Ich wollte die Augen
schließen und wieder ein Kind sein, das Licht der Hoffnung sehen, die Freude
am Leben spüren. Aber das Bild auf der Leinwand weckte grauenvolle
Erinnerungen. Das war kein Spiel, es war die Wahrheit, das graue düstere
Leben im Studentenheim, mit finsteren Korridoren und ohne Warmwasser, die
arabischen Studenten, von denen man westliche "Luxusware" wie Seife, Deos
und Zigaretten kaufen konnte. Auf der Straße sah es nicht viel besser aus:
die vielen Schlaglöcher, der Schmutz, die kaputten Zäune und verfallenen
Gebäudefassaden, die Menschenschlangen vor den Lebensmittelläden, die
Straßenhunde – Elend soweit das Auge reichte. Der Blick ins Hotel brachte
nicht die erhoffte Veränderung. Es herrschte die Unfreundlichkeit der
Rezeptionistin, es gab das kaputte flimmernde Neonlicht am Gang und es galt,
wie zufälllig ein Zigarettenpackerl Marke "Kent" auf dem Rezeptionstisch zu
vergessen.
Das alles bedrückte mich
aufs Äußerste. Ich spürte, wie sich mein Herz verkrampfte, wie mein Hirn
keinen Ausweg aus diesem allumfassenden Elend sah. Der Regisseur Cristian
Mungiu weiß ganz genau, die Zuschauer gleichermaßen zu beeindrucken und zu
schockieren.
"4 Monate, 3 Wochen und 2
Tage", der Sieger der Goldenen Palme 2007 in Cannes spielt im Rumänien des
Jahres 1987. Der Film deckt nur einen einzigen Tag ab und handelt
hauptsächlich von einer Abtreibung. Diese war im Rumänien der achtziger
Jahre laut einem Dekret aus dem Jahr 1966 verboten. Die Frauen wurden
regelmäßig auf mögliche Schwangerschaften kontrolliert. Ärzte, die
Schwangerschaften beendeten, sowie deren Patientinnen, wanderten, falls sie
erwischt wurden, ins Gefängnis.
Die Hauptdarstellerinnen
Gabiţa und Otilia sind Studentinnen und teilen sich ein Zimmer in einem
Studentenwohnheim. Gabiţa ist schwanger. Es ist eine unerwünschte
Schwangerschaft und Otilia hilft ihr bei der Organisation der Abtreibung,
die ein gewisser Herr Bebe in einem gemieteten Hotelzimmer einleiten soll.
Jedoch ist der Film viel
mehr als die Geschichte über eine Abtreibung. Mungiu erweckt eine für den
Westeuropäer völlig unbekannte Epoche wieder zum Leben, in der die Menschen
von einem schönen Leben nur träumen konnten. Das einzige Ziel war damals zu
überleben und das System zu besiegen. Aus diesem Grund hielten viele von
ihnen instinktiv fest zueinander. Die Armut führte zu tiefen Freundschaften,
die manchmal, verstärkt durch die Naivität der jugendlichen Jahre, große
persönliche Opfer verlangten, wie die, die sich im Hotelzimmer des Films
abspielten.
Ohne viel Worte, ohne
Hintergrundmusik, jedoch mit einer minutiösen Rekonstruktion der Atmosphäre
der früheren Zeiten, gelingt dem Regisseur eine verblüffende Wiederkehr der
kommunistischen Epoche Rumäniens, ob im Studentenheim oder auf der Straße,
im Bus oder im Hotel. Wer kann schon ahnen, welch ein Unterschied im
Bestellen einer einfachen Tasse Kaffee lag? Indem echter Kaffee oder eine
originelle Mischung jener Zeit aus 80% Hafer und 20% Kaffee, benannt
"nechezol", vorbereitet wurde, war eine eindeutige Unterscheidung zwischen
In- und Ausländer, zwischen "normalen" und bevorzugten Personen zu bemerken.
Die Feinheit liegt ja im Detail.
Die Klischees der
rumänischen Gesellschaft bleiben auch nicht ausgenommen. In einer fast
"heiteren" Szene des Films, die bei den Eltern von Otilias Freund spielt,
erlaubt der Regisseur einen eindrucksvollen Blick darauf. Durch eine
geschickte Regieanweisung platziert Mungiu Otilia zwischen beide Eltern, wo
sie wie zerquetscht wirkt, während der Freund hilflos im Hintergrund sitzt.
Die meist unsichtbaren aber überlauten Gäste unterhalten sich ununterbrochen
über Themen wie Menschen aus verschiedenen Milieus, dem Unterschied zwischen
"einfachen" Leuten und Personen mit abgeschlossenem Studium, die
Respektlosigkeit der jungen gegenüber der älteren Generation, bis hin zu
Essensgewohnheiten. Inzwischen wird maßlos viel gegessen und getrunken; die
im Vordergrund stehende Ballantines Flasche, auch eine "Luxusware" der
damaligen Zeit, wird dauernd von einem Gast zum anderen hin und her
gereicht.
Vor allem sind es aber die
Charaktere, die diesen Film so interessant machen. Otilias fast mütterliche
Fürsorge für Gabiţa, ihre unermessliche Hilfe, die Art wie sie ohne einen
Augenblick zu zögern handelt, mögen den Zuschauer zum Denken anregen, ob es
heutzutage noch solche Menschen gibt. Auch jene anderen Typen des Films gibt
es ohne Zweifel noch heute: solche, die zur Lösung ihrer Probleme auf die
Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen sind, und ebenso die, die aussichtslose
Situationen von anderen zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen wissen. In diesem kompromisslosen Film schafft es Mungiu, uns an das
Wesentliche im Leben, an das Ernste, Unveränderbare dieser kurzlebigen
Existenz, in der wir unruhig umherstreifen, an die wahre Freundschaft, zu
erinnern.
Letztendlich erweist sich
der Regisseur auch als Meister des "Thrillers". Kleine, für die Handlung
unbedeutende, aber für den Zuschauer hervorstechende Details wie ein Messer, ein
vergessener Pass bei der Rezeption, ein Läuten des Telefons, das niemand
beantwortet, sorgen für hochkarätige Spannung. Von qualitativ hohem Niveau
ist auch der Einsatz der Geräuschkulisse der Straße, das Hundebellen, das
Autohupen, der Lärm von zerbrochenen Flaschen, Otilias Schritte und deutlich
hörbare Atmung. Es ist vor allem aber die oft eingesetzte Kameraführung von
hinten, die den Zuschauer persönlich ins Geschehen einbezieht, die
diesen Film überaus spannend macht.
Es war wie ein Albtraum
und doch so wahr. Es war vorbei. "Sprechen wir nie wieder über das was
geschehen ist", sagt Otilia zu Gabiţa in der Schlussszene. Der Film war aus,
ich saß im Saal und horchte dem Schlusslied "Andauernd höre ich dich" zu. Es
ist das Jahr 2008. |