"Wenn ich mit
Menschen- und mit Engelszungen redete,
und hätte die Liebe nicht, so wäre ich tönend
Erz oder eine klingende Schelle." (Korinther 1, 13)
Auch wenn hier eher
himmlische Liebe gemeint ist, so soll ein Mensch dem Zitat gemäß alles, was
er tut, mit Liebe tun. Was haben Philosophen zu dem berühmt-berüchtigten
Wort zu sagen, hinter dem sich Berge von Theorien, unerfüllten Hoffnungen,
Wünsche und Ängste verbergen? Geben also Philosophen heute (k)eine Antwort
mehr auf die Frage, wie Liebe im post-romantischen Zeitalter möglich ist?
Liebe ist weitgehend
privatisiert und philosophisch wenig interessant. Das ist meine erste
Antwort. Doch egal wie die Antwort ausfällt, ein Gefühl bleibt:
"Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen
wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar
nicht berührt sind."
(Wittgenstein)
Es gibt nur wenige
Probleme von ähnlicher existentieller Tragweite wie die, die mit Liebe
zusammenhängen. Werfen wir also ein paar Blicke auf die Möglichkeiten und
Unmöglichkeiten, auf die Träume und Albträume zwischen Liebe, Leidenschaft,
Elternschaft, Selbstliebe, Selbstaufgabe, Sex und Askese. Im ersten
Abschnitt geht es um die etablierteste Einrichtung für Liebende (und
andere), nämlich um die Ehe. In den folgenden Abschnitten eilen wir mit
Riesenschritten durch die Geschichte der Liebe (vgl. dazu
auch:
Wolfgang
Rath, Liebe. Die Geschichte eines Dilemmas, Goldmann: München,1998).
Die Ehe: Eine bürgerliche Institution
Hobbyzyniker können fragen,
was Ehe mit Liebe zu tun habe. Woody Allen meint, dass in der Ehe zwei
Menschen an Problemen scheitern, die sie allein nicht hätten. Von
Shakespeare bis Nietzsche gibt es eine Tradition, die Ehe zu demaskieren
oder lächerlich zu machen. Sie ist die institutionalisierte und
domestizierte Form der romantischen Liebe. Diese gibt es seit ungefähr 250
Jahren. Dahinter steht ein altes Ideal, so alt wie die christlich-antike
Kultur, das die Verschmelzung von Seele und Trieblust propagiert und im 19.
Jahrhundert zur fast allgemeingültigen Wahrheit
wird.
In der wahren, d. h.
romantischen Liebe verbinden sich Begierde und Zuneigung. Im 18. Jahrhundert
war die Idee einer Liebesehe zwar nicht neu, aber die Forderung, dass die
Liebesehe als standardisierte Form der empfindsam romantischen Liebe die
Verbindung von irdischer und himmlischer Liebe garantiert. Novalis schreibt
ironisch:
"Eine Ehe sollte eigentlich eine langsame,
kontinuierliche Umarmung, Generation, wahre Nutrition, Bildung eines
gemeinsamen harmonischen Wesens sein." Mann und Frau verschmelzen
symbiotisch. Wie soll das zu zweit gehen, wenn schon der Einzelne
zerrissen ist, d. h. wenn er seine Trieblust als unvereinbar mit Zuneigung
und Zärtlichkeit empfindet?
"Die
physische Liebe ist ein Bedürfnis, das dem Hunger gleicht", schreibt Balzac
in der "Physiologie der Ehe" (1829). Diese Liebe ist
wie ein jagender Löwe, der im Falle Don Giovannis allein in Spanien 1003 Mal
erfolgreich war,
wie uns Don
Giovannis Potenzbuchhalter Leporello zu berichten weiß.
Die Zärtlichkeit ist nach Balzac zerbrechlich, eine
"femme fragile". Wie lässt
sich beides vereinen? Anfang des 20. Jahrhunderts gibt uns Gottfried Benn
eine Lösung, die wirklich unbefriedigend ist: "Impotenz
in der Ehe ist ein Ovation für die Ehefrau als Mensch." Ähnlich ernüchtert
stellt Harald Schmidt eine Ersatzbefriedigung vor: "Haben
Sie noch Sex oder spielen Sie schon Golf?" Für viele Frauen stellt sich die
Frage allerdings gar nicht, denn Männer denken sowieso nur an das Eine und
damit ist nicht wahre Zuneigung oder empfindsame Liebe gemeint, sondern
direkte Folgen eines phallozentrischen Weltbildes.
