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Liebe
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Ein Dilemma zwischen Seligkeit und Albtraum

"Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur
die Lenker, die Fahrgäste und die Straße." (Franz Kafka)

Von Thomas Sukopp
(25. 07. 2005)

...



Thomas Sukopp, M.A.,
thomas.sukopp@gmx.de

arbeitet am Seminar für
Philosophie der Technischen
Universität Braunschweig.

Schwerpunkte:
Wissenschafts-
und Erkenntnistheorie; Ethik
 

Homepage

www.thomas-sukopp.de


Publikationen u.a.

Thomas Sukopp.
Menschenrechte:
Anspruch und Wirklichkeit. Menschenwürde, Naturrecht
und die Natur des Menschen.
(Tectum Verlag, 2003)

Thomas Sukopp.
 Was ist und was leistet
Menschenwürde?
In: Philosophia naturalis 41, 2
(2004), S. 315-351.

Thomas Sukopp.
Milan Kundera als
Philosoph: Vom Erforschen
der Existenz und den
Gefangenen der Geschichte.
In: Parapluie
(www.parapluie.de);
Erscheint im August 2005.

 

 

 

 

Madame Bovary

 

 

 

 

 

 

 

 

Euronyme, die Selbstliebe vs.
Ophion, die Selbstverliebtheit

 

 

 

 

 

 

 

 

Zeus vs. Aphrodite

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hermaphroditos ist Mann und Frau in einem und höchstes Ideal der Antike

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Androgyne war in der Antike nicht geschlechtslos, sondern die Summe aller Geschlechtsmerkmale

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Minnedienst: ein mittelalterliches Ideal kultivierten Trieblebens

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In der "christlichen Nächstenliebe" hat sich gegenüber der Antike die Grundauffassung von Liebe verkehrt: Nicht mehr das erotisch geprägte Bedürfnis wird als Grund der Liebe gesehen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gottfried von Straßburgs "Tristan" als scharfe
Kulturkritik, die das liebesfeindliche
Regeldenken kritisiert

 

 

 

 

 

 

 

Am Beispiel der Malerei sieht man augenfälligsten, dass im Barock zum Ideal wird, was im Mittelalter verdammt, verflucht und zu überwinden gepredigt wurde: In der Frauenverherrlichung
wird das Tier im Menschen ausgedrückt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Machtliebe als offizielles Liebesprogramm des Barock

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Hausmann verwaltet erfolgreich seine brave Hausfrau, die der keusche Engel Gottes ist. Aber wo bleibt das ehrliche Gefühl, die Herzenswahrheit?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gefühle zu zeigen, wird zu einem Wert an sich

 

  

 

 

 

 

 

 

 

Im 20. Jahrhundert ist Sex vielleicht unkomplizierter geworden, aber nicht die Liebe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wahnwitziger Umbruch am Ende des 19. Jahrhunderts: Ekstase, Rausch, Exzess und orgiastisches Erleben prallen auf Panzercharaktere, verkrüppelte Militaristen und Preußenbegeisterte

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Lieben entsteht heute der Eindruck der Heimatlosigkeit und Einsamkeit. Ein kürzlich erschienenes Buch heißt "Elementarteilchen": Es geht nicht um Atomphysik

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Formen der Erlösung von Zwang: Telefonsex (perfekte Anonymität und Einsamkeit), das Spiel von Nähe und Distanz beim Partnertausch und die an mittelalterliche Erlösungsmystik erinnernden Praktiken in Sadomasochismus und Fetischismus


 

 

 

"Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete,
und hätte die Liebe nicht, so wäre ich tönend
Erz oder eine klingende Schelle." (Korinther 1, 13)

   Auch wenn hier eher himmlische Liebe gemeint ist, so soll ein Mensch dem Zitat gemäß alles, was er tut, mit Liebe tun. Was haben Philosophen zu dem berühmt-berüchtigten Wort zu sagen, hinter dem sich Berge von Theorien, unerfüllten Hoffnungen, Wünsche und Ängste verbergen? Geben also Philosophen heute (k)eine Antwort mehr auf die Frage, wie Liebe im post-romantischen Zeitalter möglich ist?

