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Härtetest im Kino
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"4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage", der Siegerfilm in Cannes 2007, spielt im
Rumänien des Jahres 1987, als Abtreibung verboten war und mit Gefängnis bestraft wurde.
Jedoch ist der Film viel mehr als die Geschichte über eine Abtreibung. Regisseur Cristian
Mungiu erweckt eine für den Westeuropäer völlig unbekannte Epoche wieder zum
Leben, in der die Menschen von einem schönen Leben nur träumen konnten.

Von Irina Wolf
(08. 02. 2008)

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Irina Wolf

wolfirina [at] yahoo.com


wurde in Bukarest geboren.
Nach Abschluss ihres Infor-
matikstudiums kam sie 1988
durch ein Herder-Stipendium
nach Wien. Nach mehreren
Jobs im Telekommunikations-
und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Handelsbereich. Seitdem
arbeitet sie bei der Friedrich
Wilhelm GmbH & Co.KG
und hält weiterhin engen
Kontakt mit Rumänien.

 

 



Cristian Mungiu

Cristian Mungiu kam am
27. April 1968 im rumänischen
Iasi zur Welt. Er studierte
Englische Literatur und an-
schließend Regie an der
Filmhochschule in Bukarest.
Mungius erster Spielfilm
"Okzident" lief 2002 in einer
Cannes-Nebenschiene, "Lost
And Found" feierte 2005 bei
der Berlinale Premiere. Mit
"Vier Monate, 3 Wochen
und 2 Tage" holte Mungiu
2007 als erster rumänischer
Regisseur die Goldene
Palme in Cannes.

 

 


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(c) 2007 Concorde
 Filmverleih GmbH

 


 


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(c) 2007 Concorde
 Filmverleih GmbH

 


 


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(c) 2007 Concorde
 Filmverleih GmbH

 

 

 

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rumänischer Filme
finden Sie hier

   Ich wollte die Augen schließen und wieder ein Kind sein, das Licht der Hoffnung sehen, die Freude am Leben spüren. Aber das Bild auf der Leinwand weckte grauenvolle Erinnerungen. Das war kein Spiel, es war die Wahrheit, das graue düstere Leben im Studentenheim, mit finsteren Korridoren und ohne Warmwasser, die arabischen Studenten, von denen man westliche "Luxusware" wie Seife, Deos und Zigaretten kaufen konnte. Auf der Straße sah es nicht viel besser aus: die vielen Schlaglöcher, der Schmutz, die kaputten Zäune und verfallenen Gebäudefassaden, die Menschenschlangen vor den Lebensmittelläden, die Straßenhunde – Elend soweit das Auge reichte. Der Blick ins Hotel brachte nicht die erhoffte Veränderung. Es herrschte die Unfreundlichkeit der Rezeptionistin, es gab das kaputte flimmernde Neonlicht am Gang und es galt, wie zufälllig ein Zigarettenpackerl Marke "Kent" auf dem Rezeptionstisch zu vergessen.

Das alles bedrückte mich aufs Äußerste. Ich spürte, wie sich mein Herz verkrampfte, wie mein Hirn keinen Ausweg aus diesem allumfassenden Elend sah. Der Regisseur Cristian Mungiu weiß ganz genau, die Zuschauer gleichermaßen zu beeindrucken und zu schockieren.

"4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage", der Sieger der Goldenen Palme 2007 in Cannes spielt im Rumänien des Jahres 1987. Der Film deckt nur einen einzigen Tag ab und handelt hauptsächlich von einer Abtreibung. Diese war im Rumänien der achtziger Jahre laut einem Dekret aus dem Jahr 1966 verboten. Die Frauen wurden regelmäßig auf mögliche Schwangerschaften kontrolliert. Ärzte, die Schwangerschaften beendeten, sowie deren Patientinnen, wanderten, falls sie erwischt wurden, ins Gefängnis.

   Die Hauptdarstellerinnen Gabiţa und Otilia sind Studentinnen und teilen sich ein Zimmer in einem Studentenwohnheim. Gabiţa ist schwanger. Es ist eine unerwünschte Schwangerschaft und Otilia hilft ihr bei der Organisation der Abtreibung, die ein gewisser Herr Bebe in einem gemieteten Hotelzimmer einleiten soll.