Das Scheitern einer
Liebesehe schildert Flaubert mustergültig in "Madame
Bovary". Die Gründe sind Hingabe nicht an einander, sondern an Äußeres als
Folge bürgerlichen Pragmatismus, die Verselbständigungen der Ehegatten und
ihrer Welten sowie die Flucht in Traumwelten, zu der sich Emma ihre
passenden Objekte sucht, die sie nach ihrem Willen formt. Ihren Geliebten
liebt sie ebensowenig wie dieser sie. Fast in einem Vergewaltigungsakt
bemächtigt er sich ihrer. Er macht sie zu einem Objekt in der irdischen
Liebe. Sie gebraucht ihn dafür in der himmlischen Liebe als ihr Werkzeug.
Der Egoismus floriert. Der Gegenpol zum Egoismus (im Biedermeier wird dem
egoistischen Liebestod gehuldigt) ist die Selbstaufgabe. Zwischen diesen
Polen pendelten Liebende von Augustinus bis Simone de Beauvoir nicht nur in
Ehen.
Liebe im Mythos
Am Anfang ist die Urgöttin der Liebe. Nackt erscheint sie
im Chaos. Sie scheidet Himmel und Meer, um Halt zu finden und tanzt nach
Süden, um sich zu erwärmen. So idyllisch geht es nicht weiter im
pelasgischen Schöpfungsmythus. Selbstherrlichkeit und Machtgier zerstören
die Liebe nicht erst seit den Zeiten Flauberts. In dem genannten Mythus
verkörpert Euronyme, die Mutter aller Dinge, die Selbstliebe. Ihre Gefahr
verkörpert Ophion: Selbstverliebtheit als der Wille zur Macht. Die
Selbstliebe Euronymes ist Voraussetzung dafür, einen anderen zu lieben. Nur
wer sich selbst, aber eben nicht nur sich selbst liebt, wird auch geliebt.
Ein Element der romantischen Liebe finden wir schon im
griechischen Schöpfungsmythos: Liebe als Moment zeitlosen Empfindens. Nach
der Gewalt- und Schreckensherrschaft der Titanen im Zeichen der Melancholie
(eine römische Zuschreibung) schlägt Niedergeschlagenheit in
Lebensleichtigkeit um: Zeus, der jüngste Sohn und Chef der Götter ist
allzeit bereit und lüstern. Ist Kronos nekrophil (Erich Fromm), gefangen in
einer Zeit ohne Erneuerung, so ist Zeus die Gestalt einer biophilen
Männerherrschaft. Er kam im Zeichen des Blitzes zu Frauen und schaffte
Evidenz. Ein Vergewaltiger wurde zu einem gesellschaftlichen Vorbild! In
Zeus war ebenfalls die Gewalt selbstverliebter Liebe verkörpert.
Seine Gegenspielerin ist Aphrodite, die die
wunschgetriebene Hingabe und die Selbstliebe verkörpert. Sie kann durch ihre
Selbstliebe das Lieben weitergeben. Lieben ist Geliebtwerden um der
Selbsterfüllung wegen. Sokrates wird später klarstellen, dass Liebe immer
"Liebe zu jemandem oder zu etwas" ist, der Sehnsucht
zu etwas entsprungen, das man selbst nicht hat. Hat man das Gewünschte
gefunden, so lässt die Sehnsucht nach und man kann
sich erneut auf die Suche machen. Aphrodite ist natürlich eine treulose
Gattin und zeugt neben vielen Kindern mit verschiedenen Liebhabern
Hermaphroditos mit dem Götterboten Hermes. Er bedient im Gegensatz zu
Aphrodites Gatten ihre Eigenliebe. Aphrodite gibt sich nicht nur dem
Wahrheitsboten hin, sondern auch dem Gott der Kaufleute, Reisenden, Diebe
und Lügner. Die Geschichte von Aphrodite und Hermes zeigt, wozu Liebe fähig
ist, wenn der eine dem anderen schmeichelt, die Selbstliebe kitzelt und kein
Anspruch auf Dauer, Ehe und Wahrheit vorliegt.
Hermaphroditos ist Mann und Frau in einem und höchstes Ideal der Antike.
