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Wie lässt sich die unfassbare Brutalität, mit der die Nationalsozialisten jüdische Männer, Frauen und Kinder abschlachteten, auf erzählerische Weise rekonstruieren? Wie kann man die ausweglose Angst der Millionen Deportierten begreiflich machen, ihren Kampf ums Überleben, ihr schreckliches Martyrium in Lagern wie Auschwitz oder Mauthausen?
Dass eine Annäherung an das Grauen der industriell betriebenen Menschenvernichtung jedenfalls nicht automatisch zum Scheitern verurteilt sein muss, wurde spätestens mit Filmen wie "Schindlers Liste" klar. Steven Spielbergs 1993 erschienener Film über den Unternehmer Oskar Schindler, der während des Zweiten Weltkrieges über 1.000 bei ihm angestellte jüdische Zwangsarbeiter vor dem Tod in den Gaskammern der Nazis rettete, ergab ein psychologisch differenzierteres Bild des Dritten Reichs als viele Vorgängerfilme. Darüber hinaus entwickelte er sich gegen Ende der 1990er Jahre zum Initialzünder für eine Reihe weiterer Produktionen, die sich mit der Shoah, dem Völkermord an rund sechs Millionen europäischer Juden, auseinander setzten.
Dass man sich diesem Thema auch auf humorvolle Weise nähern kann, bewiesen 1998 gleich zwei Spielfilme: Roberto Benignis "Das Leben ist schön" und Radu Mihaileanus "Zug des Lebens". Obwohl sich der Plot nicht recht vergleichen lässt, verfügen die Figuren beider Produktionen über eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: Um den Krieg zu überstehen, entwerfen sie Masken und Verkleidungen, gaukeln sich und ihren Angehörigen etwas vor, das es gar nicht gibt, und denken sich Geschichten aus, die noch im tiefsten Unglück ein klein wenig Hoffnung schenken. Benignis Hauptfigur ist der in ein deutsches KZ verschleppte Vater Guido, der seinen kleinen Jungen dort vor den Nazis verbirgt und diesem das Leben im Lager als aufregendes Abenteuer vorstellt; bis zuletzt glaubt der Sohn an das Märchen von den guten Deutschen, die nur auf böse tun. In "Zug des Lebens" verlangt der Rabbi (Clément Harari) eines im europäischen Osten angesiedelten jüdischen Stetls von seiner Gemeinde eine noch weit drastischere inszenatorische Leistung: "Wer will Nazi sein?", fragt der Rabbiner das versammelte Dorf. Er meint die Frage durchaus ernst – hier kann man sich als Zuseher das Lachen nicht verkneifen. Das ist nicht weiter verwunderlich, immerhin ist der Film nicht als Drama, sondern als reichlich überdrehte Groteske angelegt, die Anleihen bei Charlie Chaplins "Der große Diktator" (1940) oder Ernst Lubitschs "Sein oder Nichtsein" (1942) nimmt.
Die Idee, sich als Nazis zu verkleiden, stammt vom Dorfnarren Schlomo (Lionel Abelanski), der gerüchteweise von sich nähernden deutschen Truppen gehört hat und das Stetl mit einem wahnwitzigen Plan vor der Deportation retten will: Ausgestattet mit genügend Proviant, selbst genähten Wehrmachtsuniformen, gefälschten Papieren und einem gehörigen Maß an Unverfrorenheit will man in einem mit Hakenkreuzen getarnten Zug an den deutschen Besatzern vorbei bis über die rettende Grenze nach Russland vordringen, das selbst bloß Zwischenstation für das eigentliche Reiseziel ist: Eretz Israel – Palästina.
Gesagt, getan. Das Dorf teilt sich in zwei Gruppen: Diejenigen, die am besten Deutsch sprechen, stellen die Nazis. Sie werden von Israel Schmecht (Johan Leysen), einem eilends aus Österreich herbeigerufenen jiddischen Schriftsteller, auf ihre zukünftige Rolle als Deutsche vorbereitet und erhalten Lehrstunden in der "Theologie der Soldaten des Dritten Reichs". Auch die Aussprache wird verbessert: Aus "Mein Fihrer!" etwa wird "Mein Führer!". Der Holzhändler Mordechai Schwarz (Rufus), der vom Dorfrat gegen seinen Willen zum deutschen Kommandanten und künftigen Leiter des Zugs bestimmt wird, erhält von Schmecht Sonderlektionen: "Das Deutsche ist sehr hart, präzise und traurig, Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen, hat jedoch Humor". Darauf erkundigt sich Mordechai bei dem Österreicher: "Wissen die Deutschen, dass wir ihre Sprache parodieren? Vielleicht ist das der Grund für den Krieg?"