Liebe ist weitgehend privatisiert und philosophisch wenig interessant. Das ist meine erste Antwort. Doch egal wie die Antwort ausfällt, ein Gefühl bleibt: "Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind." (Wittgenstein)

Es gibt nur wenige Probleme von ähnlicher existentieller Tragweite wie die, die mit Liebe zusammenhängen. Werfen wir also ein paar Blicke auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, auf die Träume und Albträume zwischen Liebe, Leidenschaft, Elternschaft, Selbstliebe, Selbstaufgabe, Sex und Askese. Im ersten Abschnitt geht es um die etablierteste Einrichtung für Liebende (und andere), nämlich um die Ehe. In den folgenden Abschnitten eilen wir mit Riesenschritten durch die Geschichte der Liebe (vgl. dazu auch: Wolfgang Rath, Liebe. Die Geschichte eines Dilemmas, Goldmann: München,1998).

Die Ehe: Eine bürgerliche Institution

   Hobbyzyniker können fragen, was Ehe mit Liebe zu tun habe. Woody Allen meint, dass in der Ehe zwei Menschen an Problemen scheitern, die sie allein nicht hätten. Von Shakespeare bis Nietzsche gibt es eine Tradition, die Ehe zu demaskieren oder lächerlich zu machen. Sie ist die institutionalisierte und domestizierte Form der romantischen Liebe. Diese gibt es seit ungefähr 250 Jahren. Dahinter steht ein altes Ideal, so alt wie die christlich-antike Kultur, das die Verschmelzung von Seele und Trieblust propagiert und im 19. Jahrhundert zur fast allgemeingültigen Wahrheit wird.

In der wahren, d. h. romantischen Liebe verbinden sich Begierde und Zuneigung. Im 18. Jahrhundert war die Idee einer Liebesehe zwar nicht neu, aber die Forderung, dass die Liebesehe als standardisierte Form der empfindsam romantischen Liebe die Verbindung von irdischer und himmlischer Liebe garantiert. Novalis schreibt ironisch: "Eine Ehe sollte eigentlich eine langsame, kontinuierliche Umarmung, Generation, wahre Nutrition, Bildung eines gemeinsamen harmonischen Wesens sein." Mann und Frau verschmelzen symbiotisch. Wie soll das zu zweit gehen, wenn schon der Einzelne zerrissen ist, d. h. wenn er seine Trieblust als unvereinbar mit Zuneigung und Zärtlichkeit empfindet?

   "Die physische Liebe ist ein Bedürfnis, das dem Hunger gleicht", schreibt Balzac in der "Physiologie der Ehe" (1829). Diese Liebe ist wie ein jagender Löwe, der im Falle Don Giovannis allein in Spanien 1003 Mal erfolgreich war, wie uns Don Giovannis  Potenzbuchhalter Leporello zu berichten weiß. Die Zärtlichkeit ist nach Balzac zerbrechlich, eine "femme fragile". Wie lässt sich beides vereinen? Anfang des 20. Jahrhunderts gibt uns Gottfried Benn eine Lösung, die wirklich unbefriedigend ist: "Impotenz in der Ehe ist ein Ovation für die Ehefrau als Mensch." Ähnlich ernüchtert stellt Harald Schmidt eine Ersatzbefriedigung vor: "Haben Sie noch Sex oder spielen Sie schon Golf?" Für viele Frauen stellt sich die Frage allerdings gar nicht, denn Männer denken sowieso nur an das Eine und damit ist nicht wahre Zuneigung oder empfindsame Liebe gemeint, sondern direkte Folgen eines phallozentrischen Weltbildes.