Jedoch ist der Film viel mehr als die Geschichte über eine Abtreibung. Mungiu erweckt eine für den Westeuropäer völlig unbekannte Epoche wieder zum Leben, in der die Menschen von einem schönen Leben nur träumen konnten. Das einzige Ziel war damals zu überleben und das System zu besiegen. Aus diesem Grund hielten viele von ihnen instinktiv fest zueinander. Die Armut führte zu tiefen Freundschaften, die manchmal, verstärkt durch die Naivität der jugendlichen Jahre, große persönliche Opfer verlangten, wie die, die sich im Hotelzimmer des Films abspielten.

  Ohne viel Worte, ohne Hintergrundmusik, jedoch mit einer minutiösen Rekonstruktion der Atmosphäre der früheren Zeiten, gelingt dem Regisseur eine verblüffende Wiederkehr der kommunistischen Epoche Rumäniens, ob im Studentenheim oder auf der Straße, im Bus oder im Hotel. Wer kann schon ahnen, welch ein Unterschied im Bestellen einer einfachen Tasse Kaffee lag? Indem echter Kaffee oder eine originelle Mischung jener Zeit aus 80% Hafer und 20% Kaffee, benannt "nechezol", vorbereitet wurde, war eine eindeutige Unterscheidung zwischen In- und Ausländer, zwischen "normalen" und bevorzugten Personen zu bemerken. Die Feinheit liegt ja im Detail.

Die Klischees der rumänischen Gesellschaft bleiben auch nicht ausgenommen. In einer fast "heiteren" Szene des Films, die bei den Eltern von Otilias Freund spielt, erlaubt der Regisseur einen eindrucksvollen Blick darauf. Durch eine geschickte Regieanweisung platziert Mungiu Otilia zwischen beide Eltern, wo sie wie zerquetscht wirkt, während der Freund hilflos im Hintergrund sitzt. Die meist unsichtbaren aber überlauten Gäste unterhalten sich ununterbrochen über Themen wie Menschen aus verschiedenen Milieus, dem Unterschied zwischen "einfachen" Leuten und Personen mit abgeschlossenem Studium, die Respektlosigkeit der jungen gegenüber der älteren Generation, bis hin zu Essensgewohnheiten. Inzwischen wird maßlos viel gegessen und getrunken; die im Vordergrund stehende Ballantines Flasche, auch eine "Luxusware" der damaligen Zeit, wird dauernd von einem Gast zum anderen hin und her gereicht.

   Vor allem sind es aber die Charaktere, die diesen Film so interessant machen. Otilias fast mütterliche Fürsorge für Gabiţa, ihre unermessliche Hilfe, die Art wie sie ohne einen Augenblick zu zögern handelt, mögen den Zuschauer zum Denken anregen, ob es heutzutage noch solche Menschen gibt. Auch jene anderen Typen des Films gibt es ohne Zweifel noch heute: solche, die zur Lösung ihrer Probleme auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen sind, und ebenso die, die aussichtslose Situationen von anderen zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen wissen. In diesem kompromisslosen Film schafft es Mungiu, uns an das Wesentliche im Leben, an das Ernste, Unveränderbare dieser kurzlebigen Existenz, in der wir unruhig umherstreifen, an die wahre Freundschaft, zu erinnern.

Letztendlich erweist sich der Regisseur auch als Meister des "Thrillers". Kleine, für die Handlung unbedeutende, aber für den Zuschauer hervorstechende Details wie ein Messer, ein vergessener Pass bei der Rezeption, ein Läuten des Telefons, das niemand beantwortet, sorgen für hochkarätige Spannung. Von qualitativ hohem Niveau ist auch der Einsatz der Geräuschkulisse der Straße, das Hundebellen, das Autohupen, der Lärm von zerbrochenen Flaschen, Otilias Schritte und deutlich hörbare Atmung. Es ist vor allem aber die oft eingesetzte Kameraführung von hinten, die den Zuschauer persönlich ins Geschehen einbezieht, die diesen Film überaus spannend macht.

   Es war wie ein Albtraum und doch so wahr. Es war vorbei. "Sprechen wir nie wieder über das was geschehen ist", sagt Otilia zu Gabiţa in der Schlussszene. Der Film war aus, ich saß im Saal und horchte dem Schlusslied "Andauernd höre ich dich" zu. Es ist das Jahr 2008.

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