Wer Konrad Paul Liessmann
beim Reden zuhört, bekommt eine Ahnung davon, dass dem Lehrstuhl die Kanzel,
der Vorlesung die Predigt vorangegangen ist. Das soll nicht missverstanden
werden. Liessmann entspricht weder dem Typ des ideologischen Einpeitschers,
wie man ihn von US-amerikanischen TV-Predigern kennt, noch gehört er zu
jenen pädagogischen Verfahrenstechnikern, die ihren Hörern mit
Laserpointern, Flipchartboards und Videobeamern etwas zeigen wollen, was sie
selbst mit Worten nicht mehr auszudrücken imstande sind.
Nein, Liessmann ist ein
Rhetoriker; wo er vorträgt, versickert kein Gedanke unter dem Tisch. Als der
Wiener Philosophieprofessor vor Kurzem im Salzburger Literaturhaus aus
seinem Essay "Theorie der Unbildung" vorlas, hätte jeder in dem übervollen
Saal eine Stecknadel fallen hören. Nicht antrainierter, juveniler Charme und
eine heiter-ironische Boshaftigkeit begleiteten die Lesung, die der
54-Jährige umgehend zu einer kurzweiligen Unterrichtsstunde umfunktionierte.
Liessmann liebt es, sich aus dem Gelesenen zeitweilig auszuklinken, sucht
Kontakt zu den Hörern, erzählt, flicht Zitate und Anekdoten ein und hat
überhaupt das größte Talent, sich an den unmöglichsten Stellen selbst ins
Wort zu fallen. Was ihn als Vortragenden außerdem auszeichnet, ist eine
Fähigkeit, die nur wenige, insbesondere kaum Berufsphilosophen aufweisen: Es
ist – in den Worten des Physikers und Pädagogen Martin Wagenschein – die
"Lust am Klarmachen", die in seinen Texten ebenso hervorsticht wie in seinem
Vortragsstil, ein Vergnügen am und mit dem Publikum, das mehr ist als
billige Anbiederei.
Liessmann
geht es offensichtlich nicht um die großen Welterklärungen, die umfassenden
Logiken und gültigen Wahrheiten, um ein System. Was den in Villach geborenen
Hardcore-Radfahrer (8.000 km im Jahr) umtreibt, ist ein wiederkehrendes
Bedürfnis und eine zweite Lust: die des Erkennens. Die alltäglichen Zweifel
und Nöte, das, was (nicht nur) den Österreicher im Innersten zusammenhält,
sind sein Geschäft. Liessmann ist ein Aufdecker-Philosoph, der nach
günstigen Gelegenheiten sucht, um seinen Geist an den herrschenden
Verhältnissen zu erproben. Viele Mittel sind ihm dabei recht:
Zeitungskommentare in Standard, Presse und profil, die
Ö1 Hörfunkreihe "Denken und Leben", das "Philosophicum Lech", als dessen
wissenschaftlicher Leiter er seit 1997 fungiert. Darüber hinaus eine
erkleckliche Zahl an populär- und fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen
zur Frage des Kitsches und zu "Ästhetischen Empfindungen". Nicht zu
vergessen seine Erläuterungen über "Die großen Philosophen und ihre
Probleme": Nietzsche, Kierkegaard, Karl Marx und Günther Anders.
Zur Hochform läuft der
Autor immer dann auf, wenn es um die zur Routine und zum Zwang
herabgesunkenen Gemeinheiten der Gesellschaft und des Einzelnen geht. Die
Fähigkeit, sich den eigenen Anspruch "zeitgemäß, ohne zeitgeistig zu sein,
unzeitgemäß, ohne in einem regressiven Sinn vergangenheitsverliebt zu sein"
zu bewahren, macht ihn zu jenem Unabhängigen, den es braucht, um die
populären Irrtümer der Zeit als solche zu entlarven.