Das Scheitern einer Liebesehe schildert Flaubert mustergültig in "Madame Bovary". Die Gründe sind Hingabe nicht an einander, sondern an Äußeres als Folge bürgerlichen Pragmatismus, die Verselbständigungen der Ehegatten und ihrer Welten sowie die Flucht in Traumwelten, zu der sich Emma ihre passenden Objekte sucht, die sie nach ihrem Willen formt. Ihren Geliebten liebt sie ebensowenig wie dieser sie. Fast in einem Vergewaltigungsakt bemächtigt er sich ihrer. Er macht sie zu einem Objekt in der irdischen Liebe. Sie gebraucht ihn dafür in der himmlischen Liebe als ihr Werkzeug. Der Egoismus floriert. Der Gegenpol zum Egoismus (im Biedermeier wird dem egoistischen Liebestod gehuldigt) ist die Selbstaufgabe. Zwischen diesen Polen pendelten Liebende von Augustinus bis Simone de Beauvoir nicht nur in Ehen.

Liebe im Mythos

   Am Anfang ist die Urgöttin der Liebe. Nackt erscheint sie im Chaos. Sie scheidet Himmel und Meer, um Halt zu finden und tanzt nach Süden, um sich zu erwärmen. So idyllisch geht es nicht weiter im pelasgischen Schöpfungsmythus. Selbstherrlichkeit und Machtgier zerstören die Liebe nicht erst seit den Zeiten Flauberts. In dem genannten Mythus verkörpert Euronyme, die Mutter aller Dinge, die Selbstliebe. Ihre Gefahr verkörpert Ophion: Selbstverliebtheit als der Wille zur Macht. Die Selbstliebe Euronymes ist Voraussetzung dafür, einen anderen zu lieben. Nur wer sich selbst, aber eben nicht nur sich selbst liebt, wird auch geliebt.

Ein Element der romantischen Liebe finden wir schon im griechischen Schöpfungsmythos: Liebe als Moment zeitlosen Empfindens. Nach der Gewalt- und Schreckensherrschaft der Titanen im Zeichen der Melancholie (eine römische Zuschreibung) schlägt Niedergeschlagenheit in Lebensleichtigkeit um: Zeus, der jüngste Sohn und Chef der Götter ist allzeit bereit und lüstern. Ist Kronos nekrophil (Erich Fromm), gefangen in einer Zeit ohne Erneuerung, so ist Zeus die Gestalt einer biophilen Männerherrschaft. Er kam im Zeichen des Blitzes zu Frauen und schaffte Evidenz. Ein Vergewaltiger wurde zu einem gesellschaftlichen Vorbild! In Zeus war ebenfalls die Gewalt selbstverliebter Liebe verkörpert.

Seine Gegenspielerin ist Aphrodite, die die wunschgetriebene Hingabe und die Selbstliebe verkörpert. Sie kann durch ihre Selbstliebe das Lieben weitergeben. Lieben ist Geliebtwerden um der Selbsterfüllung wegen. Sokrates wird später klarstellen, dass Liebe immer "Liebe zu jemandem oder zu etwas" ist, der Sehnsucht zu etwas entsprungen, das man selbst nicht hat. Hat man das Gewünschte gefunden, so lässt die Sehnsucht nach und man kann sich erneut auf die Suche machen. Aphrodite ist natürlich eine treulose Gattin und zeugt neben vielen Kindern mit verschiedenen Liebhabern Hermaphroditos mit dem Götterboten Hermes. Er bedient im Gegensatz zu Aphrodites Gatten ihre Eigenliebe. Aphrodite gibt sich nicht nur dem Wahrheitsboten hin, sondern auch dem Gott der Kaufleute, Reisenden, Diebe und Lügner. Die Geschichte von Aphrodite und Hermes zeigt, wozu Liebe fähig ist, wenn der eine dem anderen schmeichelt, die Selbstliebe kitzelt und kein Anspruch auf Dauer, Ehe und Wahrheit vorliegt. Hermaphroditos ist Mann und Frau in einem und höchstes Ideal der Antike.

Liebe historisch

Antike: Selbstliebe und Eros

   Hermaphroditos zeigt, was sein könnte: das Verschmelzen aller Sehn-süchte zur stillen Zufriedenheit beider Hälften. Er ist ein vergangenes und missverstandenes Bild von der Einheit in der Liebe. Das Androgyne war in der Antike nicht geschlechtslos, sondern die Summe aller Geschlechtsmerkmale. Einheit heißt heute das, was alle Unterschiede in sich aufhebt und meint nicht die Zusammenstellung aller Unterschiede.

