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Auf Abenteuertour im Reich der Mitte

Achtzehn Urlaubstage und tausende Kilometer liegen zwischen Peking, Qingdao
und Datong. Wer so weit mit dem Zug gereist ist, kommt nahe an die Menschen
heran, und irgendwann wird klar: China lässt einen nicht mehr los. Dennoch steht am
Ende die Heimkehr
und ein bemerkenswerter Reisebericht: über ein dampfendes,
wuselndes, von Gruppendynamik und hemmungsloser Bewegungsfreude getriebenes
Land zwischen duftendem Jasmintee, protzigen Autos, Skorpionen
am Spieß und
Armeen von Kellnern.

Von Irina Wolf
(01. 06. 2014)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 

 





Von insgesamt achtzehn
Urlaubstagen sah ich an
gerade fünf davon den
blauen Himmel.

 





 

Als einzige Europäerin
war ich sofort von gesprä-
chigen Einheimischen
umzingelt. Alle wollten
wissen, aus welchem Land
ich kam, wie das Schul-
system dort sei, wieso
ich alleine reiste.


 


 





(c) Fotos: Irina Wolf

 

   Ich traute meinen Augen nicht! "Die Berufsmesse für Ausländer findet im Beijing Swissotel am 5. April 2014 von 9.00 bis 16.00 Uhr statt. Registrierung unter: jobfair.chinajob.com". Immer wieder las ich die Nachricht auf dem Mobiltelefon durch. Erst vor drei Tagen in Peking angekommen, hatte ich mir noch am Flughafen eine chinesische SIM-Karte besorgt, dessen Nummer aber nur meiner Familie bekannt war. Und nun diese überraschende Nachricht! Wie ich später erfahren sollte, ist China sehr an ausländischen Arbeitskräften, vor allem an Nachhilfe in Fremdsprachen, interessiert.

Dafür hatte ich aber keine Zeit. Ich befand mich ja dort, um einen Teil des Landes zu besichtigen. Und Peking bot dafür einen einmaligen Einstieg. "21 bis 22 Millionen Einwohner", stand in meinem Reiseführer. "Aber nein, es sind doch 24 Millionen", behauptete eine Reiseleiterin, "wenn man die Gastarbeiter dazurechnet." Auf alle Fälle ist die Einwohnerzahl der chinesischen Hauptstadt um gut zwanzig Prozent seit 2010 gestiegen. Wehe dem Touristen, der sich zu den Hauptverkehrszeiten in der U-Bahn befindet. Schon um 17 Uhr erscheinen die in gelb gekleideten "Pusher" in den unterirdischen Haltestellen. Mit Headset-Mikrofonen ausgerüstet, positionieren sie sich vor jeder Tür der einzutreffenden Garnitur. Ihre Aufgabe besteht darin, den einsteigenden Fahrgästen zu "helfen", dies rasch zu erledigen. Denn die U-Bahn darf nicht mit Verspätung abfahren. Und das tut sie auch nicht. Bei solchen Menschenmassen ist man immer wieder erstaunt, dass es letztendlich doch funktioniert.

   Und das sind nicht die einzigen Veränderungen. Die Bettler in der Pekinger U-Bahn, ein weiteres Zeichen der rasanten Modernisierung, bewegen sich ohne ein einziges Wort. Bei laufender Wiedergabe ihrer Bandaufnahme sind sie in den ohnehin nicht geräuscharmen Waggons nicht zu überhören. Auf Straßenniveau angelangt, stachen mir schließlich die vielen großen Autos ins Auge. PKWs der Marken Audi, BMW, Mercedes, VW, Buick, Cadillac haben fast zur Gänze die populären Pekinger Fahrräder ersetzt. Das Auto als Statussymbol der wohlhabenden Schicht ist stark im Kommen. Dass VW zwei riesige Modelle nur für China baut, ist nicht verwunderlich wie mir eine Touristin aus Deutschland erzählte, mit der ich traumhafte drei Stunden auf der Großen Mauer entlanggewandert bin. Werden doch 2000 Zulassungsscheine pro Tag ausgestellt! Wo die Besitzer diese Riesen wohl parken?

Und wie schaut es mit dem Smog aus? Na ja, von 'Schauen' ist kaum die Rede. Von insgesamt achtzehn Urlaubstagen sah ich an gerade fünf davon den blauen Himmel. So war ich immer wieder dazu gezwungen, die Augen zuzukneifen, um schärfer durch die Nebelsuppe zu sehen. Manchmal hilft aber auch das nicht. Zumindest uns Europäern nicht. Denn als ich nach einer Woche Aufenthalt zum Südbahnhof in Tianjin fahren sollte (dieser befindet sich 25 Kilometer außerhalb der Stadt!), schien es, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Wie in einem Katastrophenfilm bewegten sich Autos und Menschen. Mit blinkendem Standlicht fuhr mein gesprächiger Taxifahrer gute anderthalb Stunden auf der Autobahn und meinte ununterbrochen "man sieht sehr wenig." Ich selbst war mit der Orientierung total überfordert. Als der Fahrer dann noch rechts anhielt und mir lächelnd sagte, er mache eine kurze Pause, war ich ratlos. Blitzartig verschwand er zwischen den kaum sichtbaren Baumstämmen. Erleichtert wortwörtlich fuhren wir nach wenigen Minuten weiter und trafen in Kürze am Ziel ein. Hier erwartete mich die nächste Überraschung: Die Bahnhofseinfahrt war durch einen Schranken versperrt. So ließ mich der noch immer gutgelaunte Fahrer aussteigen und sagte: "Dort, in dieser Richtung ist der Südbahnhof." Dabei zeigte er weiterhin lächelnd zur linken Seite in den dichten Nebel hinein. Dass sich dort das Bahnhofsgebäude befand, musste ich ihm glauben, erkennen konnte ich sowieso nichts. Nun, Ende gut, alles gut: Der Hochgeschwindigkeitszug nach Qingdao (der "Schweiz des Orients"), kam pünktlich an und füllte sich innerhalb von Minuten. Ich war nicht die Einzige, die den Bahnhof gefunden hatte. Mit über 300 Kilometern pro Stunde fuhren wir auf die größte Bierstadt Asiens zu. Dort endlich traf ich auf die lang vermisste Sonne.

