorhandene Feindbedrohung durch die Barbarenstämme der nördlich der Donau wohnenden Völker eine für den Verbannten nicht mehr einfach zu bewältigende Größe und Bedeutung anzunehmen. Sie verzerren – verständlicherweise – die realen Verhältnisse: Auch das ist typisch für Exilliteratur, die sich mit der persönlich erlebten Situation des Exils auseinandersetzt. Dazu kommt in einem immer größer werdenden Ausmaß die Angst der totalen Isolation bis hin zum drohenden Sprachverlust. Auch hier die Verzerrung, die durch diese Furcht ausgelöst wird: Natürlich gab es genügend lateinisch sprechende Menschen in der Stadt und in der Region, aber die Kultiviertheit, der Lebensstil, der persönliche Umgang mit Intellektuellen und Künstlern, die Feinheit einer Bildungsgesellschaft, der Ovid in der Hauptstadt des Imperium, in Rom angehörte, war hier nur eine ferne Erinnerung. Merkwürdig ist auch, dass weder von Besuchen noch von Freunden oder Verwandten, auch nicht von seiner offenbar von ihm selbst sehr geliebten dritten Frau und seiner Tochter die Rede ist. Das Land, Tomis und seine Bewohner werden des öfteren sehr negativ dargestellt. Auch wenn der Dichter getisch lernt, ja sogar nach seinen eigenen Angaben getisch dichtet, sieht er sich nirgends als Kulturbringer in einem Barbarenland, erlebt er vielmehr das Phänomen der "verkehrten Welt", des Mundus inversus, wo man über seine Dichtungen lacht und er selbst in den Augen der Ansässigen der "Barbar" ist.
AM: Rumänische Wissenschaftler veranstalten noch heute regelmäßig Ovid-Kongresse, auf denen Lateinisch gesprochen wird. Wie wichtig ist den Rumänen die Pflege der eigenen Sprache?
Petersmann: Die historische Entwicklung hat Tomi in konstantinischer Zeit zu Constantiana gemacht, von dem sich heute der Name Constanza herleitet. Durch die Eroberungen und Neuorganisation der damaligen Regionen Mösien und Dakien vor allem durch Kaiser Trajan an der Wende vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert ist die Romanisierung der Region nahezu total geworden. Rumänien begreift sich in Mentalität und Kultur als romanisches, der westlichen lateinischen Kultur Europas zugehörendes Land. Das kulturelle Erbe Roms ist allgegenwärtig und für Rumänien identitätsstiftend. Das Schicksal Ovids wird von Rumänen entsprechend gewürdigt und ist immer Forschungsgegenstand geblieben – Ovids Exildichtungen sind der Beginn einer "rumänischen Literatur". – Ob man bei Kongressen wirklich lateinisch spricht, möchte ich dahingestellt lassen. Heute ist die Konferenzsprache in Rumänien vielfach Französisch und natürlich Englisch.
AM: Schlägt man rumänische Telefonbücher auf, stößt man häufig auf den Namen "Ovidiu". Wie lebendig ist im heutigen Rumänien eigentlich das Andenken an den Verfasser der Briefe vom Schwarzen Meer?
Petersmann: Das kann ich schwer beantworten, da ich wenig Kontakt zu rumänischen Wissenschaftlern habe. Ovid als verbannter Römer gehört zu den kulturellen Größen Rumäniens, ist Bestandteil des kulturellen Erbes der Nation, gehört in besonderem Maße zum Bildungskanon und wird – wie die Sprache, in der er dichtete – an allen höheren Bildungseinrichtungen gepflegt.
AM: Welche Bedeutung hatten die in Tomi entstandenen Lieder Ovids für die spätere Exildichtung?
Petersmann: Ovids Exildichtungen, die alle in Tomi entstanden sind, sind aus den oben genannten Gründen archetypisch für dieses Genre der Literatur geworden. Daran ändern auch jüngste Versuche von Literaturwissenschaftlern nichts, die Verbannung Ovids als ein in der Realität nie stattgefundenes Ereignis, als eine rein poetische, das heißt virtuelle Verbannung zu sehen. Den großen Dichter Roms, der traditionelle Literaturformen als Auslaufmodelle erkannt habe und in Gattungssynkretismen neue reizvolle Gattungen schuf, habe die Problematik und vor allem die Psychologie einer Exilsituation und eines Exilierten gereizt und er habe sein eigenes Exil erfunden. In der Tat gibt es nirgends, auch nicht fast ein Jahrhundert später etwa in den Werken des Plinius und Tacitus auch nur den geringsten Hinweis auf ein Exil des Ovid. Derartige Vorstellungen moderner Interpreten haben bislang keinen Glauben gefunden. Es steht zu befürchten, dass Ovid, hätte er tatsächlich den alten Kaiser mit immer neuen Gedichten aus einem angeblich von diesem selbst herbeigeführten Exil genervt, vom Kaiser eben deswegen verbannt worden wäre – vielleicht auch nach Tomis.
AM: Herr Prof. Petersmann, vielen Dank für das Gespräch!