Ein weiterer Sohn Aphrodites ist Eros, der für den Teil der Liebe steht, den man durch Triebbeherrschung erlangt. Bekanntlich diente dazu die Knabenliebe als Garant für die Fortdauer einer Herrschaft elitärer Männerzirkel und als triebökonomische Einrichtung. Erotik in der Antike heißt formelhaft, Sinnenfreude, die genussvoll erlebt wird, der aber zu verfallen verpönt ist. Ihr Sklave zu werden, ist ein Tabu.

Platon lässt eine Fachfrau, Diotima, sprechen, wenn es darum geht, zu sagen, was Liebende umtreibt: Begehrende begehren das noch nicht Vorhandene, das nicht Fertige, das sie nicht haben und sind, dessen sie aber bedürfen. Voraussetzung für die Fähigkeit zur Liebe ist die Selbstliebe.

Mittelalter

   Liebe ist im Mittelalter nicht anstößig. Der Mönch Helgaud überliefert in einer Biographie über König Robert den Frommen eine Szene aus dem Liebesalltag im Mittelalter. Als der Vater des Königs durch seine Burg geht und ein Paar sich auf dem Boden liebend sieht, zieht er seinen Mantel aus, wirft ihn über die Liebenden und geht weiter.

Liebe findet im Gegensatz zu griechischen und römischen Berichten unter dem Mantel der Verschwiegenheit statt. Finsteres Mittelalter? Angesichts ungezügelten Trieblebens - Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung - ist der Minnedienst, ein mittelalterliches Ideal kultivierten Trieblebens, eine kulturelle Notwendigkeit. Erst durch einen Zivilisationsschub war die Gesellschaft gefestigt und reich genug, um Liebe wieder zu zelebrieren. Die Minneliebe war ein Modell von Liebe, das vor der Schwierigkeit stand, Ansprüche von Gesellschaft, Individuum und Kirche in Einklang zu bringen. Sie proklamiert den Triebverzicht und lehrt, dass in der Überwindung der sexuellen Not eine Freude steht, die als höfischer Wert das ritterliche Lebensideal im Artusroman oder im Parzival bestimmt.

   Das zweite Modell richtet sich an den Ansprüchen der Kirche aus und umfasst die "Agape", worunter verkürzt christliche Nächstenliebe (caritas) zu verstehen ist. Gegenüber der Antike hat sich die Grundauffassung von Liebe verkehrt: Nicht mehr das erotisch geprägte Bedürfnis wird als Grund der Liebe gesehen. Nach der kanonisierten Lehrmeinung des Augustinus liebt der Mensch aus einer Überfülle heraus, die ihm Gott gibt. Im gottgemäßen Leben ist folglich die Liebesfähigkeit am größten. Mit einem Bild gesprochen, wird die Triebenergie, die in der Antike fließt, gestaut, gelenkt, kanalisiert.

Wie kann man sich die Liebe als Agape vorstellen? In der reinsten und kirchlich geachtetsten Form ist sie in der mittelalterlichen Mystik zu finden. Heinrich Seuse, Schüler des berühmten Meister Eckart, schildert in seiner Autobiographie die geistige Verzückung beim Erleben des Paradieses mit den körperlichen Symptomen eines Orgasmus. Das kann man heute schamlos nennen, ist aber nichts weiter als der Idealfall kirchlich propagierter Liebe: Lebenslang hat ein Mönch erfolgreich gegen fleischliches Begehren gekämpft und bekommt als Lohn die Verzückung des wiedergewonnenen Paradieses, spirituelle Erhebung, Visionen und exklusive Gotteserfahrung. Seuses Ideal ist Maria, die hohe Frau schlechthin, die auch deshalb die Schmerzensreiche genannt wird, weil sich an ihr der Schmerz der Selbstüberwindung bewährt.