Liebe historisch
Antike: Selbstliebe
und Eros
Hermaphroditos zeigt, was sein könnte: das Verschmelzen
aller Sehn-süchte zur stillen Zufriedenheit beider
Hälften. Er ist ein vergangenes und missverstandenes
Bild von der Einheit in der Liebe. Das Androgyne war in der Antike nicht
geschlechtslos, sondern die Summe aller Geschlechtsmerkmale. Einheit heißt
heute das, was alle Unterschiede in sich aufhebt und meint nicht die
Zusammenstellung aller Unterschiede.
Ein weiterer Sohn
Aphrodites ist Eros, der für den Teil der Liebe steht, den man durch
Triebbeherrschung erlangt. Bekanntlich diente dazu die Knabenliebe als
Garant für die Fortdauer einer Herrschaft elitärer Männerzirkel und als
triebökonomische Einrichtung. Erotik in der Antike heißt formelhaft,
Sinnenfreude, die genussvoll erlebt wird, der aber zu
verfallen verpönt ist. Ihr Sklave zu werden, ist ein Tabu.
Platon lässt
eine Fachfrau, Diotima, sprechen, wenn es darum geht, zu sagen, was Liebende
umtreibt: Begehrende begehren das noch nicht Vorhandene, das nicht Fertige,
das sie nicht haben und sind, dessen sie aber bedürfen. Voraussetzung für
die Fähigkeit zur Liebe ist die Selbstliebe.
Mittelalter
Liebe ist im Mittelalter nicht anstößig. Der Mönch Helgaud
überliefert in einer Biographie über König Robert den Frommen eine Szene aus
dem Liebesalltag im Mittelalter. Als der Vater des Königs durch seine Burg
geht und ein Paar sich auf dem Boden liebend sieht, zieht er seinen Mantel
aus, wirft ihn über die Liebenden und geht weiter.
Liebe findet im Gegensatz
zu griechischen und römischen Berichten unter dem Mantel der
Verschwiegenheit statt. Finsteres Mittelalter? Angesichts ungezügelten
Trieblebens - Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung - ist der
Minnedienst, ein mittelalterliches Ideal kultivierten Trieblebens, eine
kulturelle Notwendigkeit. Erst durch einen Zivilisationsschub war die
Gesellschaft gefestigt und reich genug, um Liebe wieder zu zelebrieren. Die
Minneliebe war ein Modell von Liebe, das vor der Schwierigkeit stand,
Ansprüche von Gesellschaft, Individuum und Kirche in Einklang zu bringen.
Sie proklamiert den Triebverzicht und lehrt, dass in der Überwindung der
sexuellen Not eine Freude steht, die als höfischer Wert das ritterliche
Lebensideal im Artusroman oder im Parzival bestimmt.
Das zweite Modell richtet sich an den Ansprüchen der
Kirche aus und umfasst die "Agape",
worunter verkürzt christliche Nächstenliebe (caritas) zu verstehen ist.
Gegenüber der Antike hat sich die Grundauffassung von Liebe verkehrt: Nicht
mehr das erotisch geprägte Bedürfnis wird als Grund der Liebe gesehen. Nach
der kanonisierten Lehrmeinung des Augustinus liebt der Mensch aus einer
Überfülle heraus, die ihm Gott gibt. Im gottgemäßen Leben ist folglich die
Liebesfähigkeit am größten. Mit einem Bild gesprochen, wird die
Triebenergie, die in der Antike fließt, gestaut, gelenkt, kanalisiert.
Wie kann man sich die
Liebe als Agape vorstellen? In der reinsten und kirchlich geachtetsten Form
ist sie in der mittelalterlichen Mystik zu finden. Heinrich Seuse, Schüler
des berühmten Meister Eckart, schildert in seiner Autobiographie die
geistige Verzückung beim Erleben des Paradieses mit den körperlichen
Symptomen eines Orgasmus. Das kann man heute schamlos nennen, ist aber
nichts weiter als der Idealfall kirchlich propagierter Liebe: Lebenslang hat
ein Mönch erfolgreich gegen fleischliches Begehren gekämpft und bekommt als
Lohn die Verzückung des wiedergewonnenen Paradieses, spirituelle Erhebung,
Visionen und exklusive Gotteserfahrung. Seuses Ideal ist Maria, die hohe
Frau schlechthin, die auch deshalb die Schmerzensreiche genannt wird, weil
sich an ihr der Schmerz der Selbstüberwindung bewährt.
