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Akademische Produktionsbrigaden
...

Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann stellt in seinem neuen Buch "Theorie der
Unbildung" die These auf, dass die "Wissensgesellschaft", in der wir heute
angeblich leben, in Wahrheit gar keine ist.

...
V
on Franz Wagner
(01. 06. 2007)

...



Franz Wagner

ist Redakteur des
Aurora-Magazins.

 

 
 

 Konrad Paul Liessmann.
Theorie der Unbildung.
Die Irrtümer der
Wissensgesellschaft.
Zsolnay, 2006 175 S.
ISBN: 3552053824

 

 


Liessmann ist ein Auf-
decker-Philosoph, der nach
günstigen Gelegenheiten
sucht, um seinen Geist an
den herrschenden Verhält-
nissen zu erproben.

 



Webtipp

www.philosophicum.com

 

 

 

 Konrad Paul Liessmann.
Die großen Philosophen
und ihre Probleme.
WUV Universitätsverlag,
1999, 199 S.
ISBN: 3851143752

 

 

 

Liessmanns zentrale
These lautet, dass das
moderne Schlagwort von
der "Wissensgesellschaft",
in der wir angeblich leben,
nichts weiter sei als die
Fortschreibung und Vollen-
dung der Industriege-
sellschaft mit anderen
Mitteln.

 

 

 

Webtipp

"Denken und Leben"
(Hörproben, Ö1)

 

 

 

Konrad Paul Liessmann.
Die Insel der Seligen. Öster-
reichische Erinnerungen.
Studienverlag, 2006, 78 S.
ISBN: 3706541769

 

 

 

"... daß Menschen ein zweck-
freies, zusammenhängendes,
inhaltlich an den Traditionen
der großen Kulturen ausge-
richtetes Wissen aufweisen
könnten, das sie nicht nur
befähigt, einen Charakter zu
bilden, sondern ihnen auch
einen Moment der Freiheit
gegenüber den Diktaten des
Zeitgeistes gewährt."

 

 

 


Konrad Paul Liessmann.
Günther Anders.
Philosophieren im Zeitalter
der technologischen Revolutionen.
C.H. Beck, 2002, 180 S.
ISBN: 3406487203

 

 

 

Immanuel Kant, so
Liessmann, hätte an einer
heutigen Universität nichts
verloren, denn seine
"demonstrative Immobilität
und Unbeweglichkeit",
verbunden mit einer zehn-
jährigen Phase, in der kein
einziger Artikel von ihm
erschienen war, hätte ihn für
eine moderne akademische
Karriere vollständig
disqualifiziert.

   Wer Konrad Paul Liessmann beim Reden zuhört, bekommt eine Ahnung davon, dass dem Lehrstuhl die Kanzel, der Vorlesung die Predigt vorangegangen ist. Das soll nicht missverstanden werden. Liessmann entspricht weder dem Typ des ideologischen Einpeitschers, wie man ihn von US-amerikanischen TV-Predigern kennt, noch gehört er zu jenen pädagogischen Verfahrenstechnikern, die ihren Hörern mit Laserpointern, Flipchartboards und Videobeamern etwas zeigen wollen, was sie selbst mit Worten nicht mehr auszudrücken imstande sind.

Nein, Liessmann ist ein Rhetoriker; wo er vorträgt, versickert kein Gedanke unter dem Tisch. Als der Wiener Philosophieprofessor vor Kurzem im Salzburger Literaturhaus aus seinem Essay "Theorie der Unbildung" vorlas, hätte jeder in dem übervollen Saal eine Stecknadel fallen hören. Nicht antrainierter, juveniler Charme und eine heiter-ironische Boshaftigkeit begleiteten die Lesung, die der 54-Jährige umgehend zu einer kurzweiligen Unterrichtsstunde umfunktionierte. Liessmann liebt es, sich aus dem Gelesenen zeitweilig auszuklinken, sucht Kontakt zu den Hörern, erzählt, flicht Zitate und Anekdoten ein und hat überhaupt das größte Talent, sich an den unmöglichsten Stellen selbst ins Wort zu fallen. Was ihn als Vortragenden außerdem auszeichnet, ist eine Fähigkeit, die nur wenige, insbesondere kaum Berufsphilosophen aufweisen: Es ist – in den Worten des Physikers und Pädagogen Martin Wagenschein – die "Lust am Klarmachen", die in seinen Texten ebenso hervorsticht wie in seinem Vortragsstil, ein Vergnügen am und mit dem Publikum, das mehr ist als billige Anbiederei.