   Das dritte Modell mittelalterlicher Liebe findet in Gottfried von Straßburgs Roman "Tristan" sein Ausdruck: Tristan und Isolde wollen ihrer höchsten Lust, die genussvolles Ausleben von körperlicher Lust einschließt, nicht entsagen. Der "Tristan" ist auch eine scharfe Kulturkritik, die das liebesfeindliche Regeldenken kritisiert. Liebe darf nicht mehr aus Selbstliebe, aus dem Vertrauen in eigene Gefühle entstehen, sie entsteht zufällig. Das Irreguläre im "Tristan" tritt in Gestalt des Zaubertrankes auf, an den die Liebenden vesehentlich geraten. Er zwingt sie zur Liebe, zur anarchischen Lust, die höfische Regeln sprengt. Aus dem Politiker Tristan, der Isolde mit seinem besten Freund verkuppeln will, wird ein liebender Outlaw. Die Geschichte endet tödlich … So sieht es also aus, wenn aus Versehen ein Staudamm bricht. Was ist so eigentümlich an der Tristanminne? Eine düstere Einheit von Liebe und Leid. Das Leid Tristans und Isoldes ist auch ein Leid durch Selbstverleugnung. Ganz Mittelalter, dienen sie höheren Zielen und misstrauen ihren Gefühlen.

Barock und Aufklärung: Liebe als Machtdemonstration und Liebe als Selbstsuche

   Wir überspringen die Renaissance als Zeit der Entdeckung der Liebe als Genussliebe nach menschlichen Maßstäben. Es ist ein revolutionärer Akt, wie ihn erstmalig Dante gewagt hat: Die Vermessung des mittelalterlichen Raumes Hölle, Fegefeuer und Himmel als Zustände des inneren Bewusstseins.

Die Liebenden im Barock verkleiden sich monströs, um dem Spiel, dessen Ziel Machterweiterung ist, zu frönen. Liebe ist ein Mittel zum Zweck. Liebe ist ein Triumph im Spiel um Macht, das blutigen Ernst einschließt. Liebe wird theoretisiert, analysiert und sogar mit Vernunft gleichgesetzt. Die galante Liebe hat die Sinnengenüsse verfeinert und verlängert. Es war wieder ein Zivilisationsschub (seit dem 15. Jahrhundert), einer, der diesen Typ der Machtliebe erst möglich machte, die wie ein zivilisatorischer Panzer erscheint. Am Beispiel der Malerei sehen wir am augenfälligsten, dass im Barock zum Ideal wird, was im Mittelalter verdammt, verflucht und zu überwinden gepredigt wurde. In der Frauenverherrlichung wird das Tier im Menschen ausgedrückt. Die Liebe zeigt einen verspielten Zug ins Tierische. Für die Zeitgenossen hieß das: Seht hin! Der Mensch, Ebenbild Gottes, wird in seiner Liebe, wenn auch nur als Maskenspiel, den Tieren gleichgestellt.

   Der höchste Triumph im Spiel der galanten Liebe ist die Mätresse. Es ist kein Zufall, dass Mätressen ohne Schmuck dargestellt werden. Sie sind Edelweiber und Diamanten als Frau auch ohne Diamanten. Selbstrepräsentation und Liebe als Teil des geregelten höfischen Lebens haben als Kehrseite das Bewusstsein von Selbstverlust und das Gefühl einer sinnentleerten Selbstinszenierung. Machtliebe und die Angst, ausgeliefert zu sein, sind ebenso Kehrseiten einer Medaille wie modischer Manierismus (galantes Leben) und das existentielle Bewusstsein von der Hinfälligkeit alles Irdischen. Vanitas ist der Ausdruck für das "Jahrhundert der Soldaten" (das 17. Jahrhundert). Liebe und Tod ist im Barock eine mythische Einheit. So weit ist es vom Mittelalter hier nicht entfernt.

Ein Gegenentwurf zur Machtliebe, dem offiziellen Liebesprogramm des Barock, sieht ungefähr so aus: Liebe erfährt nur der aus dem Alltag heraustretende, der eine Vogelperspektive einnimmt und seine eigene Existenz betrachtet. Die höchste Tugend ist, sich selbst zu lieben. Durch Selbstsuche seine eigene Wahrheit entdecken, in mythischer Selbstschau sich finden: Das klingt sehr modern und taucht immer wieder als Modell auf, wie Liebe möglich ist.