Die andere Hälfte des Stetls verkörpert die zu deportierenden Juden. Im Gegensatz zu "Major" Mordechai, für den ein eigener Salonwagen gezimmert wurde, müssen sie sich – so realitätsnah wie möglich – dicht an dicht in die Viehwaggons am Ende des Zuges drängen. Als Lokführer wird kurzerhand ein entfernter jüdischer Verwandter, Archivar im Eisenbahnministerium, installiert, dessen einzige Qualifikation für diesen Job ein Buch mit dem Titel: "Wie bediene ich eine Dampflokomotive?" ist. Immerhin: Nach einigen Fehlgriffen nimmt die Zugmaschine schnaubend Fahrt auf. In den Mienen der Passagiere macht sich Bedrückung breit; jeder weiß, dass es von jetzt an kein Zurück mehr gibt – so oder so.
In "Zug des Lebens" lässt Regisseur Mihaileanu, dessen eigener Vater der Vernichtung durch die Nazis nur knapp entging, in warmen, lebensfrohen Bildern den heute längst vergessenen Alltag eines jiddischen Stetls im Osten Europas wieder auferstehen. Dass es dabei allzu idyllisch zugeht und das Dorf anfangs in einem geradezu vorbiblischen Zustand jenseits von Gut und Böse gezeigt wird, verleiht dem Film eine surreale Note, die, als sich der Zug mit den "Deportierten" nach Russland aufmacht, noch bestärkt wird durch poetische Bilder von im Wind flutenden Kornfeldern, sattgrünen Wiesen und Sonnenuntergängen, die direkt aus der rumänischen Fremdenverkehrswerbung stammen könnten. Die Traum-hafte Schönheit dieser jiddischen Lebenswelt, die der Regisseur hier zu vermitteln sucht, ist als Liebeserklärung an eine untergegangene Kultur zu verstehen, deren Teil einst auch Mihaileanus Vater war.
Doch all die Schönheit des Films ist, angesichts des hehren Themas, zugleich dessen größte Schwäche. Mihaileanu findet kein rechtes Mittel, um die Angst der Dorfbewohner vor ihrer Enttarnung durch die "echten" Nazis zu vermitteln. Nie kommt – angesichts des möglichen Endpunkts der Reise – ein Gefühl von Enge, Dunkelheit oder Verzweiflung auf. Die ständig näher rückende Gefahr bleibt bis zum Ende fern wie am Anfang. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass Mihaileanu das Grauen der Shoah nur an der Peripherie zeigt. Auch fern von Auschwitz ließe sich gewiss ein authentischeres Bild des Schreckens zeichnen. Doch darum geht es dem Regisseur, der auch das Drehbuch verfasst hat, gar nicht. Im Zentrum seines Films steht das Leben im Dorf, das zum Leben im Zug wird, mit all jenen Verwicklungen und kleinen Streitereien, Liebesgeschichten und Anekdoten, die der Alltag bietet. Dass man sich gerade auf der Fahrt zu seinen möglichen Henkern befindet, bleibt eine ferne Ahnung am Horizont. Stattdessen reiht sich Witz an Witz und dominiert Situationskomik von immerhin beachtlicher Finesse.
Bei all dem zeichnet Mihaileanu aber keine Personen, sondern Typen und bleibt dabei allzu oft im Klischee stecken. Man sieht einige "echte" Nazis und auch, wie Menschen verhaftet und Dörfer niedergebrannt werden. Doch dies alles bleibt seltsam blass, wirkt wie ein bemühter moralischer Fingerzeig, vermag nicht zu schockieren. Abschließende Erkenntnis: Selten so gelacht! Dennoch: Das Lachen bleibt einem – im Unterschied zu Benignis "Das Leben ist schön" – hier nie im Halse stecken....
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