Dass
Liessmann als Berufsphilosoph den Mut hat, trotz des kollektiven
Kopfschüttelns seiner Fachkollegen nicht nur populär zu sein, sondern sich
auch in (bildungs-)politischen Fragen des eigenen Verstandes zu bedienen,
ist, zumal in Österreich, eine Sensation. Offensichtlich will da einer mehr
als forschen und lehren, er will wirken. "Angefangen von den Ministern
sollten alle in der politischen Nomenklatur dieses Buch Zeile für Zeile
lesen", wird Gerfried Sperl vom Standard denn auch im Klappentext zur
"Theorie der Unbildung" zitiert.
Tatsächlich sind die
Schlüsse, die der gewiefte Polemiker Liessmann auf den 175 Seiten seines
Essays zieht, nicht nur hoch an der Zeit, sie sind von eminenter
gesellschaftlicher Relevanz. Seine zentrale These lautet, dass das moderne
Schlagwort von der "Wissensgesellschaft", in der wir angeblich leben, nichts
weiter sei als die Fortschreibung und Vollendung der Industriegesellschaft
mit anderen Mitteln. Wofür die Öfen der Stahlindustrie und die Schlote der
petrochemischen Industrie stünden, sei eine Logik der "tendenziell
mechanisierten und automatisierten Herstellung von identischen Produkten
unter identischen Bedingungen mit identischen Mitteln".
Diese
Logik, die sich schon früher mit der Taylorisierung der Arbeitswelt gezeigt
habe, sei als "Nachziehverfahren eines allgemeinen Prozesses" zu verstehen,
der nun zu den letzten gesellschaftlichen Refugien vorgedrungen sei: dem
menschlichen Geist und den Stätten seiner (Aus-)Bildung, den Schulen und
Universitäten. In Wahrheit nämlich "ist es nicht der Arbeiter, der zum
Wissenden, sondern der Wissende, der zum Arbeiter wird".
Wo aber, wie bei Taylor,
Standardisierung und Angleichung zum obersten Prinzip erhoben werden, komme
das Individuum weitgehend unter die Räder. So seien Kollektivdenken und
Vereinheitlichungswahn zu den bestimmenden Faktoren des universitären
Alltags geworden. Liessmann findet dafür geharnischte Worte, spricht von
"Wissensfabriken" und "akademischen Produktionsbrigaden", macht sich über
das ECTS-Punktesystem zur Bewertung der Studienleistung lustig, das "bis in
das Berechnungssystem diversen Industrienormen entspricht", weidet sich an
Begriffen wie "Autonomie" und "Flexibilität", die der allgemeinen Täuschung
dienten, weil sie bloß den Industrialisierungsprozess verschleiern helfen
würden und kommt schließlich zu einem bemerkenswerten Schluss: Das
naturwissenschaftliche Verfahren, dass sich eindrucksvoll in Galileis
berühmtem Satz "Alles, was messbar ist, messen, was nicht messbar ist,
messbar machen" widerspiegle, sei erstaunlich nahe an der Logik der
industriellen Produktion.
Ebenso
wie das naturwissenschaftliche Experiment auf die "Herstellung identischer
Ergebnisse mit identischen Methoden unter identischen Bedingungen" abziele,
seien inzwischen sowohl der politische Wille als auch der universitäre Geist
ganz und gar von einer Logik durchdrungen, in der die Standardisierung und
generelle Reproduzierbarkeit des Wissenserwerbs (fassbar auch in
Schlagworten wie "Pisa-Test", "Bologna-Prozess" usw.) Vorrang habe vor einer
traditionellen Bildungsidee, die sich dem neuhumanistischen Ideal der
"Selbstformung des Menschen" verpflichtet weiß: Entscheidend sei, "daß
Menschen ein zweckfreies, zusammenhängendes, inhaltlich an den Traditionen
der großen Kulturen ausgerichtetes Wissen aufweisen könnten, das sie nicht
nur befähigt, einen Charakter zu bilden, sondern ihnen auch einen Moment der
Freiheit gegenüber den Diktaten des Zeitgeistes gewährt."