Das dritte Modell mittelalterlicher Liebe findet in
Gottfried von Straßburgs Roman "Tristan" sein
Ausdruck: Tristan und Isolde wollen ihrer höchsten Lust, die genussvolles
Ausleben von körperlicher Lust einschließt, nicht entsagen. Der
"Tristan" ist auch eine scharfe Kulturkritik, die das
liebesfeindliche Regeldenken kritisiert. Liebe darf nicht mehr aus
Selbstliebe, aus dem Vertrauen in eigene Gefühle entstehen, sie entsteht
zufällig. Das Irreguläre im "Tristan" tritt in
Gestalt des Zaubertrankes auf, an den die Liebenden vesehentlich geraten. Er
zwingt sie zur Liebe, zur anarchischen Lust, die höfische Regeln sprengt.
Aus dem Politiker Tristan, der Isolde mit seinem besten Freund verkuppeln
will, wird ein liebender Outlaw. Die Geschichte endet tödlich … So sieht es
also aus, wenn aus Versehen ein Staudamm bricht. Was ist so eigentümlich an
der Tristanminne? Eine düstere Einheit von Liebe und Leid. Das Leid Tristans
und Isoldes ist auch ein Leid durch Selbstverleugnung. Ganz Mittelalter,
dienen sie höheren Zielen und misstrauen ihren
Gefühlen.
Barock und Aufklärung: Liebe als Machtdemonstration und Liebe als
Selbstsuche
Wir überspringen die Renaissance als Zeit der Entdeckung der
Liebe als Genussliebe nach menschlichen Maßstäben. Es ist
ein revolutionärer Akt, wie ihn erstmalig Dante gewagt hat: Die Vermessung des
mittelalterlichen Raumes Hölle, Fegefeuer und Himmel als
Zustände des inneren Bewusstseins.
Die Liebenden im Barock
verkleiden sich monströs, um dem Spiel, dessen Ziel Machterweiterung ist, zu
frönen. Liebe ist ein Mittel zum Zweck. Liebe ist ein Triumph im Spiel um Macht,
das blutigen Ernst einschließt. Liebe wird theoretisiert, analysiert und sogar
mit Vernunft gleichgesetzt. Die galante Liebe hat die Sinnengenüsse verfeinert
und verlängert. Es war wieder ein Zivilisationsschub (seit dem 15. Jahrhundert),
einer, der diesen Typ der Machtliebe erst möglich machte,
die wie ein zivilisatorischer Panzer erscheint. Am Beispiel der Malerei sehen
wir am augenfälligsten, dass im Barock zum Ideal wird, was im Mittelalter
verdammt, verflucht und zu überwinden gepredigt wurde. In der
Frauenverherrlichung wird das Tier im Menschen ausgedrückt. Die Liebe zeigt
einen verspielten Zug ins Tierische. Für die Zeitgenossen hieß das: Seht hin!
Der Mensch, Ebenbild Gottes, wird in seiner Liebe, wenn auch nur als
Maskenspiel, den Tieren gleichgestellt.
Der höchste Triumph im Spiel der galanten Liebe ist die
Mätresse. Es ist kein Zufall, dass Mätressen ohne Schmuck dargestellt werden.
Sie sind Edelweiber und Diamanten als Frau auch ohne Diamanten.
Selbstrepräsentation und Liebe als Teil des geregelten höfischen Lebens haben
als Kehrseite das Bewusstsein von Selbstverlust und das
Gefühl einer sinnentleerten Selbstinszenierung. Machtliebe und die Angst,
ausgeliefert zu sein, sind ebenso Kehrseiten einer Medaille wie modischer
Manierismus (galantes Leben) und das existentielle Bewusstsein
von der Hinfälligkeit alles Irdischen. Vanitas ist der Ausdruck für das
"Jahrhundert der Soldaten" (das 17. Jahrhundert). Liebe
und Tod ist im Barock eine mythische Einheit. So weit ist es vom Mittelalter
hier nicht entfernt.