Romantische Liebe

   Bekanntlich sehnt man sicher immer nach dem, was man nicht hat. Den Zeitgenossen im Barock war der Verlust der Liebe als Glaube, der unschuldigen, naiven Liebe als naturbelassene Liebe nicht schmerzlich aufgefallen. Bekanntlich ist es Rousseau, der sich die Wiederentdeckung der verlorenen Unschuld auf die Fahnen geschrieben hatte. Die galante Liebe gilt ihm als gekünstelt und verlogen. Und die bürgerliche Ehe? Der Hausmann, unter direkter Kontrolle eines Abgesandten Gottes, verwaltet erfolgreich seine brave Hausfrau, die der keusche Engel Gottes ist. Äußerlich bringt man sich Achtung entgegen, aber wo bleibt das ehrliche Gefühl, die Herzenswahrheit.

Im sentimentalen Zeitalter (Stichwort "Die Leiden des jungen Werther" und Mary Shelleys "Frankenstein") fließen uns vor der Kulisse eines Gewitterregens Tränenströme entgegen, wir können mit den Heroen des Herzeleides in Tränenmeeren versinken, vor Gefühl, inniger Hingabe und Liebe stammelnd. Gefühle zu zeigen, wird zu einem Wert an sich. Und wer, von Gefühlen überwältigt, weint, reinigt sich. Durch Selbstbespiegelung wird der Mensch seiner selbst und seiner inneren Natur habhaft. Im Mittelalter hat er die Kontrolle über seinen triebgeladenen Körper und seine äußeren Empfindungen gelernt, im Barock die Selbstdistanz. Im Zusammenhang mit der bürgerlichen Moralerziehung lernt er die Beherrschung der inneren Empfindungen, des Selbstgefühls und des Bewusstseins.

Wie dehnbar der Begriff der romantischen Liebe ist, zeigt sich in der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz des sadomasochistischen Typus und in der revolutionären Forderung nach freier Liebe in Gegensatz zur bürgerlichen Konventionsehe. Damen aus gutbürgerlichem Haus verweigern ihr Schicksal, als Mutter und Heimchen zu enden.

Liebe in der Moderne

   Springen wir direkt ins 20. Jahrhundert, so bleiben die alten Probleme der Liebe bestehen: Trotz "freier Liebe" (von Otto Gross mit allen Attitüden eines Revoluzzers Anfang des 20. Jahrhunderts vorgelebt) trägt der Liebesrausch nicht mehr. Sex ist vielleicht unkomplizierter geworden, aber nicht die Liebe. Auf der Bühne des Geschlechterkampfes klammern die Gegner. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern der Reihenhäuser und Laura Brannigan singt Ende der 80er Jahre "Love is a battlefield."

"Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur die Lenker, die Fahrgäste und die Straße." Wenn wir Kafkas Bild aufgreifen, können wir mindestens feststellen, dass die Gefühle mit der Geschwindigkeit der Entwicklungen nicht mithalten können. Machen wir uns den wahnwitzigen Umbruch am Ende des 19. Jahrhunderts klar: Ein Moralkorsett, ob viktorianisch oder preußisch, hält und zwängt die Menschen. Was wird aus Prüderie, Sittenzwängen, bürgerlicher Normierung und Kanalisierung der Gefühle? Ekstase, Rausch, Exzess und orgiastisches Erleben prallen auf Panzercharaktere, verkrüppelte Militaristen und Preußenbegeisterte. Bis zur sogenannten sexuellen Revolution Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts  ist die Onanie ein Tabu, das geradezu gesprengt wurde. Um die Jahrhundertwende warnt Dr. med. J. F. Albrecht in seinem "Ratgeber für Eheleute und Erwachsene beiderlei Geschlechts" aufschlussreich vor der sogenannten Selbstbefleckung:

"Die furchtbaren Folgen der Onanie sind zunächst Erbleichen der Gesichtsfarbe, blaue Ringe um die Augen, Ermatten, Schwinden der Kräfte im allgemeinen, Schwäche in Schenkeln und Füßen und in den späteren Jahren mancherlei Lähmungen, bedeutende Ernährungsstörungen, Schwindsucht der verschiedenen Organe."