In der aktuellen
Bildungspolitik ortet Liessmann einen "Haß" auf diese traditionelle
Bildungsidee, weil sich im Rahmen dieser Vorstellung das Wissen nicht in die
herrschenden ökonomischen Verwertungsstrukturen hineinpressen lasse. Genau
das sei aber das letzte Ziel aller Politik: Wissen – und auch die Menschen,
die dieses Wissen haben – so lange zu taylorisieren, bis es – und sie – zu
einem handelbaren Gut geworden sind, zu einer "Ressource, die man im Rahmen
eines Unternehmens optimieren, verteilen, bündeln, importieren, exportieren
und teilen kann wie andere Rohstoffe und Verfahren auch".
Dass
sich auch Liessmann selbst nicht ganz dem Ungeist jenes oberflächlichen
Wissens-Marktes, den er in seinem Buch verdammt, entziehen kann, zeigte sich
bei seiner Salzburger Lesung, wo der Autor die oben stehenden Analysen nur
in einem Nebensatz abhandelte: Die Kernthese seines Buches sei die
"Verwandlung der freien Wissenschaft in ein unfreies
Dienstleistungsgewerbe", erwähnte er beiläufig – die These selbst blieb aber
außen vor. Stattdessen dominierte Gefälliges: Gewürzt mit einer Prise Ironie
erfuhren die Hörer, was Bildung/Wissen alles
nicht sei. So umwehe den typischen Gast in Armin Assingers
Millionenshow ein "Hauch von Bildung", ein Autor wie Ernst Peter Fischer
bringe schon die "Die andere Bildung" ins Spiel. Derjenige, der wisse, dass
ein (hoffentlich) so bekannter Satz wie homo homini lupus in Wahrheit
gar nicht von Thomas Hobbes, sondern von Plautus stamme, sei immerhin
bereits ein "Gelehrter". Doch selbst einer, der nun wirklich und wahrhaftig
zu den "Gebildeten" gerechnet werden dürfe wie Immanuel Kant, hätte an einer
heutigen Universität nichts verloren, denn seine "demonstrative Immobilität
und Unbeweglichkeit", verbunden mit einer zehnjährigen Phase, in der kein
einziger Artikel von ihm erschienen war, hätte ihn für eine moderne
akademische Karriere vollständig disqualifiziert. Wären die Verhältnisse an
der Königsberger Universität ähnlich denen heutiger Hochschulen gewesen –
eine "Kritik der Urteilskraft" wäre nie entstanden.
Was aber Bildung
eigentlich ist, welche Verhältnisse an den Hochschulen tatsächlich herrschen
und wie sich diese ausbildeten, das erschloss sich bei der Lesung nicht, man
musste es schon Liessmanns Essay entnehmen. Dieser wiederum enthält –
unbenommen seiner besonnenen Klarheit und geistigen Durchdringungskraft –
allerdings einen Makel, obgleich ihn Liessmann nicht als solchen empfinden
dürfte: Außer einem süffisanten Hinweis auf das unsägliche "Top Ten"-Ranking
der weltweit besten Universitäten oder einem nicht minder belustigten
Seitenhieb auf den grassierenden Reformierungswahn ("Hartz I, II, III, IV,
…") finden sich auf den 175 Seiten des Buches gerade einmal an drei Stellen
Zahlen (von Jahreszahlen einmal abgesehen). Statistisches Datenmaterial ist
schlichtweg nicht vorhanden. Obwohl Liessmann zwei gute Argumente gegen den
Aufweis exakter Daten haben dürfte – einmal seinen tiefsitzenden Groll gegen
die "reine, nackte und simple Quantifizierbarkeit", zum anderen den Umstand,
dass in einem Essay das Argument immer vor der Zahl kommen sollte –, hätte
dem Buch an manchen Stellen eine solide statistische Untermauerung sicher
nicht geschadet.
Insgesamt
zählt Liessmanns Essay zu den großen Würfen in der österreichischen
Wissenschaftspublizistik der letzten Jahre. Es bleibt zu hoffen, dass ein
beim "Philosophicum Lech" 2006 von Liessmann selbst formulierter Satz nicht
auf sein eigenes Buch zutrifft: "Nur allzu oft wurden und werden brillante
Analysen, hellsichtige Warnungen und triftige Prognosen von den Zeitgenossen
ignoriert, weil man sie für unzeitgemäß hält – mit manchmal verheerenden
Folgen." |