Ein Gegenentwurf zur
Machtliebe, dem offiziellen Liebesprogramm des Barock, sieht ungefähr so aus:
Liebe erfährt nur der aus dem Alltag heraustretende, der eine Vogelperspektive
einnimmt und seine eigene Existenz betrachtet. Die höchste Tugend ist, sich
selbst zu lieben. Durch Selbstsuche seine eigene Wahrheit entdecken, in
mythischer Selbstschau sich finden: Das klingt sehr modern und taucht immer
wieder als Modell auf, wie Liebe möglich ist.
Romantische Liebe
Bekanntlich sehnt man sicher immer nach dem, was man nicht
hat. Den Zeitgenossen im Barock war der Verlust der Liebe als Glaube, der
unschuldigen, naiven Liebe als naturbelassene Liebe nicht schmerzlich
aufgefallen. Bekanntlich ist es Rousseau, der sich die Wiederentdeckung der
verlorenen Unschuld auf die Fahnen geschrieben hatte. Die galante Liebe gilt ihm
als gekünstelt und verlogen. Und die bürgerliche Ehe? Der Hausmann, unter
direkter Kontrolle eines Abgesandten Gottes, verwaltet erfolgreich seine brave
Hausfrau, die der keusche Engel Gottes ist. Äußerlich bringt man sich Achtung
entgegen, aber wo bleibt das ehrliche Gefühl, die Herzenswahrheit.
Im sentimentalen Zeitalter
(Stichwort
"Die Leiden des jungen Werther" und Mary Shelleys
"Frankenstein") fließen uns vor der Kulisse eines
Gewitterregens Tränenströme entgegen, wir können mit den Heroen des Herzeleides
in Tränenmeeren versinken, vor Gefühl, inniger Hingabe und Liebe stammelnd.
Gefühle zu zeigen, wird zu einem Wert an sich. Und wer, von Gefühlen
überwältigt, weint, reinigt sich. Durch Selbstbespiegelung wird der Mensch
seiner selbst und seiner inneren Natur habhaft. Im Mittelalter hat er die
Kontrolle über seinen triebgeladenen Körper und seine äußeren Empfindungen
gelernt, im Barock die Selbstdistanz. Im Zusammenhang mit der bürgerlichen
Moralerziehung lernt er die Beherrschung der inneren Empfindungen, des
Selbstgefühls und des Bewusstseins.
Wie dehnbar der Begriff der
romantischen Liebe ist, zeigt sich in der zunehmenden gesellschaftlichen
Akzeptanz des sadomasochistischen Typus und in der revolutionären Forderung nach
freier Liebe in Gegensatz zur bürgerlichen Konventionsehe. Damen aus
gutbürgerlichem Haus verweigern ihr Schicksal, als Mutter
und Heimchen zu enden. Liebe in der Moderne
Springen wir direkt ins 20. Jahrhundert, so bleiben die alten
Probleme der Liebe bestehen: Trotz "freier Liebe" (von
Otto Gross mit allen Attitüden eines Revoluzzers Anfang des 20. Jahrhunderts
vorgelebt) trägt der Liebesrausch nicht mehr. Sex ist vielleicht unkomplizierter
geworden, aber nicht die Liebe. Auf der Bühne des Geschlechterkampfes klammern
die Gegner. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern der Reihenhäuser und Laura
Brannigan singt Ende der 80er Jahre "Love is a
battlefield."
"Die
Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur die
Lenker, die Fahrgäste und die Straße." Wenn wir Kafkas Bild aufgreifen, können
wir mindestens feststellen, dass die Gefühle mit der Geschwindigkeit der
Entwicklungen nicht mithalten können. Machen wir uns den wahnwitzigen Umbruch am
Ende des 19. Jahrhunderts klar: Ein Moralkorsett, ob viktorianisch oder
preußisch, hält und zwängt die Menschen. Was wird aus Prüderie, Sittenzwängen,
bürgerlicher Normierung und Kanalisierung der Gefühle? Ekstase, Rausch, Exzess
und orgiastisches Erleben prallen auf Panzercharaktere, verkrüppelte
Militaristen und Preußenbegeisterte. Bis zur sogenannten sexuellen Revolution
Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts ist die
Onanie ein Tabu, das geradezu gesprengt wurde. Um die Jahrhundertwende warnt Dr.
med. J. F. Albrecht in seinem "Ratgeber für Eheleute und
Erwachsene beiderlei Geschlechts" aufschlussreich vor der
sogenannten Selbstbefleckung:
"Die furchtbaren Folgen der Onanie sind
zunächst Erbleichen der Gesichtsfarbe, blaue Ringe um die Augen,
Ermatten, Schwinden der Kräfte im allgemeinen, Schwäche in Schenkeln und
Füßen und in den späteren Jahren mancherlei Lähmungen, bedeutende
Ernährungsstörungen, Schwindsucht der verschiedenen Organe."