   Liessmann geht es offensichtlich nicht um die großen Welterklärungen, die umfassenden Logiken und gültigen Wahrheiten, um ein System. Was den in Villach geborenen Hardcore-Radfahrer (8.000 km im Jahr) umtreibt, ist ein wiederkehrendes Bedürfnis und eine zweite Lust: die des Erkennens. Die alltäglichen Zweifel und Nöte, das, was (nicht nur) den Österreicher im Innersten zusammenhält, sind sein Geschäft. Liessmann ist ein Aufdecker-Philosoph, der nach günstigen Gelegenheiten sucht, um seinen Geist an den herrschenden Verhältnissen zu erproben. Viele Mittel sind ihm dabei recht: Zeitungskommentare in Standard, Presse und profil, die Ö1 Hörfunkreihe "Denken und Leben", das "Philosophicum Lech", als dessen wissenschaftlicher Leiter er seit 1997 fungiert. Darüber hinaus eine erkleckliche Zahl an populär- und fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Frage des Kitsches und zu "Ästhetischen Empfindungen". Nicht zu vergessen seine Erläuterungen über "Die großen Philosophen und ihre Probleme": Nietzsche, Kierkegaard, Karl Marx und Günther Anders.

Zur Hochform läuft der Autor immer dann auf, wenn es um die zur Routine und zum Zwang herabgesunkenen Gemeinheiten der Gesellschaft und des Einzelnen geht. Die Fähigkeit, sich den eigenen Anspruch "zeitgemäß, ohne zeitgeistig zu sein, unzeitgemäß, ohne in einem regressiven Sinn vergangenheitsverliebt zu sein" zu bewahren, macht ihn zu jenem Unabhängigen, den es braucht, um die populären Irrtümer der Zeit als solche zu entlarven.

   Dass Liessmann als Berufsphilosoph den Mut hat, trotz des kollektiven Kopfschüttelns seiner Fachkollegen nicht nur populär zu sein, sondern sich auch in (bildungs-)politischen Fragen des eigenen Verstandes zu bedienen, ist, zumal in Österreich, eine Sensation. Offensichtlich will da einer mehr als forschen und lehren, er will wirken. "Angefangen von den Ministern sollten alle in der politischen Nomenklatur dieses Buch Zeile für Zeile lesen", wird Gerfried Sperl vom Standard denn auch im Klappentext zur "Theorie der Unbildung" zitiert.

Tatsächlich sind die Schlüsse, die der gewiefte Polemiker Liessmann auf den 175 Seiten seines Essays zieht, nicht nur hoch an der Zeit, sie sind von eminenter gesellschaftlicher Relevanz. Seine zentrale These lautet, dass das moderne Schlagwort von der "Wissensgesellschaft", in der wir angeblich leben, nichts weiter sei als die Fortschreibung und Vollendung der Industriegesellschaft mit anderen Mitteln. Wofür die Öfen der Stahlindustrie und die Schlote der petrochemischen Industrie stünden, sei eine Logik der "tendenziell mechanisierten und automatisierten Herstellung von identischen Produkten unter identischen Bedingungen mit identischen Mitteln".

   Diese Logik, die sich schon früher mit der Taylorisierung der Arbeitswelt gezeigt habe, sei als "Nachziehverfahren eines allgemeinen Prozesses" zu verstehen, der nun zu den letzten gesellschaftlichen Refugien vorgedrungen sei: dem menschlichen Geist und den Stätten seiner (Aus-)Bildung, den Schulen und Universitäten. In Wahrheit nämlich "ist es nicht der Arbeiter, der zum Wissenden, sondern der Wissende, der zum Arbeiter wird".

Wo aber, wie bei Taylor, Standardisierung und Angleichung zum obersten Prinzip erhoben werden, komme das Individuum weitgehend unter die Räder. So seien Kollektivdenken und Vereinheitlichungswahn zu den bestimmenden Faktoren des universitären Alltags geworden. Liessmann findet dafür geharnischte Worte, spricht von "Wissensfabriken" und "akademischen Produktionsbrigaden", macht sich über das ECTS-Punktesystem zur Bewertung der Studienleistung lustig, das "bis in das Berechnungssystem diversen Industrienormen entspricht", weidet sich an Begriffen wie "Autonomie" und "Flexibilität", die der allgemeinen Täuschung dienten, weil sie bloß den Industrialisierungsprozess verschleiern helfen würden und kommt schließlich zu einem bemerkenswerten Schluss: Das naturwissenschaftliche Verfahren, dass sich eindrucksvoll in Galileis berühmtem Satz "Alles, was messbar ist, messen, was nicht messbar ist, messbar machen" widerspiegle, sei erstaunlich nahe an der Logik der industriellen Produktion.

