Die Entfernung von Dorf zu
Dorf ist groß." So beginnt Burgs Erzählung Ein Tropfen Wasser. Es
handelt sich um die Geschichte eines Brunnens und um die Geschichte eines
Mädchen, genauer gesagt: Es handelt sich um die Geschichte eines Brunnens,
die zugleich die Geschichte eines Mädchen ist – und dazu freilich noch die
Geschichte einer Bukowiner Landstraße und der vielgeliebten langgrasigen
moldauischen Steppen mitsamt all der dazugehörigen Wanderungen und Wohltaten
und Gewalttaten und Fremdwörter und Heimat-Emotionen, die einst im Staub
persönlicher wie historischer Ereignisse versickerten.
Josef Burg spricht
Altösterreichisch und schreibt jiddisch. Seinen ersten Text veröffentlichte
der 1912 in der Bukowina Geborene und derzeit in Czernowitz
Lebende bereits im Jahre 1934. Tropfen um Tropfen quoll
ihm die Sprache jahrzehntelang ohne erheblichen Aufwand hervor, um Zeugnis
abzulegen über eine Zeit und eine Kultur, in der die Entfernung von Mensch
zu Mensch nicht immer groß war.
Richtig verloren gegangen
ist dieser Autor, der beinahe das ganze zwanzigste Jahrhundert
erlebt hat, zwar nie, aber wirklich
gefunden wurde er bis vor Kurzem auch nicht. Nach
1940 vermochte er nämlich zunächst gar nicht, dann
nur wenig zu veröffentlichen. Nun wird zum ersten Mal ein stiller Einblick
in sein Schaffen ermöglicht: Seit wenigen Jahren erscheint die Reihe
"Der Erzähler Josef Burg" im Hans Boldt Verlag
(s. linke Seite).
Über den letzten
jiddischen Schriftsteller der Bukowina, der sowohl im
Lexikon der österreichischen Exilliteratur als auch im Handbuch
österreichischer Autoren und Autorinnen jüdischer Herkunft verzeichnet
ist, hat zuletzt Peter Rychlo in Literatur und
Kritik 407-408 (September 2006) geschrieben, und zwar innerhalb der
Rubrik "Österreichisches Alphabet".
Für den unter dem Titel
Sterne altern nicht herausgegebenen, genau hundert Seiten dicken
Sammelband, der eine beträchtliche Zeitspanne (nicht nur) jiddischer Kultur
umspannt, wurden dabei insbesondere solche Erzählungen ausgewählt, die
früher noch nicht in deutscher Sprache erschienen sind. Die erste der
siebzehn darin vorgestellten Geschichten, die
bezeichnenderweise Mein Leser heißt, lässt gleichsam als kulturelle
Standortbestimmung die Töne des berühmten Goetheschen Gedichts Gefunden
anklingen. "Ich ging einfach so, ohne irgendein
Ziel, in unserem alten Park spazieren", schreibt Burg – "der
Morgen durchtränkt von den Düften verwelkter Gräser ..."
In dieser Kurzgeschichte
findet der jiddische Autor seinen jiddischen Leser. Ein möglicher Schlüssel?
In der gesamten Reihe "Der Erzähler Josef Burg"
findet der deutschsprachige Leser seinen einst in
Vergessenheit geratenen jiddischen Autor, dem bisweilen dünkt, er denke auf
deutsch. Und das macht schon eine längere Geschichte aus.
Wo liegt der rechte Ort zum
rechten Wort? Bei mir daheim lautet der Titel einer weiteren
Erzählung. Auch hier Fragezeichen: "Soll ich ans
Fenster klopfen wie früher?" fragt der Autor. "An
welches Fenster? Und wen rufen?" Stets der Hang, sich mitzuteilen. Stets das
Dilemma der rechten Wörter.
Fünfzig Meilen. Verdorrte Blume. Ein Kirchlein.
Blaue Stille. Jiddisch. So träufelt es weiter. An Josef Burgs oft zum
Teil rhetorisch niedergeschriebenen Redetexten kann mehr ermessen werden als
nur Vergangenheit und Gegenwart, Gefühle, Wissen, Glauben und Tod.
Die Entfernung von Wort zu
Wort ist groß. Wer dem gelebten Identitätsparadigma altösterreichischer
Vielsprachigkeit bei Burg daheim nachspürt, hört
vielleicht nach angespanntem Lauschen die Farben seiner Stille. Aber dem
schlicht gehaltenen Ton der Dichtung merkt man es beim ersten Kontakt kaum
an. |