   Manchmal hilft aber auch eine gute Sicht nicht viel. So zum Beispiel in einer Bushaltestelle in Tianjin, auf dessen Tafel über ein Dutzend brav notierter Buslinien ersichtlich sind. Die Zahlen konnte ich noch erkennen, bei den Namen der Haltestellen kommt hingegen nur weiter, wer mit chinesischen Schriftzeichen umgehen kann. So blieb mir nur übrig, mit der U-Bahn zu fahren. Eine Straßenkarte mit den landesüblichen Logogrammen trug ich immer dabei. Das war auch gut so. Denn bis auf die breiten Boulevards waren alle Straßenschilder richtig, auf Chinesisch. Zahlreiche Passanten boten mir ihre Hilfe an. Dass sie ebenfalls nur ihr einheimisches Idiom beherrschten, half mir nicht weiter. Wie es der Zufall wollte, fand sich aber zum richtigen Zeitpunkt immer wieder eine Englisch sprechende Person.

So auch am Hauptbahnhof in Peking. Dort sollte ich knapp vor Mitternacht in den Schlafwagen nach Datong einsteigen. Die gewaltigen Wartehallen der Bahnhöfe war ich inzwischen gewohnt. Da es sich aber diesmal um keinen Hochgeschwindigkeitszug handelte, gab es in dieser oberen Halle viel zu wenige Stühle. Somit saßen wir fast alle erraten, auf dem Boden. Das störte aber weder mich noch die Mehrzahl der Mitreisenden. Als einzige Europäerin war ich sofort von gesprächigen Einheimischen umzingelt. Alle wollten wissen, aus welchem Land ich kam, wie das Schulsystem dort sei, wieso ich alleine reiste. Das einzige Englisch sprechende Mädchen hatte alle Hände voll zu tun, um allen Fragen gerecht zu werden. Groß war ihre Enttäuschung, als sie erfuhr, dass ich die Rückreise nach Peking einen Tag später als sie antreten sollte.

   Um sechs Uhr früh zeigte sich die Provinzstadt Datong mit 'nur' drei Millionen Einwohnern sehr lebendig. Unmengen von Schulkindern waren schon auf Fahrrädern unterwegs. Am Straßenrand viele Obst- und Milchverkäufer. Und zwischendurch immer wieder Gruppen von Männern. Denn Kartenspielen und chinesisches Schach sind allgegenwärtige Aktivitäten. Vom Fenster der Jugendherberge im 22. Stock waren nur wenige große Autos zu sehen. Einen eklatanten Kontrast sollte ich dennoch auch hier finden. "Hans Beer BBQ" hieß das Restaurant, das sich nur wenige Gehminuten von der Jugendherberge befand. Es handelte sich um ein "eat all you can"-Lokal. Eigentlich ein "eat and drink all you can". Von Vorspeisen über Suppen und Grillfleisch bis hin zu Hauptspeisen, Süßigkeiten und Obst, chinesischen und westlichen Gerichten, Wein zum Selbsteinschenken aus dem Fass, alkoholfreien Getränken, Kaffee und vielem mehr. Alles für nur sieben Euro pro Person! Sobald eine der Speisen zur Neige ging, wurde die Küche sofort über Headset-Mikrofon von der Armee von Kellnern, die das Buffet bewachten, benachrichtigt. Eine weitere Unzahl von Mitarbeitern hatte die Aufgabe, jede halbe Stunde den Tischgrill (mit dem jeder Tisch ausgestattet ist) auszutauschen. Bei so vielen Vorteilen musste es jedoch auch einen Nachteil geben: Die Essorgie war auf zwei Stunden begrenzt.

Wenn einem das Essen dann im Magen lag, konnte man sich auf dem Parkplatz die Beine vertreten! Tanzen in Gruppen, paarweise oder alleine, gehört ebenfalls zu den landesweiten Freizeitaktivitäten. Bemerkenswert das deutliche Angebot in den Parkanlagen in Peking: klassische Tanzstunden, Aerobic, Gruppengesangsdarbietungen oder Soloauftritte mit Mikrofon. Und es war nicht selten, dass sich Passanten spontan den Sängern und Tänzern anschlossen. Diese Gruppendynamik und hemmungslose Bewegungsfreude vermisse ich in Wien. Auch der duftende Jasmintee und das preiswerte Essen fehlen mir, von Skorpionen am Spieß abgesehen. An dem strahlend blauen Himmel und dem wechselnden Wolkenspiel kann ich mich allerdings Wochen nach meiner Rückkehr noch immer nicht sattsehen.

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