   Ebenso wie das naturwissenschaftliche Experiment auf die "Herstellung identischer Ergebnisse mit identischen Methoden unter identischen Bedingungen" abziele, seien inzwischen sowohl der politische Wille als auch der universitäre Geist ganz und gar von einer Logik durchdrungen, in der die Standardisierung und generelle Reproduzierbarkeit des Wissenserwerbs (fassbar auch in Schlagworten wie "Pisa-Test", "Bologna-Prozess" usw.) Vorrang habe vor einer traditionellen Bildungsidee, die sich dem neuhumanistischen Ideal der "Selbstformung des Menschen" verpflichtet weiß: Entscheidend sei, "daß Menschen ein zweckfreies, zusammenhängendes, inhaltlich an den Traditionen der großen Kulturen ausgerichtetes Wissen aufweisen könnten, das sie nicht nur befähigt, einen Charakter zu bilden, sondern ihnen auch einen Moment der Freiheit gegenüber den Diktaten des Zeitgeistes gewährt."

In der aktuellen Bildungspolitik ortet Liessmann einen "Haß" auf diese traditionelle Bildungsidee, weil sich im Rahmen dieser Vorstellung das Wissen nicht in die herrschenden ökonomischen Verwertungsstrukturen hineinpressen lasse. Genau das sei aber das letzte Ziel aller Politik: Wissen – und auch die Menschen, die dieses Wissen haben – so lange zu taylorisieren, bis es – und sie – zu einem handelbaren Gut geworden sind, zu einer "Ressource, die man im Rahmen eines Unternehmens optimieren, verteilen, bündeln, importieren, exportieren und teilen kann wie andere Rohstoffe und Verfahren auch".

   Dass sich auch Liessmann selbst nicht ganz dem Ungeist jenes oberflächlichen Wissens-Marktes, den er in seinem Buch verdammt, entziehen kann, zeigte sich bei seiner Salzburger Lesung, wo der Autor die oben stehenden Analysen nur in einem Nebensatz abhandelte: Die Kernthese seines Buches sei die "Verwandlung der freien Wissenschaft in ein unfreies Dienstleistungsgewerbe", erwähnte er beiläufig – die These selbst blieb aber außen vor. Stattdessen dominierte Gefälliges: Gewürzt mit einer Prise Ironie erfuhren die Hörer, was Bildung/Wissen alles nicht sei. So umwehe den typischen Gast in Armin Assingers Millionenshow ein "Hauch von Bildung", ein Autor wie Ernst Peter Fischer bringe schon die "Die andere Bildung" ins Spiel. Derjenige, der wisse, dass ein (hoffentlich) so bekannter Satz wie homo homini lupus in Wahrheit gar nicht von Thomas Hobbes, sondern von Plautus stamme, sei immerhin bereits ein "Gelehrter". Doch selbst einer, der nun wirklich und wahrhaftig zu den "Gebildeten" gerechnet werden dürfe wie Immanuel Kant, hätte an einer heutigen Universität nichts verloren, denn seine "demonstrative Immobilität und Unbeweglichkeit", verbunden mit einer zehnjährigen Phase, in der kein einziger Artikel von ihm erschienen war, hätte ihn für eine moderne akademische Karriere vollständig disqualifiziert. Wären die Verhältnisse an der Königsberger Universität ähnlich denen heutiger Hochschulen gewesen – eine "Kritik der Urteilskraft" wäre nie entstanden.

Was aber Bildung eigentlich ist, welche Verhältnisse an den Hochschulen tatsächlich herrschen und wie sich diese ausbildeten, das erschloss sich bei der Lesung nicht, man musste es schon Liessmanns Essay entnehmen. Dieser wiederum enthält – unbenommen seiner besonnenen Klarheit und geistigen Durchdringungskraft – allerdings einen Makel, obgleich ihn Liessmann nicht als solchen empfinden dürfte: Außer einem süffisanten Hinweis auf das unsägliche "Top Ten"-Ranking der weltweit besten Universitäten oder einem nicht minder belustigten Seitenhieb auf den grassierenden Reformierungswahn ("Hartz I, II, III, IV, …") finden sich auf den 175 Seiten des Buches gerade einmal an drei Stellen Zahlen (von Jahreszahlen einmal abgesehen). Statistisches Datenmaterial ist schlichtweg nicht vorhanden. Obwohl Liessmann zwei gute Argumente gegen den Aufweis exakter Daten haben dürfte – einmal seinen tiefsitzenden Groll gegen die "reine, nackte und simple Quantifizierbarkeit", zum anderen den Umstand, dass in einem Essay das Argument immer vor der Zahl kommen sollte –, hätte dem Buch an manchen Stellen eine solide statistische Untermauerung sicher nicht geschadet.

   Insgesamt zählt Liessmanns Essay zu den großen Würfen in der österreichischen Wissenschaftspublizistik der letzten Jahre. Es bleibt zu hoffen, dass ein beim "Philosophicum Lech" 2006 von Liessmann selbst formulierter Satz nicht auf sein eigenes Buch zutrifft: "Nur allzu oft wurden und werden brillante Analysen, hellsichtige Warnungen und triftige Prognosen von den Zeitgenossen ignoriert, weil man sie für unzeitgemäß hält – mit manchmal verheerenden Folgen."

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