Was bleibt zu Beginn des 21.
Jahrhunderts? Ein Ausverkauf der Liebe? Ist Liebe eine Ware, gesellschaftlich am
Fließband der Geschichte hergestellt? So offen wie heute war die Liebe noch nie.
Nur ist es noch schwieriger geworden, die richtige Wahl zu treffen. Denken und
Handeln, Liebe und Lieben sind eigenständige Gebilde und
Entscheidungsunfähigkeit ein neuralgischer Punkt der Gesellschaft. Das Handeln
kann der Vielzahl der denkbaren Möglichkeiten nicht folgen. Im Lieben entsteht
der Eindruck der Heimatlosigkeit und Einsamkeit. Ein kürzlich erschienenes Buch
heißt
"Elementarteilchen": Ein geht nicht um Atomphysik. Wer
über das Denken das Handeln vergisst, dem geht es wie
Ulrich in Robert Musils Roman "Der Mann ohne
Eigenschaften": Er überlässt die Einrichtung seines
Hauses einem Innenarchitekten. Aber wenn wir uns für ein Modell der Liebe
entscheiden oder für ein Surrogat, dann klingt das Klischee, man brauche für die
Liebe nichts zu tun, nur noch absurd. Wer nicht handelt, stirbt vor Langeweile,
während er auf den Märchenprinzen wartet, der entmystifiziert ist, bzw. den es
nicht mehr gibt ("Der Junge auf dem weißen Pferd, der
kommt nicht mehr... " (Westernhagen)).
Im Angebot sind immer noch fast alle
Varianten der Liebe, die wir skizziert hatten. Jasagen, Megaspaß und
Multibefriedigung ohne Bindung an überkommene Normen der Liebe sind in.
Hören wir dazu Nietzsches Zarathustra: "- fliegen
allein will mein ganzer Wille, in dich hinein fliegen!", "dass
alles Schwere leicht, aller Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde."
Formen der Erlösung von Zwang
sind Telefonsex (perfekte Anonymität und Einsamkeit), das Spiel von Nähe und
Distanz beim Partnertausch und die an mittelalterliche Erlösungsmystik
erinnernden Praktiken in Sadomasochismus und Fetischismus. Wer eine (verblasste)
Variante des Tristanmodells mit Trennung von Seelen- und Körperliebe bevorzugt,
kommt doppelt auf seine Kosten: Karriere und heiße Liebe durch Zufall (nehmen
wir einen defekten Fahrstuhl oder den ritualisierten "Zufall"
in einer Hochzeitsnacht) sind beide möglich. Den dantesken Typ findet man auf
jedem Boygroup-Konzert: Dass Liebesandacht einen höheren Genuss
darstellt, ist angesichts kreischender und ohnmächtiger Groupies schwer
vorstellbar. Und doch sind die Idole um der Unerreichbarkeit willen da, die
erregt und träumen lässt.
Meine Prognose ist ein fortdauernder Glaube der Menschen an
eine romantische Liebe, die als Deckmantel für die (immer noch) vorherrschende
egoistische Liebe des 19. Jahrhunderts herhalten wird. Die Abkehr von der
symbiotischen Liebe scheint endgültig. Bei jedem Liebesentwurf, der auf
Selbständigkeit zielt, bleibt das Dilemma, dass sich Liebende nur selten
gemeinsam in die gleiche Richtung entwickeln. Doch vielleicht gibt es eine Liebe
jenseits der Liebe zu einem Menschen, die erstrebenswerter ist. Hören wir
abschließend einen, der vielleicht nur einmal geliebt hat: "Über
euch hinaus sollt ihr einst lieben! So lernt erst lieben! Und darum musstet
ihr den bittern Kelch eurer Liebe trinken. Bitternis ist im Kelch auch der
besten Liebe: so macht sie Sehnsucht zum Übermenschen, so macht sie Durst dir,
dem Schaffenden!" |