   Was bleibt zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Ein Ausverkauf der Liebe? Ist Liebe eine Ware, gesellschaftlich am Fließband der Geschichte hergestellt? So offen wie heute war die Liebe noch nie. Nur ist es noch schwieriger geworden, die richtige Wahl zu treffen. Denken und Handeln, Liebe und Lieben sind eigenständige Gebilde und Entscheidungsunfähigkeit ein neuralgischer Punkt der Gesellschaft. Das Handeln kann der Vielzahl der denkbaren Möglichkeiten nicht folgen. Im Lieben entsteht der Eindruck der Heimatlosigkeit und Einsamkeit. Ein kürzlich erschienenes Buch heißt "Elementarteilchen": Ein geht nicht um Atomphysik. Wer über das Denken das Handeln vergisst, dem geht es wie Ulrich in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften": Er überlässt die Einrichtung seines Hauses einem Innenarchitekten. Aber wenn wir uns für ein Modell der Liebe entscheiden oder für ein Surrogat, dann klingt das Klischee, man brauche für die Liebe nichts zu tun, nur noch absurd. Wer nicht handelt, stirbt vor Langeweile, während er auf den Märchenprinzen wartet, der entmystifiziert ist, bzw. den es nicht mehr gibt ("Der Junge auf dem weißen Pferd, der kommt nicht mehr... " (Westernhagen)).

Im Angebot sind immer noch fast alle Varianten der Liebe, die wir skizziert hatten. Jasagen, Megaspaß und Multibefriedigung ohne Bindung an überkommene Normen der Liebe sind in. Hören wir dazu Nietzsches Zarathustra: "- fliegen allein will mein ganzer Wille, in dich hinein fliegen!", "dass alles Schwere leicht, aller Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde."

Formen der Erlösung von Zwang sind Telefonsex (perfekte Anonymität und Einsamkeit), das Spiel von Nähe und Distanz beim Partnertausch und die an mittelalterliche Erlösungsmystik erinnernden Praktiken in Sadomasochismus und Fetischismus. Wer eine (verblasste) Variante des Tristanmodells mit Trennung von Seelen- und Körperliebe bevorzugt, kommt doppelt auf seine Kosten: Karriere und heiße Liebe durch Zufall (nehmen wir einen defekten Fahrstuhl oder den ritualisierten "Zufall" in einer Hochzeitsnacht) sind beide möglich. Den dantesken Typ findet man auf jedem Boygroup-Konzert: Dass Liebesandacht einen höheren Genuss darstellt, ist angesichts kreischender und ohnmächtiger Groupies schwer vorstellbar. Und doch sind die Idole um der Unerreichbarkeit willen da, die erregt und träumen lässt.

   Meine Prognose ist ein fortdauernder Glaube der Menschen an eine romantische Liebe, die als Deckmantel für die (immer noch) vorherrschende egoistische Liebe des 19. Jahrhunderts herhalten wird. Die Abkehr von der symbiotischen Liebe scheint endgültig. Bei jedem Liebesentwurf, der auf Selbständigkeit zielt, bleibt das Dilemma, dass sich Liebende nur selten gemeinsam in die gleiche Richtung entwickeln. Doch vielleicht gibt es eine Liebe jenseits der Liebe zu einem Menschen, die erstrebenswerter ist. Hören wir abschließend einen, der vielleicht nur einmal geliebt hat: "Über euch hinaus sollt ihr einst lieben! So lernt erst lieben! Und darum musstet ihr den bittern Kelch eurer Liebe trinken. Bitternis ist im Kelch auch der besten Liebe: so macht sie Sehnsucht zum Übermenschen, so macht sie Durst dir, dem Schaffenden!"

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